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Sie lieber eine Melodie von Schubert aus dem berühmten Lied „Letzte Hoffnung“. – Ist Ihnen das verkraust genug? Oder folgende, ohne die harmonische Grundlage kaum verständliche Phrase aus dem Lied: „Wasserfluth“ (Takt 11/12)?

Um bei Schubert, diesem Melodiker par excellence zu bleiben, was sagen Sie zu einer solchen Behandlung der Singstimme aus dem Lied „Der stürmische Morgen“ (Takt 4/8)? – Sind das nicht typische Beispiele für eine reichlich verzackte Singstimme? Und dies für eine besonders „weitsprüngige“?

Ähnliches, quasi Instrumentales finden Sie in der Stimmführung Mozarts. Es genügt ein Blick in die Don Juan-Partitur. Zum Beispiel folgende für Streicher wie geschaffene Gesangsstelle der Donna Elvira (Takt 1) oder die verkappte Klarinettenstelle der selben Arie (Takt 5) oder die instrumentale Stelle des Leporello-Zerlinen-Duetts (Takt 30/31) oder die ganze Donna Anna-Partie oder, um schließlich einen besonders deutlichen Fall aufzuzeigen von einer verzackten, weitsprüngigen, den Umfang von zwei Oktaven überschreitenden Melodie, die folgende Gesangsstelle aus „Cosi fan tutte“ (1. Akt, Arie der Fiordiligi, Takt 9-13)!

Sie sehen, daß es also doch noch eine andere Behandlung der Singstimme gibt als die, die man uns immer als Vorbild vorhält, und die sich im Grunde nur durch gehäufte Verwendung langgezogener Töne in der oberen Quint der jeweiligen Singstimme auszeichnet, sondern daß, wie die Klassiker gezeigt haben, die Singstimme unter Umständen auch ein durchwegs bewegliches, in allen Lagen ausdrucksvolles, beseeltes und noch dazu der Deklamation fähiges - allerdings ideales - Instrument darstellt. Sie sehen aus diesen klassischen Beispielen aber auch, daß es gar nichts mit der Atonalität zu tun hat, wenn einer Melodik, und dies auch in der Opernmusik, die schwelgerische Weichheit italienischer Kantilenen abgeht. Sie werden übrigens dies auch vergeblich bei Bach suchen, und dem wird doch hoffentlich niemand melodische Potenz absprechen.

Opp.: Zugegeben. Aber es scheint noch ein anderes Merkmal zu sein, wodurch sich die Melodik dieser sogenannt

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_06.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)