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Zukunft, während die Vertreter der reinen Stoa nur wie Nachzügler einer untergehenden Zeit erscheinen.

     Poseidonios verschiebt die Grundlage, auf der sich das stoische Ideal erhebt, indem er mit der Lehre von der ursprünglichen Vernünftigkeit der menschlichen Anlage bricht. Er und noch entschiedener als er seine Nachfolger[1] erkennen mit Platon den Unterschied zwischen dem göttlichen Bestandteil und den niedrigen Trieben in der Seele als von Haus aus gegeben an. Der Gegensatz geht ihnen über in den zwischen Seele und Leib; denn im Leib wurzelt das sinnliche Begehren, und sie betonen ihn so stark, daß darüber ihre stoische Metaphysik in Stücke zu gehen droht[2]. Das Ziel der ἀπάθεια festhalten, hieß unter diesen Umständen so viel, wie sich hinaussehnen aus dem Leib, dem Kerker der Seele, und die Reinigung der Seele von den Gelüsten erstreben[3].

     Aber gleichzeitig werden auch die platonischen Gedanken von der Heimat der Seele bei Gott wieder lebendig. Nur daß, was bei Platon in wechselnder Gestaltung und halb als dichterisches Spiel erscheint, jetzt in Form einer festen Lehre, auf dem Hintergrund eines bestimmt ausgeführten Weltbilds vorgetragen wird. Ein orientalischer Einschlag ist dabei unverkennbar. Die Erhebung zu Gott wird im eigentlichen Sinn verstanden als Emporsteigen in den reinen Aether, in das Gebiet jenseits des Monds. Niemand gelangt zu dieser Höhe ohne Mühe und Anstrengung[4]; nur dem Kämpfer winkt der Preis[5]. Aber die Mehrzahl gelangt dazu, wenn überhaupt, so erst im Wechsel der Geburten, nach wiederholter Läuterung im Luftraum. Einzelne besonders Ausgezeichnete kommen jedoch rascher ans Ziel. Diejenigen, die schon in diesem Leben die Erdenschwere überwunden haben, die rein geworden sind von der Befleckung durch den Leib und die in ihm wohnenden Begierden[6].


  1. Es ist für mich überzeugend (Heinze, Xenokrates 130¹), daß die Ausführung bei Plutarch, Quod in animo humano VII 12, 14 f. Bernardakis (ὅσοι δ’ αὖ δύναμιν κτἑ.) ihre Spitze gegen Poseidonios richtet.
  2. Vgl. darüber besonders M. Apelt.
  3. Ich führe nur an Posid. bei Galen V 433; S. 285, 56: ἀπαθῆ μὲν γὰρ γίγνεσθαι ψυχήν, τὴν τοῦ σοφοῖ δηλονότι; Seneca, Ep. 92; III 392, 6. Hense: prima ars hominis est ipsa virtus: huic committitur inutilis caro et fluida et receptandis tantum cibis habilis, ut ait Posidonius; Plut. De genio Socr. 588 D; III 522, 2 f. Bernardakis: Σωκράτει δ’ ὁ νοῦς καθαρὸς ὢν καὶ ἀπαθής, τῷ σώματι μικρὰ τῶν ἀναγκαίων χάριν καταμιγνὺς αὑτὸν; Philo, De migr. Abr. §9; II 270, 7 ff. Wendland: ἄπελθε οὖν ἐκ τοῦ περὶ σεαυτὸν γεώδους, τὸ παμμίαρον, ὦ οὗτος, ἐκφυγὼν δεσμωτήριον τὸ σῶμα καὶ τὰς ὥσπερ εἱρκτοφύλακας ἡδονὰς καὶ ἐπιθυμίας αὐτοῦ παντὶ σθένει ... ἐπανατεινάμενος; De sacrif. Abel §17; I 208, 9: τῷ πόλεμον ἄσπονδον καὶ ἀκήρυκτον πρὸς τὰ πάθη πεποιημένῳ.
  4. Philo, De somniis I §6; 206, 2f. Wendland: οὐδὲ ῥᾳδίως ἀλλὰ μετὰ πολλῶν πόνων καὶ μόλις ἀνευρίσκεται De sacrif. Abel §35; 216, 15 Cohn; De migr. Abr. §220; 312, 19ff.; De vita Mos. II §183; 242,19 ff.; Seneca, Ep. 50; III 141, 15. Hense: laborandum est! Ep. 51; III 144, 17. Hense: libertas proposito est, ad hoc praemium laboratur. Besonders zahlreich sind natürlich die Stellen bei Dio von Prusa.
  5. Das alte Bild des ἀθλητής z. B. bei Philo, De Abr. §35; 8, 20; Vita Mos. I §48; 131, 7 ff.; De sacrif Abel §17; 208, 8 ff.; §86; 238,3; De migr. Abr. §26; 274, 1 ff. usw.; Plut. De genio Socr. 593 D; III 535, 8 ff. Bernardakis.
  6. Cicero, Somn. Scip. §18. 21; IV, 2, S. 374 ff. Müller; Hortensius Fragm. 90; WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt[260] Plut. De def. orac. 415 B; III 82, 14 ff. Bernardakis; Philo, De gig. §61; II 53, 24 ff. Wendland; De vita Mos. II §288; IV 267, 21 ff.; De somn. I §151; III 237, 11 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_259.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)