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Keller’s Bild und Kreuz.

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts verließ Markgraf Christoph die alte Stammburg seiner Ahnen und bezog das neue Schloß, welches er auf dem Hügel, dicht über der Stadt Baden, sich erbaut hatte. Auf der alten Burg aber, deren Trümmer wir hoch aus dem Bergwalde ragen sehen, blieb seine Mutter zurück mit zwei Hoffräulein, einem jungen Edelmann und der nöthigen Dienerschaft und Schloßwache. Der Junker, aus dem Geschlechte der Freiherrn von Keller, besaß alle Vorzüge, um sich leicht die Gunst der Frauen zu erwerben, wenn gleich seine Sitten ziemlich locker waren. Vor allen Damen aber hatte die reizende Klara von Tiefenau sein Herz mit den festesten Banden umstrickt; im Hause ihres Vaters, der als markgräflicher Vogt in Kuppenheim lebte, welches damals noch eine Stadt mit Gräben, Mauern und Thürmen war, hatte sich diese Bekanntschaft entsponnen. Ein bequemer Weg, von dem jetzt noch die Spuren sichtbar sind, führte vom alten Badener Schlosse nach Kuppenheim durch einen dichten Wald und unser Junker machte täglich, unter dem Vorwande der Jagd, in den Morgen- oder späten Abendstunden diesen Spaziergang, um die Dame seines Herzens wenigstens auf Augenblicke zu sehen.

Als er einst beim hellen Vollmondschein von dort zurück wieder heimwandelte und das Horn des Burgwächters eben Mitternacht verkündete, kam es ihm plötzlich vor, als sitze, wenige Schritte nur von ihm, am Wege eine weibliche Gestalt, in einen Schleier gehüllt. Wie gewöhnlich abenteuerlustig, schritt der junge Mann keck auf die Erscheinung zu. Allein je näher er derselben kam, desto unbestimmter wurden ihre Umrisse, mehr und mehr in Nebelduft verschwimmend und endlich ganz verschwindend, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Jetzt wandelte ihn doch ein leises Grauen an; da er aber beherzt und leichtsinnig genug war, ging er, vor der Hand die Sache nur als ein Trugbild seiner Fantasie betrachtend, am folgenden Abend wieder an derselben Stelle vorbei, um darüber ganz ins Klare zu kommen. Die Gestalt saß, wie gestern, wieder auf dem nämlichen Rasenplätzchen, nur hatte sie jetzt den Schleier zurückgeschlagen

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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_199.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)