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Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia)

in den Arbeiten von Conze Friederichs Kekulé und anderen eifrig verhandelt worden. Es genügt hier auf die Uebersicht über den jetzigen Stand der Untersuchung zu verweisen, welche Helbig in seinem jüngst erschienenen Buche gegeben hat[1]. Der enge Zusammenhang der Kunst des ersten Jahrhunderts der Kaiserzeit mit der der unmittelbar vorausgehenden Epoche der Diadochenzeit kann unbedenklich als erwiesen angesehen werden. Es handelt sich bei jedem einzelnen Werk nur darum, den Grad der Abhängigkeit von einem älteren Vorbilde oder die relative Originalität desselben genauer zu bestimmen; gerade so, wie ja auch die Leistungen der römischen Poesie jener Zeit beurtheilt werden müssen. Wo ein älteres Vorbild fehlt, sind die gleichzeitigen und ähnlichen Arbeiten zur Vergleichung heranzuziehen, um den Werth des einzelnen Werkes gleichsam aus dem hieraus zu ziehenden Mittel zu bestimmen. Es fehlt nicht an weiblichen Bildnissen, welche dem Clytiakopf in der Art der Auffassung und Behandlung nahe verwandt sind und wie für alle Bildnisse der Kaiserzeit überhaupt, bietet die an den datierten Bildnissen auf den Münzen in ihren wechselnden Moden zu beobachtende Haartracht den nächsten chronologischen Anhalt.

Das vorn einfach gescheitelte wellige Haar der sogenannten Clytia fällt scheinbar ohne jede künstliche Hülfe, die ein Band oder Diadem bieten könnte, in vollen Locken hinter den Ohren auf den schönen Nacken herab. Aber non sint sine lege capilli; denn longa probat facies capitis discrimina puri, doch ut pateant aures ora rotunda volunt, nach der Vorschrift des Kenners Ovid (Ars amat. 3, 133. 137. 140). Es sind die fusi capilli, wie sie Sulpicia preist (Tibull 4, 2, 9) und Properz schildert (2, 3, 13 … de more comae per levia colla fluentes und 3, 22, 9 … vagi crines puris in frontibus errant); ein Thema, das Ovid nach seiner Weise variiert (Ars amat. 3, 140 alterius crines umero iactentur utroque und 145 huic decet inflatos late iacuisse capillos). Die Haartracht ist offenbar gewählt, um den Eindruck der unmittelbaren Lebendigkeit und Wahrheit zu erhöhen; ähnlich wie auch in den Münzbildern der Frauen des kaiserlichen Hauses im ersten Jahrhundert die steifen und künstlichen Toupés die Haartracht der Göttinnen bezeichnen, während der einfache Scheitel und der lose geknüpfte Zopf die Tracht des Lebens wiederzugeben bestimmt sind. Die niedrige Stirn, durch den künstlich dichten Scheitel noch niedriger gemacht, Augen, Nase und Mund – jeder Theil des Gesichts zeigt eine von der Natur verschwenderisch mit Schönheit ausgestattete, aber doch, wie gesagt, eine bestimmte Individualität. Die Arbeit ist, wie mich bedünkt, sehöner in den Details wie in der Gesammtanlage; die Beugung von Hals und Schultern ist sogar von


  1. Untersuchungen über die campanische Wandmalerei (Leipzig 1873 8.) S. 7 ff. und besonders S. 30 ff. und 36 ff.
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Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia). Berlin: W. Hertz, 1873, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bildnis_einer_R%C3%B6merin_08.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)