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die Kniee und sandte ein brünstiges Gebet zum Himmel empor. Da erblickte sie plötzlich ihren getreuen Raben, der ihr bis hieher nachgefolgt war und nun vergebens an dem rostigen Thorgitter mit dem Schnabel herumhackte, um zu ihr hineinzugelangen. Da es all seine Mühe fruchtlos sah, hüpfte das arme Thier in’s nächste Gebüsch und kehrte bald mit einigen Sträuchen Erd- und Brombeeren zurück, die er seiner Herrin durch die Eisenstäbe hineinreichte, um ihr wenigsten Erquickung zu verschaffen.

Das Erscheinen ihres Raben hatte Williswinde wieder einigermaßen Ruhe eingeflößt; sie sah ihn als einen Trostboten des Himmels an.

Zwei lange lange Tage schlichen ihr vorüber; doch wich der treue Vogel nicht von dem Gitter, außer wenn er in den nahen Wald flog, um ihr nahrhafte Wurzeln und erfrischende Beeren zu holen. Wie freudig schlug er jedesmal die blaulichschimmernden Flügel, wenn er sah, wie seine Herrin die kleine Beute, die er ihr brachte, mit dankbaren Blicken auf ihren Freund in der Noth verzehrte!

Am Morgen des dritten Tages erschien unser Ritter vor dem Thore des Thurmes. Er wiederholte seinen Antrag mit noch schneidenderem Hohne und schwur, da Williswinde statt aller Antwort nur verächtlich ihr Gesicht abwandte, sie nun dem Hungertode preis zu geben, worauf er wüthend davonjagte.

Nach einem ruhigen Schlummer, die Frucht ihres innigen Abendgebetes, stand Williswinde in der Frühe des nächsten Tages an dem Gitter ihres Kerkers, das im Morgenroth erglühte. Mit kindlich vertrauenden Augen schaute sie zum reinen blauen Himmel hinauf, horch, – da erklingen auf einmal die Töne eines fröhlichen Liedchens, vom Walde her. Das ist nicht die rauhe Stimme ihrers Verfolgers, nein, keck darf sie’s wagen: mit aller Kraft schreit sie um Hülfe.

Und nicht vergebens. Ein junger Ritter in glänzender Waffenrüstung nähert sich dem Thurme. Er ist es, er ist es, ihr heißgeliebter Bruder! Um seine Schwester zu überraschen, hatte er, ahnungslos von dem Vorgefallenen, den kürzeren Fußpfad, der

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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_581.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)