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Oben über dem bewußten Fenster, also gerade über unserm runden Tisch, befand sich eine Klappe, die zu dem großen, im ersten Stock liegenden Küchenraum führte, wo „Madame Rögind“, eine von uns sehr respektierte Dame, als Oberköchin das Szepter führte und für die hungrigen Mäuler da unten allerlei leckre Bissen bereit hielt. Wütete nun der Kater zu grimmig in unsern Köpfen und Mägen, und verlangten letztere zu dringend nach einer besonderen Erquickung, dann ertönte wohl im Chorus nach bekannter Melodie der Gesang: „Madam Rögind, Madam Rögind!“ bis sich über uns die Klappe öffnete und die so Angesungene sich mit der stehenden Frage vernehmen ließ: „Wünschen die Herren Studiosen e Gurkchen?“ Natürlich lebhafte Bejahung von unten, und bald erschien denn auch an einem Bindfaden befestigt von oben die erbetene Labung, die noch dazu als Gratisspende geliefert wurde.

Das Bier, damals vorzugsweise Wickbolder, bezahlten wir mit Marken, die uns am Büfett geliefert wurden, und deren Betrag jeden Monat eingelöst werden mußte, wofür das Corps garantierte. Leider gingen nur zu häufig die Marken früher zu Ende als der Monat, von den Barmitteln gar nicht zu reden. Kam nun in solcher Bedrängnis der Augenblick heran, wo es hieß, die Zeche bezahlen, so mußte wohl die berühmte „falsche Weste“ momentan aus der Notlage helfen. Ob dieses geflügelte Wort wohl noch bei der jetzigen Generation fortlebt? Geprägt wurde es von unserm, überhaupt in manchen Beziehungen verblüffend genialen Emil Flach, genannt Molch. Er hatte eines schönen Tages wieder einmal eine nette Anzahl Töpfchen zu sich genommen, worin er nämlich auch etwas zu leisten vermochte und fragte schließlich Eduard nach seiner Zeche. Als dieser sie dann angegeben, griff Molch in die rechte Westentasche (die [55] linke umschloß wirklich noch die Uhr!), kramte einen Augenblick darin herum und gab dann mit wahrhaft erhabner Miene dem wartenden Eduard den Bescheid: „Ach so! Ich habe heute die falsche Weste angezogen. Werde morgen bezahlen!“ Eduard verbeugte sich höflich und mit verständnisvollem Lächeln, während von unsrer Seite ein homerisches Gelächter den schlagfertigen Erfinder dieses Rettungsmittels belohnte, zu dem dann noch oft manch’ andrer Bedrängter in gleicher Lage griff. Übrigens hatte Molch am andern Tage wirklich die richtige Weste angezogen!

Einen nicht minder klassischen, von uns mit gleichem Beifall aufgenommenen Ausspruch tat er ein andres Mal. Ins Lokal und an den runden Tisch tretend, rief er dem Kellner zu: „Einen Schoppen und zwar sofort!“ Und nach einer kleinen Pause: „Und wenn ich sage sofort, so meine ich sogleich. Merken Sie sich das!“ Dann ließ er sich mit majestätischer Würde, unser und des übrigen Publikums Lachen nicht beachtend, nieder. Natürlich wurde auch dieses Wort bei uns zur stehenden Redensart und mir selbst entschlüpft es wohl noch jetzt unwillkürlich bei gegebener Gelegenheit.

Bei diesen Erinnerungen an Emil Flach taucht mir die an eine andere, nicht minder drastische Szene auf, bei der es sich ebenfalls um den leidigen nervus rerum handelte, und deren Held auch ein Emil war, nämlich unser Emil Drenker, der später als Direktor der größten Theateragentur Berlins in der ganzen deutschen Bühnenwelt als wichtige Persönlichkeit galt und bis zu seinem, leider sehr frühen Tode in den glänzendsten materiellen Verhältnissen lebte. Nun, zu jener Zeit, wo er sich studienhalber in Königsberg aufhielt, waren sie nichts weniger als das, wenn auch sein Vater Gerichtsbeamter in seinem und meinem Vaterstädtchen Lötzen, ihm die nötigsten Existenzmittel

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Otto Vigouroux: Aus meiner goldnen Zeit 1857–60. Königsberg i. Pr. 1905, Seite 54–55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Aus_meiner_goldnen_Zeit_1857%E2%80%9360_(Vigouroux).pdf/3&oldid=- (Version vom 14.9.2022)