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an πρᾶξις, bis zum Tode des Helden oder bis zu einem beliebig gewählten Ruhepunkt“. Wenn diese Beschreibung richtig ist – und ich wüßte nicht, was man an ihr aussetzen sollte –, so folgt daraus unmittelbar, daß die Vita Antonii nicht zu dieser Gattung gehört. Denn in ihr findet sich gerade das, ja bei ihr ist wesentlich, was Reitzenstein bei der Aretalogie vermißt: der einheitliche Plan des Ganzen, die innere Verbindung der einzelnen Teile und die kunstvolle Spannung[1].


     Ergibt sich nun aus dem Fehlschlagen dieser Deutungsversuche, daß der Stil des Heiligenlebens etwas schlechthin Neues ist? Darf Athanasius der Schöpfer einer „neuen Literaturgattung“[2] heißen?

     Das ist doch keineswegs der Fall. Vielmehr ruht die künstlerische Form, mittels deren Athanasius seinen Stoff bewältigt, auf einer langen Vorgeschichte. Man erkennt ihre Spuren freilich nur dann, wenn man zugleich das in der Vita Antonii gezeichnete Ideal nach rückwärts verfolgt. Denn wie überall, so hängt auch hier die Art der Gestaltung mit der Besonderheit des Gegenstands aufs engste zusammen.

     Das Ideal, für das die Vita Antonii wirbt, hat – ich muß auf meinen alten Satz zurückkommen[3] – seine nächste Vorstufe bei Clemens Alexandrinus, in dessen Schilderung des vollkommenen Gnostikers.

     Schon Clemens geht bei der Beschreibung seines Ideals aus von Matth. 5, 8; er führt das Wort fast regelmäßig an, wenn er von dem vollkommenen Gnostiker spricht[4]. Unter Herzensreinheit versteht jedoch auch er immer so viel wie Unterdrückung der wilden Begierden[5]. Sie gelingt nur in allmählichem Fortschritt und nur demjenigen, der ernsthaft bei sich selbst einkehrt[6] und harten Kampf nicht scheut[7]. Wer aber über seine Triebe Herr geworden ist, an dem erfüllt sich auch die Verheißung, daß er Gott zu schauen vermag[8]. Ueber den Körper erhaben[9] und mit Gottes Geist erfüllt, besitzt er den Tiefblick für die unsichtbare Welt[10]; er ist „Freund Gottes“[11] und


  1. Die beliebte Bezeichnung der Heiligenleben als Mönchs–„Romane“ stellt keine Lösung der Frage dar. Die Einführung dieses vieldeutigen Ausdrucks hat das Verständnis mehr aufgehalten als gefördert. Wenn Rohde (Kleine Schriften II 8) ein Recht hat zu sagen: „von einem Roman kann man doch nur reden, wo man eine prosaische Erzählung... eines erfundenen... Themas, zum Zweck der Unterhaltung (höchstens nebensächlich einmal auch einiger Belehrung) ausgeführt, vor sich hat“, dann sind die christlichen Heiligenleben jedenfalls keine Romane. Denn weder ist ihr Gegenstand frei erfunden noch dienen sie der bloßen Unterhaltung.
  2. So Lietzmann, Theol. Lit.–Ztg. 1911, S. 452.
  3. Enthusiasmus und Bußgewalt 139; s. u. S. 271.
  4. Vgl. z. B. Strom. II §50, 2; 139, 19 Stählin; Strom. IV §39, 1; 265, 26; Strom. VI §102, 2; 483, 10; Strom. VII §13, 2; 10, 16; §68, 4; 49, 16 [vgl. auch schon Teoph. ad. Aut. I 2 Otto: Reinheit der Seele Bedingung für das Gottschauen.]
  5. Strom. IV §138, 1; 309, 12 Stählin; Strom. VI §109, 3; 486, 23; Strom. VII §72,1; 52,1; §74,1; 53,6ff.
  6. γνῶθι σαυτόν z. B. Strom. VII §20, 7; 15,9 Stählin.
  7. ἀθλητής z. B. Strom. VII §20,3; 14, 23 Stählin; §67,4; 48, 22.
  8. Z. B. Strom. VI §102, 2; 483,10ff. Stählin; Strom. VII §13,1; 10,6ff.
  9. ἄσαρκος Strom. VII §86, 7; 62, 9 Stählin.
  10. διορατικός z. B. Strom. IV §135, 1; 308, 5 Stählin; Strom. VII §44, 6; 33, 23.
  11. φίλος θεοῦ z. B. Strom. VII §19,2; 14,9 Stählin: §68, 3; 49, 13.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_256.png&oldid=- (Version vom 16.7.2022)