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nimmt er seine Zuflucht zu dem – französischen Charakter, welcher nur einer – und eigentlich das summum oder maximum aller menschlichen Charaktere ist. Macht seinen Helden äußerst verliebt, äußerst großmüthig, äußerst zornig, alles zusammen und alles auf einmal, diesen Charakter studiren alle ihre Dichter und Schauspieler unabläßig und streichen ihn wie das Rouge auf alle Gesichter ohne Ansehen der Person.

Ich sage, der Dichter mahlt das ganze Stück auf seinem eigenen Charakter (denn der eben angeführte Fall ereignet sich eigentlich nur bey denen, die selbst gar keinen Fond, keinen Charakter haben). So sind Voltairens Helden fast lauter tolerante Freygeister, Corneillens lauter Senekas. Die ganze Welt nimmt den Thon ihrer Wünsche an, selbst Rousseau in seiner Heloise, das beste Buch, das jemals mit französischen Lettern ist abgedruckt worden, ist davon nicht ausgenommen. So sehr er abändert, so geschickt er sich hinter die Personen zu verstecken weiß, die er auftreten läßt, so guckt doch immer, ich kann es nicht läugnen, etwas von seiner Perücke hervor, und das wünscht’ ich weg, um mich ganz in seine Welt hinein zu täuschen, in dem Pallast der Armide Nektar zu schlürfen. Doch das im Vorbeygehen, zum Theater zurück. Voltaire selbst hat eingesehen,

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Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/41&oldid=- (Version vom 31.7.2018)