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und Wendland betont werden – die Philosophie hat sich inmitten dieser wachsenden Strömung nicht nur behauptet, sondern ihrerseits auch wieder stark auf die vordringende Religion zurückgewirkt. Cumont wie Reitzenstein stellen fest, daß die Mysterienreligionen – in ihnen lebt sich ja der neue religiöse Drang vornehmlich aus – während ihrer Verbreitung im römischen Reich zugleich eine Vergeistigung, eine Vertiefung ins Persönliche erfahren haben. Das erklärt sich nicht schon als die natürliche Folge ihrer Losreißung vom Ursprungsland[1]. In der Propaganda pflegen die Religionen eher gröber als feiner zu werden. Der Grund liegt vielmehr in der Beschaffenheit des Bodens, den die Mysterienreligionen vorfanden. Die Philosophie war hier eine Großmacht. Sie vermochte sogar ihre Stellung damals noch vorzuschieben; denn in derselben Zeit, in der die Religion wieder aufkommt, entfaltet auch das stoische Ideal eine verstärkte Werbekraft. Und wie wenig die Philosophie sich besinnungslos den neuen Antrieben unterwarf, beleuchtet wohl am besten der Umstand, daß gerade diejenigen Philosophen, die sich der Religion am meisten öffnen, doch zugleich die δεισιδαιμονία aufs schärfste bekämpfen. Und zwar nicht nur in dem Sinn, daß sie sich gegen die abergläubische Aengstlichkeit wenden, sondern in dem tieferen, daß sie bestimmten Gedankengehalt und sittlichen Ernst von der Religion fordern[2]. Der Ausgleich, der sich zwischen Philosophie und Religion, zwischen Griechentum und Orient vollzieht, ist die bedeutsame, für die Weiterentwicklung des geistigen Lebens entscheidende Tatsache. Sie ist entscheidend nicht bloß für die Entwicklung innerhalb des Christentums[3].

     Die neuen Züge, die das Bild des Weisen unter diesen Voraussetzungen gewinnt, sind erst deutlich hervorgetreten, seitdem Poseidonios eine faßbare Größe geworden ist[4]. Denn ihm und der Richtung, die sich an ihn anschloß, gehörte die


  1. So Reitzenstein, Hellenistische Mysterienreligionen 6; doch vgl. 25 oben.
  2. Plutarch, De Is. et Osir. 374 E II 532, 18 Bernardakis: χρηστέον δὲ τοῖς μύθοις οὐχ ὡς λόγοις πάμπαν οὖσιν, ἀλλὰ τὸ πρόσφορον ἑκάστου τὸ κατὰ τὴν ὁμοιότητα λαμβάνοντας; 378 A: διὸ δεῖ μάλιστα πρὸς ταῦτα λόγον ἐκ φιλοσοφίας μυσταγωγὸν ἀναλαβόντας ὁσίως διανοεῖσθαι τῶν λεγομένων καὶ δρωμένων ἕκαστον. Iambl. (d. h. nach Rohdes Quellenscheidung Apollonius) De vit. Pyth. §14; 14, 6 ff. Nauck: πάσας τελεσθεὶς θείας τελετάς, ... οὐχὶ δεισιδαιμονίας ἕνεκα τὸ τοιοῦτον ὑπομείνας, ὡς ἄν τις ἁπλῶς ὑπολάβοι, πολὺ δὲ μᾶλλον ἔρωτι καὶ ὀρέξει θεωρίας καὶ εὐλαβείᾳ τοῦ μή τι αὐτὸν τῶν ἁξιομαθήτων διαλαθεῖν ἐν θεῶν ἀπορρήτοις ἢ τελεταῖς φυλαττόμενον.
  3. Ich kann eine ähnliche Bemerkung bezüglich der Auffassung der Gnosis nicht unterdrücken. Bei ihr vollzieht sich, sowohl innerhalb der ganzen Bewegung als auch innerhalb der einzelnen Abzweigungen, derselbe Fortschritt zu einer allmählichen Vergeistigung. Das bedeutet zugleich einen wachsenden Einfluß der Philosophie. Es erscheint mir daher als unzulässige Uebertreibung eines an sich richtigen Gedankens, wenn gegenwärtig die früher übliche Bezeichnung der Gnostiker als Religionsphilosophen als völlig verfehlt verworfen wird. Daß Leute wie Basilides und Valentin ein wirkliches System aufgestellt haben, ist doch wohl Tatsache. Und daß diese Systeme nicht ohne lebendigen Sinn für die Erkenntnis als solche und nicht ohne achtenswerte philosophische Kraft gebaut werden konnten, wird der, der sich in sie vertieft, auch nicht leicht bestreiten. Ich rechne zuversichtlich darauf, daß in diesem, wie in vielen anderen Stücken F. Chr. Baur wieder einmal mehr zu Ehren kommt.
  4. Von der Literatur kommen für unsere Frage hauptsächlich in Betracht: Richard Heinze, Xenokrates, 1892; P. Wendland, Arch. f. Gesch. d. Philos. I und Die hellenistisch–römische Kultur, 1907; E. Norden, Kommentar zur Aeneis Buch VI, 1903; M. Apelt, De WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt[259] rationibus quibusdam, quae Philoni Alexandrino cum Posidonio intercedunt (Commentationes philologae Ienenses VIII 1), Leipzig 1907.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_258.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)