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unendlichen Reiz mehr haben, wenn er die feinsten Adern der Leidenschaften seines Busens entblößt und seine Leser mit Sachen anschaulich vertraut macht, die sie alle vorhin schon dunkel fühlten, ohne Rechenschaft davon geben zu können, aber das Genie wird ihn da schätzen, wo er aus den Schlingen und Graziengewebe der feinern Welt Charaktere zu retten weiß, die nun freilich doch oft wie Simson ihre Stärke in dem Schooß der Dame lassen. Wir wollen unsern Aristoteles weiter hören: „Die Trauerspiele der meisten Neuern sind ohne Sitten, es bleiben darum ihre Verfasser immer Dichter“[WS 1] (in unsern Zeiten durchaus nicht mehr, Handlungen und Schicksale sind erschöpft, die konventionellen Charaktere, die konventionellen Psychologien, da stehen wir und müssen immer Kohl wärmen, ich danke für die Dichter). Er führt das Beyspiel zweyer Mahler, des Zeuxes und Polyglotus. Ich will diese Stelle übergehen und meine Paradoxe nicht auf alle schöne Künste – doch einen Seitenblick – nach meiner Empfindung schätz ich den Charakteristischen, selbst den Carrikaturmahler zehnmal höher als den Idealischen, hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit

eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als

Anmerkungen (Wikisource)

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Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)