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des Lebens in der Richtung auf ein Ideal fortzuschreiten. Aus der christlichen Ueberlieferung, so wie sie an ihn herankam, hat Clemens diese Anschauung nicht schöpfen können. Denn dort herrschte vielmehr die Vorstellung, daß der Gläubige sich nur auf der Höhe zu halten brauchte, die er mit der Taufe schon erreicht hätte; auch die „Vollkommenheit“, die die Asketen erstrebten, bedeutete nicht Durchbildung der ganzen Persönlichkeit, sondern nur Meisterschaft der Enthaltung. Erst die Anregung, die er von der Popularphilosophie her empfing, befähigte Clemens die verwandten, aber bis dahin unwirksam gebliebenen Gedanken des Neuen Testaments, vor allem bei Paulus, wieder zu entdecken. Die Kunst, mit der er dann Christliches und Philosophisches in seinem Bild des vollkommenen Gnostikers gegeneinander ausglich, bleibt seine geschichtliche Großtat.


     Der gleiche stetige Fortschritt, der auf seiten des Ideals von Sokrates bis zu Clemens Alexandrinus und zur Vita Antonii herabführt, ist aber auch hinsichtlich der Darstellungsform wahrzunehmen. Die Linie, die hier zu verfolgen ist, hat Ed. Schwartz in seinen Vorträgen über den griechischen Roman schon so scharf ausgezogen, daß man sich nur darüber wundern kann, wie darnach noch der Ansatzpunkt verfehlt werden konnte.

     Der Gedanke, das Ideal des Weisen in Form einer Lebensbeschreibung zu schildern, entsteht fast im selben Augenblick wie dieses Ideal selbst. Antisthenes in seinem „Herakles“ hat ihn zuerst ausgeführt. Er fand in der überlieferten Sage von Herakles[1] eine Erzählung vor, die bereits im Blick auf ein Ideal gestaltet war: die Geschichte eines Helden, der zum Heil für sich und andere Mühen und Kämpfe auf sich nimmt und dadurch sich die Göttlichkeit erwirbt. Kühn hat Antisthenes diesen Stoff in seine Auffassung von Mannestugend umgesetzt. Der tapfere Held wird ihm ein kynischer Weiser, die Mühsale wandeln sich in das Ringen mit der eigenen gemeinen Natur und in Kämpfe mit den Vertretern einer falschen Weisheit. Aber der Aufriß des Ganzen bleibt[2]: Herakles wird nicht als Fertiger vorgeführt, sondern als Werdender, durch harte Arbeit an sich selbst allmählich zur Vollkommenheit Fortschreitender. Indem Antisthenes diesen Kunstgriff anwendete, um die Anschaulichkeit und Eindringlichkeit seines Ideals zu steigern, hat er die Gattung geschaffen, der die Vita Antonii angehört.

     Ein Punkt ist aber dabei noch zu beachten. Antisthenes hat als Helden einen Gott gewählt. Er konnte das tun, ohne damit den Schein zu erwecken, als ob sein Ideal über Menschenmaß hinausreiche. Denn der Kyniker glaubt an die Göttlichkeit des wahren Weisen[3]. Jedoch gerade von hier aus ist es wieder auffallend, daß er


  1. v. Wilamowitz, Euripides’ Herakles ² I 38 ff.
  2. Die Gründe, mit denen man (A. Müller, De Antisthenis vita 42; Bücheler, Rhein. Mus. XXVII 450¹) die Behauptung hat stützen wollen, daß der Herakles ein Dialog gewesen sei, fallen angesichts der Natur des Stoffs selbst kaum ins Gewicht. Daß Herakles innerhalb der Schrift redend auftritt, ist doch auch mit einer Geschichtserzählung höchst einfach zu reimen. Und wenn, wie E. Weber (Leipziger Studien X 238) wahrscheinlich gemacht hat, Dio Prus. IV 32; I 61, 19 f. v. Arnim auf den Herakles des Antisthenes zurückgeht, so war darin auch der Tod des Helden berichtet. Damit ist aber die Frage nach der Form des Werks entschieden.
  3. E. Norden, Fleckeisens Jahrb. XIX. Supplementband 380.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_263.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)