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sie bebten vor dem Gedanken zurück. Es war Gottesdienst, die furchtbare Gewalt des Schicksals anzuerkennen, vor seinem blinden Despotismus hinzuzittern. Daher war Oedip ein sehr schickliches Sujet fürs Theater, einen Diomed führte man nicht gern auf. Die Hauptempfindung, welche erregt werden sollte, war nicht Hochachtung für den Helden, sondern blinde und knechtische Furcht vor den Göttern. Wie konnte Aristoteles also anders: secundum autem sunt mores.[WS 1] Ich sage, blinde und knechtische Furcht, wenn ich als Theologe spreche. Als Aesthetiker, war diese Furcht das einzige, was dem Trauerspiele der Alten den haut gout, den Bitterreiz gab, der ihre Leidenschaften allein in Bewegung zu setzen wuste. Von jeher und zu allen Zeiten sind die Empfindungen, Gemüthsbewegungen und Leidenschaften der Menschen auf ihre Religionsbegriffe gepfropfet, ein Mensch ohne alle Religion hat gar keine Empfindung (weh ihm!) ein Mensch mit schiefer Religion schiefe Empfindungen und ein Dichter, der die Religion seines Volks nicht gegründet hat, ist weniger als ein Meßmusikant.

Was wird nun aus dem Oedip des Herrn Voltaire, aus seinem impitoyables dieux, mes crimes sont les votres.[WS 2] Gott verzeihe mir, so

oft ich das gehört, hab ich meinen Hut andächtig zwischen beyde Hände genommen,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. lat., „an zweiter Stelle kommen die Charaktere“ (vgl. Aristoteles, Poetik 6, 12).
  2. „mitleidslose Götter, meine Verbrechen sind die euern (Oedipe V, 4).“
Empfohlene Zitierweise:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)