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ein rauher und gebieterischer Mann, herrschte ihr eines Tages zu, sie möchte sich zu ihrem Hochzeitsschmuck anschicken, denn in drei Tagen werde der Bräutigam kommen, den er ihr ausgewählt.

Der Verzweiflung nahe, faßte Notburga den Entschluß, aus dem väterlichen Hause zu fliehen. In der Stille der Nacht rief sie einen alten vertrauten Diener zu sich und sagte zu ihm: „Begleite mich hinüber an die Höhle am Neckar, wo die Kapelle des heiligen Michael steht; dort will ich mein künftiges Leben unter gottesdienstlichen Uebungen in der Einsamkeit zubringen.“

Als sie an den Fluß kamen, war aber kein Nachen vorhanden, um sie überzusetzen; siehe da trabte plötzlich ein schneeweißer Hirsch aus dem Walde herbei, neigte sittiglich seinen Bug vor Notburga, und lud sie mit klugen Augen ein, sich seiner als eines Zelters zu bedienen. Sie schwang sich unbedenklich auf seinen Rücken, und er schwamm mit ihr durch den Neckar bis zu der Uferstelle, wo die Felsenhöhle sich befand.

Nicht lange, so vermißte der Fürst seine Tochter, und schickte viele Bothen und Kundschafter aus, ihren Aufenthalt zu erforschen; doch vergebens, nicht die geringste Spur leitete sie dahin. Zur Mittagszeit kam der weiße Hirsch zu dem treuen Diener auf Schloß Hornberg; der wollte ihm ein Brod reichen, doch der Hirsch neigte seinen Kopf, damit er es ihm an’s Geweih’ stecken möge. Kaum war dies geschehn, so flog das verständige Thier nach der Höhle zurück und brachte Notburga das Brot. So kam er jeden Tag und ließ sie keinen Mangel leiden.

Einst kam der Fürst gerade dazu, als der Diener dem Hirsche das Brod auf’s Geweih steckte, und zwang den Alten durch schreckliche Drohungen, ihm das Geheimniß zu verrathen. Kaum hatte sich am andern Tage der Hirsch wieder eingestellt, so schwang sich der Fürst auf sein Roß und folgte dem Brodträger nach, durch den Fluß bis zur Höhle, die seine Tochter barg. Er trat ein und fand sie vor einem Kreuze knieend in brünstigem Gebete. Der Hirsch hatte sich zu ihrer Seite gelagert, und blickte den hohen Eindringling mit großen verwunderten Augen an. Vergebens waren alle Bitten und Befehle des zürnenden Vaters, Notburga solle mit ihm nach Hornberg zurückkehren.

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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_586.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)