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ein Mittel zur Erreichung der inneren Vollkommenheit betrachtet wurde, deswegen blieb das Bewußtsein lebendig, daß das sittliche Ziel die Vollendung der Persönlichkeit, und daß diese Aufgabe einfache Pflicht ist.

Von der Erkenntnis aus, daß die sittliche Aufgabe in der Vollendung der eigenen Persönlichkeit besteht, ist das Mönchtum zu einer intensiven Selbstbeobachtung geführt worden. Die Mönche wissen es, daß die Sünde aus den argen Gedanken des Herzens entspringt, und überall erscheint daher die Beschäftigung mit den λογισμοί, deren es Herr zu werden gilt, als dasjenige, womit die Selbstzucht beginnt. Das positive Ziel des Mönchs ist, alle seine Gedanken in Gott zu sammeln, sich selbst dahin zu schulen, daß der Gedanke an Gott ihn überall begleitet und selbst bei der kleinsten Verrichtung ihm gegenwärtig ist. Man ist erstaunt, was für moderne Dinge man unter den Kunstgriffen, die sie hierbei anwendeten, findet: schon Athanasios läßt den Antonios seinen Mönchen den Rat erteilen, die Gedanken, die sie des Tages über bewegt hätten, sich aufzuschreiben, als ob sie sie einem anderen bekennen wollten, und manche Hilfsmittel zur Schulung der Phantasie erinnern etwas an die jesuitischen Exerzitien[1]. Aber nicht in diesen kleinen Zügen liegt das Interessante dieser Selbstdisziplinierung – ein geistiger Fortschritt von allgemeiner Bedeutung ist im Zusammenhang damit gemacht worden. Denn mit der Aufgabe der Heiligung des eigenen Herzens ist dem Mönchtum der Blick für eine ganze Welt, für die Welt des inneren Lebens, aufgegangen, und so phantastisch das Bild ausstaffiert ist, das sie von dieser Welt gewinnen, man darf sich dadurch nicht beirren lassen, anzuerkennen, daß hier eine höhere Stufe des ganzen geistigen Lebens erreicht ist. Erfahrungen, wie sie in Röm. 7 geschildert sind, sind hier zum erstenmal wieder in originaler Weise gemacht worden. Nun erschien auch wichtig, was der einzelne, wenigstens das hervorragende Individuum, erlebte und welche Lehren es aus seinen Erlebnissen zog. Eine ganze Literatur befaßt sich damit, in Erzählungen und in Merksprüchen[2] die Erfahrungen und die Erkenntnisse großer Asketen zum Gemeingut zu machen. Was das griechische Mönchtum hier erfaßt hat, läßt sich vergleichen mit der Leistung, die Augustin im Abendlande vollbracht hat. Auf beiden Seiten ist die Erkenntnis erreicht, daß das Ich der Mittelpunkt einer eigenen Welt ist, und daß in dieser Welt die höchsten Probleme, die es für den Menschen gibt, liegen. Ein literarisches Produkt vom Schlag der Konfessionen hat ja die griechische Kirche nicht aufzuweisen; im Vergleich mit Augustin erscheint alles, was die Griechen haben, dürftig und abstrakt. Aber das liegt doch nicht bloß daran, daß hier der Genius fehlte, der es verstand, in dem Ich den Menschen zu zeigen. Das Interesse ist ein anderes. Nicht umsonst hat das griechische Mönchtum das paulinische Wort immer wiederholt: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vorne ist. Der Grieche geht darauf aus, aus dem Erlebnis die Regel, die sich für künftig ergibt, herauszuschälen; die Sentenz ist ihm das Wertvollste[3]; Augustins Kunst besteht darin, das konkrete Erlebnis selbst in farbiger Anschaulichkeit festzuhalten. - Auch ohne daß man Augustin für das verantwortlich macht, was seine Nachahmer erst entwickelt

  1. [Die Beichte hat das Mönchtum zuerst entwickelt.]
  2. [Die Bevorzugung der Sentenz ergibt sich aus der Mündlichkeit des Unterrichts.]
  3. [Dostojewskijs bewunderte Kunst beruht darauf!]
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Über das griechische Mönchtum. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_277.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)