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Walther Kabel: „Armer kleiner Kerl“! (Salonblatt, Jahrgang 12, No. 1)

Portemonnaie auf dem Mitteltische lag, nicht mitgehen heißen? Und Uhr und Geldbörse verschwanden gleichfalls lautlos in der Ledertasche.

Dann schlich der Junge zum Fenster und schlug die Stores zurück. Draußen graute bereits der Morgen. Eile tat wirklich not. Gewandt wie eine Katze kletterte er auf den Fensterkopf. Mit knirschendem Geräusch dreht sich der Fensterverschluß, der eine Flügel öffnet sich. Noch zögert der Knabe. Die Entfernung von dem Hochparterrefenster bis zum Erdboden ist recht beträchtlich. Aber ihm bleibt ja jetzt keine andere Wahl mehr.

In das stille Zimmer dringt von der Straße her ein dumpfes Aufschlagen, wie von dem Fall eines Körpers auf die Steinplatten des Trottoirs, – darauf ein halbunterdrückter Schmerzensschrei, der bald in wimmerndes Weinen übergeht. Klappernd stößt die Zugluft die Fensterriegel zu … Aber Mantow erwacht nicht.

Zwei Stunden später findet der alte Cyrill seinen Herrn noch in derselben Stellung schlafend vor. Im nächsten Augenblick ist die Polizeibehörde telephonisch verständigt, und nach weiteren zehn Minuten jagt der völlig verzweifelte Hauptmann in einem schnell herbeigeholten Wagen der Polizeidirektion zu, läßt sich bei dem diensthabenden Inspektor melden und trägt ihm den Fall ausführlich vor, bittet um schleunige Hilfe, beruft sich auf die Wichtigkeit der gestohlenen Papiere und erreicht, daß ungesäumt alle verfügbaren Detektivs dem Jungen auf die Spur gehetzt werden. Mehr kann Hauptmann Mantow für den Augenblick nicht tun. Niedergeschlagen kehrt er in seine Wohnung zurück. Wenn die Dokumente nicht wiedergefunden werden, wenn sie ins Ausland, in die Hände einer feindlichen Macht gelangen, ist er entehrt für alle Zeiten.

Wieder eine Stunde später – Mantow wollte sich gerade ins Kriegsministerium begeben, um dort den so raffiniert ausgeführten Diebstahl der geheimen Dokumente zu melden – betritt ein Kriminalinspektor das Arbeitszimmer des Hauptmanns, eine offenbar gefüllte Ledermappe in der Hand. Ein Blick genügt: Mantow erkennt seine Aktentasche sofort, und eine wahre Zentnerlast fällt ihm vom Herzen. „Wir haben Glück gehabt, Herr Hauptmann!“ beginnt er und reicht ihm die Ledermappe mit höflicher Verbeugung hin. „Der Junge hat sich nämlich beim Sprunge aus Ihrem Fenster das rechte Bein dicht über dem Knie gebrochen und konnte sich mit dieser Verletzung nur bis zur Straßenecke schleppen, wo er bald aufgefunden und in die nächste Sanitätsstation eingeliefert wurde. Dort untersuchte man den Inhalt der Aktenmappe und entdeckte dabei in Ihrer Börse, Herr Hauptmann, eine auf Ihren Namen lautende Karte.“ „So, so, ich verstehe. Also daher bin ich so schnell wieder in Besitz der gestohlenen Gegenstände gelangt. Noch etwas, Herr Inspektor: heißt der kleine Spitzbube wirklich Wassili Jeliansky, wie er sich mir gegenüber nannte? Und, wer, meinen Sie, mag ihn wohl zu diesem hochverräterischen Streich angestiftet haben?“

Der Inspektor zuckte die Achseln. „Die letzte Frage werde ich Ihnen wohl nie beantworten können, Herr Hauptmann. Der Junge hat natürlich den erdrückenden Schuldbeweisen gegenüber das Leugnen sofort aufgegeben. Aber sonst ist nichts, auch nicht ein Wort aus ihm herausgekommen. Und bei diesem hartnäckigen Schweigen wird er verharren, mag man ihm auch noch so schlaue Fallen stellen oder denselben durch lockende Versprechungen zu ködern suchen. Diese Sorte von Verbrecherjugend kenne ich genau. Gewiß, wir werden nichts unversucht lassen, um seinen richtigen Namen und seine Wohnung herauszufinden, weil wir nur seinen Auftraggebern und damit fraglos einer weitverzweigten gefährlichen Spionenbande, von der Sie sicher schon lange ständig beobachtet worden sind, auf die Spur kommen können. Jedenfalls wird der angebliche Wassili bis zu seiner Volljährigkeit in einer Korrektionsanstalt kaltgestellt werden. Das wird aber auch die einzige nützliche Folgeerscheinung Ihres unangenehmen Abenteuers bleiben, Herr Hauptmann.“

Damit verabschiedete sich der Inspektor, der mit seiner letzten Äußerung allerdings insofern nicht recht behielt, als auch aus dem weichherzigen Boris Mantow durch das Erlebnis mit dem „armen, kleinen Kerl“ ein anderer geworden war, einer, der seinen mitleidigen Regungen das Wohltun erst nach sorgfältigster Prüfung aller näheren Umstände folgen ließ.


Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: „Armer kleiner Kerl“! (Salonblatt, Jahrgang 12, No. 1). „Salonblatt“ G.m.b.H., Dresden 1917, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armer_kleiner_Kerl!.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)