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13. Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens
1912


     In einer fleißigen Doktorabhandlung hat Hans Mertel[1] den Versuch gemacht, den Stil des griechischen Heiligenlebens näher zu bestimmen. Anknüpfend an Leos bekanntes Buch und, wie er meint, dessen Arbeit weiterführend, prüft er eine Anzahl von Legenden auf ihre schriftstellerische Form. Schon beim ersten Stück, das er vornimmt, der Vita Antonii des Athanasius, gelangt er zu dem runden Ergebnis: „Athanasius erzählt in rhetorisch gefärbter Sprache nach plutarchisch–peripatetischem Schema das Leben des Antonios; er steht diesem Schema mit einer gewissen Selbständigkeit gegenüber, er hat es aber infolge der vorwiegend erbaulichen Tendenz seiner Schrift nicht vermocht, ein klar gegliedertes Werk aus einem Guß zu schaffen“[2]. Der hiemit festgestellte Gesichtspunkt bestätigt sich Mertel bei der ganzen folgenden Untersuchung. Ueberall findet er Plutarchs Vorbild bei den christlichen Schriftstellern wirksam; ständig muß er aber auch den Tadel wiederholen, daß die erbauliche Absicht der Verfasser der künstlerischen Abrundung ihrer Werke im Wege gestanden sei[3].

     Mertels Aufstellungen haben Anklang gefunden. Nicht nur Krüger[4], Weyman[5] und Jordan[6], auch ein Sachkenner vom Rang E. Nordens[7] haben ihre Zustimmung geäußert. Die Auffassung scheint im Begriff, „herrschende Meinung“ zu werden.

     Ich möchte zeigen, daß dieser Beifall voreilig war, und meinerseits eine andere Lösung vorschlagen.

     Ehe man die Frage aufwerfen kann, wieweit die christliche Heiligenlegende eine bereits bestehende schriftstellerische Gattung fortsetzt, gilt es, sich über ihre „innere Form“ klar zu werden: über die Ziele, die diese Art von Lebensbeschreibung sich steckt, über die Vorgänge, die sie ans Licht ziehen, und über die Zusammenhänge,


  1. Die biographische Form der griechischen Heiligenlegenden, München 1909.
  2. S. 19. – Der angehängte, aus Reitzenstein stammende Schlußsatz „Plutarch gestaltet einen Charakter, Athanasius einen Typus“ steht mit dem Vorhergehenden in keiner inneren Verbindung, wie denn Widersprüche bei Mertel nichts Seltenes sind. Ich gehe auf diese Seite seiner Schrift nicht weiter ein.
  3. Vgl. die Schlußbetrachtung S. 98.
  4. Theol. Jahresbericht für 1909 S. 368 f.
  5. Gesch. der altchristl. Literatur, 1911, S. 121¹.
  6. Byz. Zeitschr. 1910 S. 220.
  7. Einl. in die Altertumswissenschaft I¹ 586.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_249.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)