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Walther Kabel: Berühmte Bücherdiebe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 6, S. 227–231

Wut der Behörde Anzeige. Als er diesen Schritt, der das Ansehen der englischen Aristokratie zu schädigen nur allzu sehr geeignet war, rückgängig machen wollte, war es zu spät. Die Gerichte hatten sich der Sache bereits angenommen, und Lady Dunston wurde dann nach mehr als einjähriger Untersuchungshaft – es lagen im ganzen hundertzweiundneunzig einzelne Fälle von Diebstahl vor, die erörtert werden mußten – in der Hauptverhandlung für unzurechnungsfähig erklärt und einer Irrenanstalt überwiesen, wo sie sich gleich in der ersten Nacht nach ihrer Einlieferung vergiftete.

Um die chronologische Reihenfolge weiter einzuhalten, sei als nächster Vertreter dieser besonderen Spezies von Dieben der italienische Graf Carucci della Semoja erwähnt, fraglos der größte Bücherdieb aller Zeiten. Er war zuerst in Pisa als Professor der Mathematik tätig, mußte diese Stellung aber aufgeben, da er seine Einnahmen durch Verkauf von Werken aus der Universitätsbibliothek zu vermehren pflegte. Trotz dieser sonderbaren Art, sich für sein flottes Leben die nötigen Mittel zu verschaffen, wurde er in Paris als Oberaufseher der Staatsbibliothek angestellt. Kein Wunder, daß er nunmehr, wo man in des Wortes wahrster Bedeutung den Bock zum Gärtner gemacht hatte, die Gelegenheit aufs beste ausnützte. In kurzer Zeit stahl er Bücher im Werte von über vierhunderttausend Mark! Als seine so stark „einnehmende“ Tätigkeit nicht länger verborgen bleiben konnte, floh er nach London. Hier ließ er sich von mehreren berühmten Ärzten bescheinigen, daß er an – Kleptomanie leide. Allgemein bekannt ist seine wertvolle „Geschichte der mathematischen Wissenschaften“, die er herausgab. Als er 1869 in Fiesole starb, dachte niemand mehr an seine einstigen Verfehlungen. Die gelehrte Welt pries ihn vielmehr einzig und allein als den geistvollen Schöpfer der „Geschichte der mathematischen Wissenschaften“.

Ähnlich war das Schicksal des deutschen Philologen Bernhard Thiersch[ws 1], der aus den Stadtarchiven und Bibliotheken in Dortmund und Halberstadt zahlreiche Bücher zur Vervollständigung der eigenen Sammlungen entwendete und dem doch in seinem Geburtsort ein Denkmal errichtet wurde. Zu

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe Wikipedia: Johann Bernhard Thiersch (* 26. April 1793 in Kirchscheidungen; † 1. September 1855 in Bonn) war ein preußischer Lehrer.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Berühmte Bücherdiebe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 6, S. 227–231. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ber%C3%BChmte_B%C3%BCcherdiebe.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)