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die Hauptstimme, das Thema zugrunde liegt, beziehungsweise ihr Verlauf dadurch bedingt ist.

Opp.: Ja, ist denn innerhalb dieser Musik Melodie im herkömmlichen Sinn überhaupt möglich?

Berg: Ja natürlich, sogar eine gesangliche.

Opp.: Nun, was den Gesang betrifft, Herr Berg, so befindet sich die atonale Musik ja doch auf neuen Wegen. Hier gibt es unbedingt bisher Ungehörtes, ja, ich möchte fast sagen, vorläufig Unerhörtes.

Berg: Aber doch nur in Bezug auf das Harmonische; darüber sind wir uns ja einig. Es ist aber ganz falsch, dies im Hinblick auf die sonstige Eigentümlichkeit der melodischen Linienführung als einen neuen Weg, wie Sie behaupten, oder gar als Ungehörtes und Unerhörtes zu bezeichnen. Auch bei einem Gesangspart nicht, auch wenn er sich, wie unlängst zu lesen war, durch instrumental chromatische, verkrauste, verzackte, weitsprüngige Intervalle auszeichnet, ebensowenig, wie damit allen gesanglichen Notwendigkeiten der Menschenstimme widersprochen wird.

Opp.: Das habe ich auch nicht behauptet, aber ich kann mir nicht helfen, eine solche Behandlung der Gesangsmelodie und der Melodie überhaupt erscheint mir doch noch nicht dagewesen.

Berg: Das ist es ja, wogegen ich mich wehre. Ich behaupte im Gegenteil, daß die Gesangsmelodie, so wie sie mit diesen angeführten Worten charakterisiert, ja karikiert wurde, immer da war, besonders in der deutschen Musik, und ich behaupte weiter, daß diese sogenannte atonale Musik, soweit sie wenigstens von Wien ausging, sich natürlich auch in dieser Hinsicht an die Meisterwerke der deutschen Musik gehalten hat und nicht etwa – bei aller Verehrung - an die italienische Belkantooper. Eine Melodie, die sich an eine stufenreiche und, was fast gleichbedeutend ist, kühne Harmonik anschließt, kann natürlich, solange man diese harmonische Ausdeutung nicht versteht, leicht „verkraust“ erscheinen, was ja von einer mit Chromatik durchsetzten Schreibweise nicht minder der Fall ist, und wofür es hunderte Beispiele bei Wagner gibt. Aber hören

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_05.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)