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§. 4. Das Wesen des Lehnsverbandes.

Da übrigens die einmal befestigte Fürstenmacht nur durch einen gewaltsamen Umsturz aller deutschen Verhältnisse – der leicht das Verderben seiner Urheber hätte werden können – wieder beseitigt werden konnte, so erachteten die Kaiser es für rathsamer, die Rechte der Fürsten anzuerkennen, zumal diese Anerkennung zur Vorbedingung ihrer Wahl gemacht wurde. Die Fürsten nahmen also ihre Besitzungen vom Kaiser zu Lehen und leisteten ihm und dem Reiche den Eid der Treue.

So werden denn jetzt alle Besitzungen der Fürsten, welcher Art auch der Rechtstitel sein mag, auf Grund dessen sie erworben sind, als Reichslehen angesehen. Die Fürsten verloren auch durch die Anerkennung der Lehnshoheit weder an Macht noch an Ansehen. Wenn ich heute Jemandem Theile meines Besitzthums zu Lehen gäbe, so würde ich ihn freilich vollständig zu meinem Untergebenen machen und ihm beliebige Bedingungen vorschreiben können. Wer aber Besitzungen, die ihm schon gehören, nachträglich von einem anderen zu Lehen nimmt, der schließt eigentlich nur einen Bundesvertrag mit seinem Lehnsherren ab,[1] dessen Oberhoheitsrechte er gebührend anzuerkennen verspricht und dem er sich zu bestimmten Leistungen verpflichtet. Nun war aber nach dem Erlöschen des Karolingischen Geschlechts Deutschland schon vollkommen unabhängig, und mehrere Große besaßen sehr ausgedehnte Gebiete. Als man daher übereinkam, einem von den Großen die Königswürde zu übertragen, um zu verhüten, daß Deutschland wieder, wie in der Vorzeit, in lauter kleine Staaten auseinanderfalle, beabsichtigten die Großen keineswegs, ihre Macht aufzugeben, sondern wollten nur einen mächtigen Beschützer für dieselben schaffen. Als aber einmal der Fürstenstand sich consolidirt hatte, konnten die Kaiser nicht umhin, auch denjenigen, welche an Stelle der erloschenen Geschlechter neu zu Fürsten erhoben wurden, gleiche Rechte mit den alten Fürsten einzuräumen.

Nun wird aber kein Politiker läugnen, daß der Lehnsverband, in welchem die Fürsten zu Kaiser und Reich stehen, eigentlich nur ein Bundesverhältniß zwischen Paciscenten von verschiedenem Range ist. Denn wären die Fürsten Unterthanen des Kaisers, so könnten sie nicht das Recht über Leben und Tod ihrer Landesangesessenen haben, und könnten nicht die Befugnisse haben, Beamte zu ernennen, Verträge zu schließen, Abgaben aller Art, nicht für den königlichen Fiscus, sondern für sich zu

  1. Schon hier berührt der Verf. seine im 6. Capitel weitläufig dargelegte Theorie, daß Deutschland eigentlich kein Einheits-, sondern ein Bundesstaat sei. Freilich ist die historische Begründung dieses Satzes für die Zeiten des Mittelalters durchaus unhaltbar; denn sie beruht auf der Hypothese, daß die Fürsten Besitzungen, die ihr Eigenthum waren, dem Kaiser zu Lehen aufgetragen hätten. Das ist falsch; denn die Besitzungen der Herzoge und Großen des Reiches hatten ihre Qualität, Reichslehen zu sein, nie, auch nach dem Erlöschen des Karolingischen Hauses nicht, verloren. P. macht auch diese ganze unhaltbare Hypothese nur, um den Zustand Deutschlands seit den westfälischen Zeiten, daß nämlich Deutschland mehr ein Bundes-, als ein Einheitsstaat war, auch in das Mittelalter zurückzuversetzen und so rechtlich und historisch zu begründen.
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Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/57&oldid=- (Version vom 1.8.2018)