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Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia)

antiken Ursprung des ganzen Werkes, so liegt doch der Wunsch nahe, auch für seine Anwendung in vollster Ausbildung in diesem einzelnen uns hier beschäftigenden Fall eine Erklärung zu suchen, auch wenn sich dieselbe nicht mit der Sicherheit begründen und belegen lassen sollte, wie die bisher dargelegten Thatsachen[1].

Der Clytiakopf ist nicht ein einfacher Büstenkopf, zu welchem der Beschauer den Körper aufrecht stehend zu denken hat, sondern der vom Künstler in größerer Ausdehnung als bei den gewöhnlichen Büsten hinzugefügte Theil von der Brust, dem Rücken und den Schultern, auf dem er ruht, bringt deutlich das Sitzen zur Anschauung, und zwar ein bequemes, in gliederlösender Ruhe gedachtes, dem Liegen auf dem Lager nahe kommendes Sitzen. Hieraus erklärt sich das mit bewusstem Geschick verwendete Herabsinken der leichten Tunica von den Schultern, wodurch die eine derselben ganz, die Brust zum Theil entblößt wird; ein Motiv, das die gleichsam sich selbst und die Umgebung vergessende sorglose Ruhe mit einem der Dichtung des Ovid würdigen Raffinement anschaulich macht. Dazu stimmt die vornüber gebeugte und leicht nach rechts sich neigende Haltung des Kopfes, wodurch, wie bei Musenstatuen, ein sinnendes Insichversenktsein ausgedrückt wird. Büsten mit ebenso weit oder noch weiter hinabreichender Brust und Armansätzen finden sich auch sonst; die Haltung des Sitzens ist nirgends, so viel ich weiß, in der Deutlichkeit, wie am Clytiakopf, zum Ausdruck gebracht. Auch hierin zeigt der Kopf eine nahe Verwandtschaft mit den oben zur Vergleichung herangezogenen sitzenden Agrippinenstatuen. Unzweifelhaft sind diese Statuen sowie viele Büsten zum Schmuck von Grabdenkmälern (oder wenigstens von Kenotaphien) bestimmt gewesen[2], und so haben schon d’Hancarville und Stackelberg nicht ohne Grund auch den Clytiakopf für sepulcral erklärt, freilich hauptsächlich weil sie den Blattkelch symbolisch deuten zu müssen glaubten[3]. Allein damit ist das Motiv des Sitzens oder Liegens noch nicht erklärt. Ich weiß nur eine Veranlassung, bei welcher, wie es scheint, Büsten liegend gedacht zur Anwendung kamen, nämlich die Lectisternien. Nach dem einzigen bestimmten Zeugniss darüber, welches wir besitzen, wurden bei denselben


  1. Stackelberg geht offenbar zu weit, wenn er von jenem attischen Akroterion meint (a. a. O. S. 44): ‚aus solchen Brustbildern oder Protomen auf Hermen und Grabstelen, wo sie Bedeutung und Zusammenhang hatten, entstanden die geschmacklos zugestutzten, abgehauenen Köpfe gleichenden Büsten‘; allein sein richtiger Takt sagte ihm, dass das Blattornament in der That den passenden organischen Abschluss für den Bildnisskopf bietet.
  2. Wie verbreitet die Sitte war, machen die Zusammenstellungen von L. Friedländer Sittengeschichte Roms 3 S. 174 ff. anschaulich.
  3. Stackeiberg sagt a. a. O. von dem attischen Akroterion: ‚der Sinn dieses Hochreliefs deutet auf das Wiederaufleben der in Gräbern Ruhenden, auf ihre Verwandlung, ihr den üppigen Gräbergewächsen ähnliches Gedeihen und die Entfaltung ihrer Blüthe, der Unsterblichkeit‘, und vindiciert der Clytiabüste die gleiche Bedeutung.
Empfohlene Zitierweise:
Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia). Berlin: W. Hertz, 1873, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bildnis_einer_R%C3%B6merin_27.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2021)