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ist, bei dem Kreuze niedersetzen, wo die Feinde den ersten Angriff zu machen beabsichtigen. Die Leute auf seiner Burg sind doch nicht ausreichend, den Graben in so großer Schnelligkeit tief und breit genug aufwerfen zu lassen – meine wackere Henne wird dies aber schon zu Stande bringen.“ – Bei diesen Worten streichelte sie das Thier und sang dazu in leisen, kaum vernehmlichen Tönen:

„Hör’, was ich dir sag’:
Wenn sich neigt der Tag,
Wenn das Käuzlein schreit,
Mußt du graben tief und breit,
Mußt scharren die Erd’ heraus,
Bis zu des Todten Haus,
Bis zu des Helden Schwert,
Welches kein Rost verzehrt.
Geh’, und vor Mitternacht
Sey noch dein Werk vollbracht!“

Imma blickte nicht ganz ohne unheimliches Gefühl auf die weiße Henne; die Alte war aber dabei so freundlich und treuherzig, daß die Jungfrau doch wieder Zutrauen zu ihr faßte. Ihr Bruder zeigte nicht die mindeste Furcht und freute sich sogar schon im Voraus auf das wunderbare Schauspiel, welches ihm die Henne gewähren sollte. So schieden beide Kinder von der wohlmeinenden Alten.

Sie hatten kaum die Hälfte des Berges erstiegen, auf dessen Kuppe Windeck liegt, als ihnen der junge Ritter entgegen kam. Er war von hoher edler Gestalt; ein tiefer Ernst überschattete sein wohlgebildetes Antlitz, doch der milde Ton seiner Stimme benahm den Geschwistern bald ihre Besorgniß.

„Wer seyd ihr, liebe Kinder, und was sucht ihr auf meiner Burg – denn dahin geht ja euer Weg, nicht wahr?“

„Ja, gestrenger Herr Ritter!“ – erwiederte Imma mit hochgerötheten Wangen und zu Boden geschlagenen Augen – „Wir wollen Euch geziemend bitten, unsern Oheim, der bisher an uns armen elternlosen Waisen Vaterstelle vertrat, frei zu geben und dafür uns als Geißeln zu behalten, bis er sich löst.“

Der Ritter konnte seine Rührung nicht verbergen. Er betrachtete die Kinder eins um das andere, am längsten die schöne Imma, die voll reizender Verlegenheit vor ihm stand; bis sein

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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_149.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)