Er kam auf hohem Rosse geritten im Morgenlicht;
Da war im ganzen Schlosse die Jungfrau zu finden nicht.
Sie ritten mit klirrenden Sporen der entwichenen Jungfrau nach.
Hinzu nach der Stadt Freiburg in Breisgau den Weg sie nahmen;
Sie fanden sie da nirgends, wo sie vorüber kamen.
Und als der Tag sich neigte, wollten sie, um zu sehn,
Da sahen sie auf dem Berge, hoch oben im Sonnenlicht,
Stehn die Jungfrau Ottilie mit verklärtem Angesicht.
Sie hielten eine Weile und wagten nicht zu nahn;
Dann sprengten sie die Steile des Berges rasch hinan.
Ob ihr die Augen blendete das Abendsonnenlicht?
Oder ob es thaten die Thränen, die ihr flossen?
Sie merkt’ es nicht, bis sie nahten mit ihren lauten Rossen.
Da erkannte sie plötzlich, wie nah die Gefahr ihr sei,
Der Himmel kam zu Hülfe seiner erwählten Braut;
Vom Vater und vom Bräutigam ward das Wunder geschaut.
Sie schreckten auf ihren Rossen rückwärts um einen Schritt,
Als sich aufthat der Boden und sie sanft hinunter glitt.
Die Jungfrau da geborgen, sich wieder zusammen gab,
Daß auf derselbigen Stelle blieb keine weitere Spur,
Als eine klare Quelle floß aus einer Spalte nur.
Die Quelle fließt noch heute, und ist im Lande bekannt;
Es soll für schwache Augen Stärkung die Quell’ ertheilen;
Man sagt, sie solle taugen, die Blindheit gar zu heilen.
Es stammt die Quell’ aus Thränen solch einer Jungfrau ja,
Die selber blind gewesen, und dann das Tagslicht sah.
Wir wünschen, daß es Andern möge zum Glück geschehn.
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 1. Band. Karlsruhe: Kreuzbauer und Kasper, 1846, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_393.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)