Schatten (Die Gartenlaube 1889)

Textdaten
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Autor: C. Lauckner
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Titel: Schatten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29–34, S. 492–496, 510–512, 527–531, 544–547, 558–562, 575–579
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Schatten.

Novelle von C. Lauckner.

Wohin? Konrad Herrendörfer, das Haupt seiner Tafelrunde, der Vielgereiste und Vielgewandte, der die Kenntniß der feinsten Lokale der Hauptstadt zu einer Art Studium gemacht hat, – der niemals in Verlegenheit um einen lustigen Abend ist, – steht hier in der fremden Stadt an der Ostgrenze des Reiches rathlos in der Nähe einer großen Laterne, sieht auf den Marktplatz nach einer, in die endlos lange Straße nach der andern Seite und seufzt recht unzufrieden und gelangweilt.

Es ist aber auch eine eigene Lage, in der er sich befindet. Er ist sozusagen incognito in der alten Pregelstadt Königsberg, zum erstenmal in seinem vielbewegten Leben, dessen Haupterlebnisse sich bisher mehr in der Mitte und im Süden unseres deutschen Vaterlandes abgespielt haben.

Sonderbares Schicksal, das ihn nun, da er in eine neue Staffel seiner Entwickelung eintreten will, bis hierher, in die „Stadt der reinen Vernunft“, verschlägt, die sich ihm übrigens in möglichst unvortheilhaftem Licht zeigt. Nebel, dichter Nebel vom Morgen an, ein für den verwöhnten Feinschmecker ungenießbares Diner, und, es ist zum Verzweifeln! – der Gegenstand, dem zuliebe er sich hier aufhält, nicht sichtbar für ihn, weil – ja weil er es nicht für vereinbar mit den gesellschaftlichen Formen hält, seine Braut zu besuchen, ehe deren Vater ihr Bündniß bestätigt hat.

Dieser Vater hätte von seiner Badereise vielleicht doch einen Tag früher heimkehren können, als Gertrud und er es angenommen hatten, und für diesen immerhin möglichen Fall, der leider nun nicht eingetreten, ist Konrad etwas früher in Königsberg eingetroffen, als er mit seiner Braut verabredet hat.

Was nun beginnen? Was mit dem Ueberfluß an Zeit anfangen in einer Stadt, in der ihm die Lokalitäten vollständig fremd sind, in der jeder Bekannte ihm in seiner augenblicklichen zweifelhaften Lage geradezu unangenehm sein müßte? Bis zum Theater noch zwei Stunden. Soll er in sein Hotel zurück und versuchen, sich dem vielgetreuen Freund, dem Schlaf, zu widmen, trotz des unruhigen Herzens, trotz der nervösen Aufregung, die ihn aus seinem behaglichen Zimmer hinausgetrieben hat?

Und nun lächelt er. Ueber sich selbst, über seine Erregung, seine Rathlosigkeit, über das, was er seinen Materialismus nennt. Das will in diesem Fall sagen: seine Gedanken an Zeitvertreib irgend welcher Art, während doch zwei schöne, freimüthige Augen in die seinen blicken sollten, so daß er darüber Zeit, Ort und alle sonstigen Bedingungen des Daseins vergessen müßte.

Wie er sie sich so recht klar vorstellt, diese lachenden Augen, und den kleinen, vollen Mund dazu, der so lustig und doch so verständig plaudern kann, – und die schlanke, jugendliche Gestalt, die er eine kurze Spanne Zeit in den Armen gehalten, da wird ihm doch so eigenthümlich warm, daß er augenblicklich nur den lebhaften Wunsch empfindet, sie wiederzusehen.

Sein Herkommen ist, wie gesagt, verabredet, morgen wird er öffentlich die Rolle übernehmen, die er Umstände halber seit ein paar Wochen heimlich gespielt hat, – die des glücklichen Bräutigams. Er, der Vierziger, dessen Haar sich schon bedenklich zu lichten beginnt und den seine Freunde den unverbesserlichen Junggesellen nennen.

Wieder erscheint das frische Lächeln in seinem ernsthaften, etwas blasirten Gesicht, und dann wendet er sich, um den Weg einzuschlagen, den er heute schon mehrmals genommen hat, den nach dem großen, ziemlich geschmacklos aufgeführten Hause, nach dessen zweitem Stock er schon mehrmals ohne jeden Erfolg geblickt.

Nun steht er wieder davor, mit einem Gefühl etwa, wie er es als Knabe am Tage vor Weihnachten empfunden hatte, wenn er vor der verschlossenen Thür der Stube stand, in der die Weihnachtsherrlichkeiten aufgebaut waren.

Es beginnt zu dämmern, da kann er dreister nach dem Eckfenster schauen. Er geht über den Damm auf die Seite gegenüber dem Hause, das seinen Schatz birgt. Jetzt glaubt er eine weibliche Gestalt zu erkennen und sieht unverwandt hinauf . . . sie ist verschwunden – aber nun fühlt er plötzlich seine Hand ergriffen und sieht in das rosige Antlitz – dicht neben sich, – das ihm das liebste auf der ganzen Welt ist.

Wie im Traum steht er da und hält die kleine, warme, unbehandschuhte Hand so fest, als hätte sie einen Versuch gemacht, sich zu befreien.

„Gertrud, mein Liebling,“ sagt er endlich mit erregter Stimme, die liebliche Erscheinung musternd, – „Du hast keinen Hut, bist überhaupt nicht für die Straße angekleidet . . . “

Sie trägt in der That über dem dunkeln Hauskleide ein niedliches Schürzchen und steht ohne Hut in dem strömenden Regen da, halb lachend, halb weinend, roth vor Glückseligkeit.

„Laß uns hineingehen!“ sagt sie. „Wie hatte ich Zeit, an eine Straßentoilette zu denken . . . Ich stehe in Gedanken bei dem Strauß, den ich heute von Dir erhalten habe, – ich sehe hinunter, sehe einen grauen Paletot, – ich liebe alle grauen Paletots, seit“ – – sie streift den in keiner Weise bemerkenswerthen mit zärtlichen Blicken – „und dann, als der Schirm sich zur Seite biegt, – erkenne ich Dich, Dich selbst, und im nächsten Augenblick bin ich bei Dir.“

Er muß wieder trotz des strömenden Regens und trotz des nicht üblichen Straßenanzuges seiner Braut stehen bleiben, unbekümmert um die erstaunten Blicke der Vorübergehenden. Er übersieht dabei zwei Damen, die dicht vor ihm gehen, und macht einen Schritt so schnell vorwärts, daß eine von ihnen genöthigt ist, vom Trottoir auf die Straße zu treten.

Sie sieht sich um, ein erzürntes „shocking“ hervorstoßend, dabei treffen ihre befremdeten Blicke Gertrud, die tief erröthend grüßt . . . „Miß Sikes . . . “

„Ja, Fräulein Sikes,“ – sagt auch Konrad, – „ich erkannte sie deutlich.“

Diese Stimme, – rauh, krächzend fast in der Entrüstung – Konrad läßt den Schirm sinken und folgt langsam dem schlanken Mädchen, das vor ihm die Treppen hinaufläuft und dann die offene Flurthür hinter ihm schließt.

Nun sieht sie mit großen, erwartungsvollen Augen ihrem Bräutigam zu, wie er Schirm und Ueberrock ablegt und blaß und stumm auf den Boden blickt.

Arme Gertrud . . . Mit jedem Herzschlag vermindert sich ihre grenzenlose Freude, – sie schiebt schüchtern ihre Hand in die seine und fragt:

„Bist Du mir böse, weil ich mich so auffallend benahm, – und weil Miß Sikes das sah?“

Eine direkte Antwort erhält sie nicht, aber eine befriedigende. Konrad zieht sie an sich und küßt sie, wie er sie nie geküßt, wild, mit brennenden Lippen, – als ob es ein Abschied wäre und nicht ein Willkommensgruß, eine Einleitung zu einem langen, glückseligen Leben.

„Um Gotteswillen . . . “ sie macht sich los und öffnet die Thür . . . „Komm hinein, – unsere Leute wissen ja noch nicht, daß wir verlobt sind, – wenn sie es gesehen hätten . . . “

Konrad hat sich unterdessen in seine gewöhnliche, etwas gemessene Haltung zurückgedämmt. Es ist seiner Meinung nach eigentlich unverantwortlich, daß er seine Braut hier aufgesucht hat.

Er hat sie auf Rügen in einer ihr verwandten Familie kennen gelernt, während ihr Vater die Kissinger Kur brauchte. Sie durften ihn um Gotteswillen nicht darin stören durch eine so bedeutungsvolle Nachricht wie die ihrer Verlobung, meinte Gertrud, und er hatte sich damit zufrieden geben müssen, ihr zuweilen heimlich die Hand zu drücken, ihr ein paar Worte zuzuflüstern und ihr zuweilen einige Zeilen zu schreiben während der wochenlangen Trennung.

Denn Gertruds Vater kam erst einen Monat nach ihrer Rückreise von Kissingen zurück, und dann sollte auch Konrad in Königsberg eintreffen, um feierlich die Hand des Mädchens zu erhalten.

Nun hat seine Unruhe ihn vor dem bestimmten Zeitpunkt hierher getrieben und in eine Lage, die er, mit einer sonst für Damen seines Kreises sehr weitgehenden Rücksichtnahme, kompromittierend für seine Braut nennt.

Aber was hätte er nun auch thun sollen? Wenn ein Mann in Konrad Herrendörfers Alter, mit seinen Erfahrungen und seiner schwarzseherischen Weltanschauung noch einmal durch die mächtige, treibende Kraft eines echten Gefühls bewegt wird, pflegen anerzogene und anerlebte Grundsätze selten Stich zu halten.

[493] Nach einigen kleinen Gewissensbeunruhigungen setzt Konrad sich denn auch, innerlich froh, wie seit längst vergangenen Tagen nicht mehr, neben das geliebte Mädchen und wird nicht müde, sich dieselben Versicherungen zurückgeben zu lassen, die er von Zeit zu Zeit durch leise, zärtliche Liebkosungen bekräftigt, die immer neuen, alten von ewiger Liebe.

Nachdem beide dann eine Weile schweigend neben einander gesessen, richtet sich Gertrud auf und fragt:

„Woher kennst Du eigentlich Miß Sikes?“

Es ist eine Frage, die ihr beiläufig in den Sinn kommt, mit der ihre frische, kräftige Natur aus der Gefühlswelt in die Wirklichkeit zurückkehrt.

Mit Erstaunen sieht sie, wie ihres Bräutigams Gesicht sich verfinstert, und nun lacht sie, ein helles, übermüthiges Lachen, das ihn zuerst an sie gefesselt hat.

„Hat die gestrenge Miß Dich etwa auch mit Vokabeln, Grammatik und Litteratur gequält, oder mit ihrem ladylikegentlemanlike muß ich ja sagen, und ihren geschmacklosen Toiletten? Du siehst entschieden gramvoll in der Erinnerung aus.“

„Gramvoll?“ – Nun lacht er auch, nicht ganz natürlich, und sagt leichthin: „Ich habe Fräulein Sikes vor vielen Jahren oft getroffen – und gequält hat sie mich allerdings auf ihre Weise. Aber im Grunde war sie eine gute, anständige Dame, die ich hochachtete.“

Gertrud schlug die Hände zusammen.

„Also wahrhaftig, Du kennst sie! Aber wann war das? Sie ist schon lange, lange hier und vom ersten th bis Shakespeares ‚Julius Cäsar‘ meine englische Lehrerin gewesen. Noch vor meiner Reise nach Rügen habe ich Unterricht bei ihr gehabt, und ich hätte ihn jetzt im Winter wieder fortgesetzt, wenn –“ sie brach erröthend ab . . . „Hochachtung sagst Du übrigens? Das ist mir ein unbekanntes Gefühl. Ich kenne nur Lieben und Nichtleidenmögen, und alle anderen Gefühle und Gefühlchen sind mir unbegreiflich und nicht verständlich.“

„Damit kommt man auch erst in Uebung, wenn man mehr erlebt hat. Es ist wie mit dem Einüben einer Tonleiter – erst wollen die Finger nicht recht . . . aber verzeih, Liebchen,“ bricht Konrad kurz ab, „es wird dunkel, ich muß gehen. Schreibe mir augenblicklich, wenn Dein Vater da ist – ich wohne im ‚Deutschen Hause‘. Wie glücklich wollen wir dann sein, mein Liebling! Unterdessen werde ich oft vorüberkommen und Dein liebes Gesicht am Fenster sehen.“

„Du willst nicht heraufkommen?“ fragt Gertrud erstaunt.

„Nicht, bevor ich ein Recht dazu habe,“ antwortet Konrad standhaft und verabschiedet sich, da eben ein Dienstmädchen durch den Flur geht, nur mit festem Händedruck von seiner Braut.

Sein Herz schlägt froh bewegt. Als er aber die Treppen langsam hinuntergeht, kommen ihm plötzlich die Gedanken wieder, unter deren Einfluß er sie vorher hinaufschritt, die Gedanken an die überraschende Begegnung mit Miß Sikes – und jetzt, nicht verscheucht durch Gertruds glückliches Gesicht, durch ihr liebes Geplauder, gewinnen sie auch wieder Macht über ihn.

Warum heute gerade diese Begegnung mit der alten Engländerin, die ihn an die düsterste Zeit seines Lebens erinnert?

Konrad Herrendörfer ist ein wenig Fatalist und läßt sich leicht durch kleine Zufälligkeiten beeinflussen. So ist er denn jetzt, wo wirklich schmerzliche und peinliche Gefühle in der Erinnerung an vergangenes Unglück in ihm erwachen, seiner Natur nach berechtigt zu der halb traurigen, halb zornigen Empfindung, die ihm das Herz zusammenschnürt. Es ist, als ob der Nebel der Straße sich auch über seine Gedanken breite und über alles, was er sich vorhin sonnig und glückselig ausgemalt hat.

Tief verstimmt tritt er in sein Zimmer. Es ist schon ganz dunkel. Der Kellner zündet das Licht an und zieht sich zurück, nachdem er einige kurze Befehle empfangen.

Konrad faßt den festen Vorsatz, seiner trübseligen Stimmung Herr zu werden. Er versucht, sich durch den Anblick des lieblichen Bildes seiner Braut zu zerstreuen, er beginnt die Lektüre [494] des Leitartikels einer politischen Zeitung, der ihn unter andern Umständen in Wuth versetzt haben würde, er raucht eine besonders aufbewahrte Havanna, aber „shocking!“ tönt die häßliche Stimme in seine frohen Betrachtungen aus dem politischen Aufsatz, und – „shocking!“ – aus dem Rauch seiner Cigarre entwickelt sich gar die lange, eckige Gestalt der englischen Lehrerin, die er seit Jahren aus den Augen verloren.

Mißmuthig und mit bedrücktem Herzen legt er sich in das geöffnete Fenster. Das richtige Herbstwetter! Fast greifbarer Nebel, durch den die Straßen- und Wagenlaternen wie verlöschend glimmen, der das Geräusch zu dämpfen scheint und die geschäftigen Menschen verschwommen wie Schatten über die Fliesen gleiten läßt.

Konrad ertappt sich darauf, daß er sich Mühe giebt, die Vorübergehenden erkennen zu wollen.

Lächerlich! – Er kennt niemand, er will niemand kennen außer der einen, die in all ihrer Jugend und Schönheit sich ihm freiwillig zugewendet, die ihm wiedergegeben hat, was er lange verloren: starkes, reines Empfinden mit jener Hochachtung vereint, die in jungen Jahren die Hauptbedingung jeder Neigung ist, in späteren oft vor dem leidenschaftlichen Wunsch zurücktritt.

Und doch – ein banges eisiges Gefühl überkommt ihn – schien es nicht ebenso damals, damals . . .

Dieses „Damals“, das gerade jetzt in die glückliche Gegenwart ein breites, häßliches „shocking“ gerufen …

Konrad ist im gewöhnlichen Leben ein großer Philosoph. Er ist dazu erzogen durch das Beispiel seines älteren Bruders, dessen überlegene Weltanschauung ihm schon in seinen Jünglingsjahren Bewunderung einflößte.

Sie sagte seiner Anlage am meisten zu, und da er innerlich noch wenig erlebt hatte, bemühte er sich in seinen jungen Jahren so lange, sie nachzusprechen, bis er sich einredete, durch alles, was er gesehen, gelesen, gehört – sich eine eigene Anschauung geschaffen zu haben.

Das war, bis die einzige Leidenschaft in seinem Leben ihn vorwärts gerissen.

Da waren falsche Philosophien und Theorien verschwunden, Glückseligkeit ohne Ende sollte das Leben bringen. Das angebetete Mädchen, seinem Elternhause befreundet, war seine Braut und sollte in kurzer Zeit seine Gattin werden . . . Wie stolz er war, daß sie ihn gewählt, wie stolz aber auch auf all die äußeren Vorzüge, die eine Verbindung mit ihm dem schönen, aber armen Mädchen bieten würde, mit ihm, der trotz seiner Jugend bereits hochgeachteter Anwalt war und als Nachfolger seines rühmlich bekannten Vaters und Geschäftstheilhaber des älteren Bruders schon einen Ruf zu vertreten hatte!

Der schöne Traum hatte ein jähes Ende genommen, das Leben war ein nüchternes, der Poesie und des Glücks entkleidetes geworden, und die früher eingebildete schwarzseherische Lebensanschauung hatte tiefe Wurzeln in der Seele des Verarmten geschlagen und war stärker und schwärzer geworden im Lauf der Jahre, bis in diesem Sommer . . . Aber, „shocking“ tönt es da plötzlich wieder in seine eben freundlicher werdenden Gedanken – und mit einem leisen Schauder muß er der Scene gedenken, in der er es zum letzten Mal vernommen . . .

Im Sommer waren es zwölf Jahre gewesen.

Ein schwüler Nachmittag – die Bäume in dem kleinen Vorgarten seiner Wohnung in der Matthäikirchstraße bewegungslos – die Luft bleiern. Er selbst sieht einem Falter zu, der mühsam einer Rose zuflattert – eine Schwalbe erhascht ihn im Fluge, eine Heuschrecke zirpt eintönig melancholisch, schwüler Jasminduft strömt ins Zimmer. Ihn überkommt ein schweres, unbehagliches Gefühl, wie alle nervösen Menschen vor dem Ausbruch eines Gewitters. – Da drückt man draußen mit Ungestüm auf die Glocke.

Der Diener meldet: „Miß Sikes.“

Miß Sikes tritt ein; Konrad kennt sie, die Erzieherin seiner Braut. Ihre augenscheinliche Erregung läßt ihn nichts Gutes ahnen. Er bittet sie, Platz zu nehmen – „to take place“, sagt er, und Miß Sikes erschrickt nicht über den Fehler, den er macht.

„Ich bringe Ihnen eine schlechte Nachricht,“ sagt sie in ihrer Muttersprache.

Konrad springt auf.

„Meine Schwiegermutter kränker – todt –“

Die Engländerin schüttelt den Kopf.

„Magdalene –“

Sie nickt.

Die Miß muß wahnsinnig geworden sein: seine Braut, die er gestern in voller, blühender Gesundheit verlassen, der er heute das übliche Bouquet gesendet, das sie mit dem gewöhnlichen Dank beantwortet hat.

„Unmöglich!“ sagt er bestimmt – „Friedrich hat vor einigen Stunden mit ihr gesprochen.“

„Und doch ist sie todt, todt für Sie, für die Ehre – und ich Unglückselige, die ich sie wie mein eigenes Kind geliebt habe, ich muß Ihnen diese Nachricht bringen.“

Konrad fühlt den Angstschweiß auf seiner Stirn, sein Herz hört auf zu schlagen.

„Was ist geschehen?“ murmelt er tonlos und wendet sich so, daß er das Bild Magdalenens von Langendorf, seiner Braut, das auf einer Staffelei in der Fensternische steht, betrachten kann.

Mechanisch vertieft er sich in den Anblick des unsagbar schönen, keuschen Mädchengesichts, das aus großen, wehmüthigen Augen zu ihm herübersieht, als wollte es durch einen bloßen Blick die furchtbaren Anklagen Lügen strafen, die eben die mütterliche Freundin, die Erzieherin, auf das schöne blonde Haupt schleudert.

„Sie hat Sie betrogen,“ sagte Miß Sikes nun ohne Umschweife, „mit dem leichtfertigen Maler, den Sie uns brachten, der jenes Bild dort malte.“

„Fräulein Sikes, Sie verleumden,“ ruft Konrad, seiner selbst nicht mächtig. „Sie sprechen von meiner Braut und von meinem besten Freunde.“

„Ich spreche von dem Wesen, das ich in der verdorbenen Luft seines Elternhauses emporwachsen sah wie eine reine Lilie, das ich als Kind beten lehrte, das der Liebling meines einsamen Herzens geworden ist – dem Geiste nach mein Kind – ein süßes, gottbegnadetes Geschöpf . . . “

Ihre rauhe Stimme bricht in der Erregung.

Konrad ist wie ein Träumender.

Noch ist draußen der Sturm nicht losgebrochen, nicht das Gewitter, das Blüthen und Zweige tödten wird – eine unheimliche Stille in seinem Innern wie draußen.

Es sagt ihm etwas, daß das gebrochene alte Mädchen neben ihm die Wahrheit spricht – eine entsetzliche Wahrheit, die jede Fiber seines Wesens sich sträubt, zu glauben.

„Sprechen Sie!“

„Es muß unseliges Erbtheil des Blutes sein – ich kann es sonst nicht fassen, dear Sir. Ich bin nur ein armes, weltfremdes Mädchen, mein Leben ist im Dienst der Familie hingegangen, in der ich viel Trauriges erlebt habe, und ich bin wenig mit Männern in Berührung gekommen, aber dieser elegante Herr Lemberg war mir ein Abscheu von dem ersten Besuch an, den er bei uns machte, obgleich ich gegen sein Englisch und seine Manieren nichts einwenden konnte.“

„Ich weiß,“ murmelt Konrad, „Sie mochten ihn nie, und er und ich haben oft darüber gescherzt.“

„Ich mochte ihn nicht, weil er Magdalene mit verzückten Augen ansah, weil er ihre Schönheit nicht genug loben konnte, ihr ins Gesicht hinein, als ob er von irgend einer Sache spräche, die Ihre Braut gar nichts anginge. – Sie nannten das lachend ‚Künstlerenthusiasmus‘, und mein armes Kind, das sich anfangs gegen diese Huldigungen gesträubt hatte, fing an, Gefallen an dem Weihrauch zu finden, sie fing an, zu erstaunen, daß Sie, ihr Bräutigam, diese vielgerühmte Schönheit nicht mehr bewunderten, und das mag wohl der Punkt gewesen sein, an den der Elende anknüpfte, um Sie ihr zu entfremden. Dann die langen Sitzungen zu dem Bilde, bei denen ich nicht immer zugegen war, meiner Unterrichtsstunden wegen, und Frau von Langendorf nicht, weil sie zu angegriffen war.

‚Liebe Sikes,‘ sagte sie mir eines Tages, ‚wäre es nicht möglich, daß Sie öfters bei diesen Sitzungen sein könnten? Sie sprechen da drinnen schauderhaftes, gotteslästerliches Zeug. Er scheint ein furchtbarer Freigeist zu sein, und Magdalene ist neuen Gedanken so zugänglich. Auch macht er ihr meiner Meinung nach zu sehr den Hof, was sie freilich bestreitet …‘

Ich war entsetzt. Wenn Marie Langendorf in ihrer stumpfen Art dergleichen bemerkte, mußte es weit gekommen sein. Ich gab die Vormittagsstunden auf und nahm meinen Posten bei dem [495] armen Kinde wieder ein. Zu meiner Beruhigung schwatzte Herr Lemberg wohl viel von der ‚höchsten Subjektivität‘, von dem Recht des Einzelnen, sich auszuleben, ohne Rücksicht auf lächerliche, zopfige Schranken, aber Magdalene schwieg meistens dazu oder warf nur hier und da ein verwundertes Wort dazwischen, wenn er es gar zu arg machte. Sie sah melancholisch aus, wie auf ihrem Bilde dort –“

Konrad erhebt sich und dreht es schweigend um.

„Träumerisch, als ob sie kaum hörte, was er mit ihr sprach. Er dagegen – nun, seine Beschäftigung gab ihm ja Gelegenheit genug, sie nach Herzenslust in seiner dreisten Art anzustarren. Das Bild war dann fertig und wurde nach seinem Atelier geschafft, wo Sie damit überrascht werden sollten. Er hatte uns alle eingeladen, Sie erinnern sich wohl – Sie holten uns ab und wunderten sich über Magdalenens scheues, erregtes Wesen.“

„Sie war immer kühl und scheu wie ein Vögelchen – ich liebte das so an ihr,“ sagt Konrad.

Miß Sikes nickt. „Dann die Ueberraschung, die Freude, die Sie bei dem Anblick des Bildes hatten. Sie konnten sich gar nicht davon trennen, Sie blieben an der Staffelei stehen und hörten nicht auf, zu danken und zu bewundern. Wir sahen uns unterdessen im Atelier um, und Lemberg zeigte uns die Farbenskizze zu einer Ophelia.

‚Ich erlaubte mir, der ‚holden Maienrose‘ Ihre Züge zu geben,‘ sagte er zu Magdalenen, ‚natürlich nur für mich, nur um einmal den Genuß zu haben, Idee und Ausführung vereinen zu dürfen. – Ich habe es auch schon begonnen,‘ fügte er dann zögernd hinzu und drehte das schöne Bild um, das uns einen Ausruf des Entzückens entlockte, auf den auch Sie zu uns kamen – wissen Sie?“

„Natürlich,“ sagt Konrad, „es ist ein Meisterwerk, Farbe, Stimmung, Technik – alles berückend. Ich konnte ihm nicht einmal zürnen, daß er der Ophelia, die den Stamm der Weide umklammert hält und noch einmal gedankenverloren aufblickt, Magdalenens holde Züge gegeben hatte.“

„Das Bild ist seit heute in der Kommandantenstraße ausgestellt –“

Konrad fährt zurück. Das berührt ihn augenblicklich noch empfindlicher als der erste ungeheure Schlag, der fast betäubend gewirkt hatte.

Er springt auf wie ein Rasender, er schreit, murmelt, Thränen des Zorns strömen unaufhaltsam aus seinen Augen – er ist besinnungslos vor Leidenschaft.

Miß Sikes sitzt regungslos in ihrem Stuhl und läßt den ersten Sturm austoben.

Auch draußen ist das Gewitter losgebrochen. Ein pfeifender Windstoß schüttelt die Bäume, der Straßenstaub wirbelt auf und hüllt in einem Augenblick alles in seinen häßlichen, grauen Mantel. Dann zuckt ein Blitz und gleich hinterher kracht der Donner, als ginge die ganze Welt aus den Fugen.

Muß sie denn nicht auch untergehen – können die Tage in gleicher Weise, mit gleichem Sonnenschein und Regen kommen und gehen; können noch mehr Menschen von Freundschaft und Liebe träumen und jäh aufwachen und Staub und Schmutz das Höchste, Beste umhüllen sehen, was Herz und Seele gleich liebten?

Er lacht häßlich auf, so daß Miß Sikes scheu die Hand auf seine Schulter legt.

Konrad fährt sich über die feuchte Stirn.

„Es war der erste Schreck, Miß Sikes,“ sagt er dann in einem häßlichen ironischen Ton. „Im übrigen, ich bin Advokat und komme oft mit dergleichen Unsauberkeiten in Berührung, Ehescheidungsprozessen und solchen Dingen. – Warum soll ich nicht auch selbst erleben können, worüber ich manche Akten vollgeschmiert habe. Es ist doch alles wahr?“ schreit er plötzlich auf.

Miß Sikes reicht ihm mit thränenüberströmtem Gesicht den Goldring, den er an dem schlanken Finger seiner Braut so oft geküßt.

„Hier einen Brief von ihr. Er ist für einige Tage verreist und stellt sich Ihnen nachher zur Verfügung. Ich habe beide gesprochen. Sie haben von zwingender Leidenschaft geredet, der sie zum Opfer gefallen, – daß sie zu einander gehörten, daß sie sterben würde, wenn Sie auf Ihren Rechten bestünden –“

„Phrasenkram!“ sagt Konrad verächtlich. „Wie hat er wagen können, das Bild auszustellen!“

„Magdalene hat gewünscht, Sie auch äußerlich einer vollendeten, unabänderlichen Thatsache gegenüber zu stellen.“

Konrads Gesicht wird fahl.

„Es war die Veranlassung zu der auch mich niederschmetternden Aussprache. Lemberg wollte heute zu Ihnen, Magdalene aber beschwor ihn mit einer Leidenschaftlichkeit, deren ich sie nie für fähig gehalten hätte, Sie erst nach einigen Tagen zu sprechen, – und ich war schließlich schwach genug, die Aufgabe zu übernehmen, einem Gentleman einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. – Sie fleht Sie in diesem Brief wohl um Ihre Verzeihung und um Schonung für ihren Liebhaber an, – sie wurde halb ohnmächtig in dem Gedanken an ein Duell.“

Miß Sikes spricht hastig, ohne Betonung, und sieht mit Blicken voller Todesangst zu Konrad auf, der den Brief in den Händen hält.

„Arme Miß Sikes,“ sagt er, „so wohlanständig in Ihren Gesinnungen, und Sie haben sie so geliebt! – Fürchten Sie nichts – das Eiserne Kreuz, das ich bei Vionville errang, sichert mich vor der Berührung mit einem Schuft, die Sie andeuten. Hier Fräulein von Langendorfs Brief. Ich wünsche, von den üblichen Phrasen verschont zu werden, – ich will von dem Herrn, der mein bester Freund war, nie mehr etwas hören, – ich kenne weder ihn noch seine Geliebte, noch irgend etwas, das auf die beiden Bezug hat. Sie können das gar nicht genug betonen, Miß Sikes. Ich werde Fräulein von Langendorf den Uebergang durch eine Reise erleichtern, die ich sofort antrete. Hier mein Ring, – das Bild und die Briefe des Fräuleins folgen. Ich bitte die meinen unter meiner Adresse in dem Bureau meines Bruders niederzulegen.“

Miß Sikes erhebt sich. Ihre mühsam behauptete Fassung schwindet.

„Shocking, shocking, shocking,“ ächzt sie und schwankt nach der Thür, die Konrad ihr höflich öffnet, seinem Diener den Befehl gebend, der Dame einen Wagen zu besorgen, des heftig strömenden Regens wegen.

„Wollen Sie meine Hand nehmen, Mr. Herrendörfer?“ fragt das alte Mädchen in der Thür.

„Aber gewiß, Miß Sikes,“ sagt Konrad zerstreut, – und dann einer plötzlichen Eingebung folgend, beugt er sich auf die dargebotene Hand und küßt sie. Miß Sikes zieht sie zurück, ergreift dann noch einmal die seinige und drückt sie heftig.

„Leben Sie wohl, Miß Sikes –“ dann schließt sich die Thür hinter ihr und dem schönen Jugendtraum, der nach dem Erwachen einen so schalen, widerlichen Nachgeschmack zurückließ!

Und da war er wieder, dieser böse Nachgeschmack, als Konrad Herrendörfer mit plötzlichem Gedankensprung des Gegenwärtigen gedachte. – Liebte Gertrud Hein ihn denn auch wirklich? Wenn es ihm damals nicht gelungen war, ein Mädchenherz festzuhalten, um das er in stürmischem Jugendfeuer geworben, würde er jetzt in reiferen Jahren, nachdem die eigentliche Jugend vergangen war, Kraft genug besitzen, das so viel jüngere Mädchen für ein Leben an sich zu fesseln?

Bange, beunruhigende Zweifel stiegen in ihm auf. Einen Augenblick flüsterten sie ihm sogar zu: Vielleicht ist Gertrud beeinflußt, vielleicht hat man ihr erzählt, daß du ein wohlhabender, ein reicher Mann bist, – doch nein, wie niedrig, wie widerwärtig war dieser Gedanke, nein und tausendmal nein, es war seine Person, die das junge, liebreizende Geschöpf vom ersten Augenblick angezogen hatte! – und wie ein unverdientes Geschenk kam ihm jetzt ihre warme, reiche Liebe vor, die er mit so inniger Neigung erwiderte.

Er hatte mit einem Gefühl stillen Glücks schon bei ihrer ersten Begegnung empfunden, daß ein wunderlicher Zug zwischen ihm und diesem jungen Mädchen bestünde, ehe sie nur ein Wort zusammen gesprochen hatten.

Sie hatten einander gegenüber gesessen bei der Table d’hote eines Hotels in Sassenitz, sie in größerer Gesellschaft, er ein einsamer Reisender, dem der Zufall den Platz gegeben, den er nun hatte. – Er war dieses Zufalls froh gewesen; das junge Mädchen ihm gegenüber hatte ihm gefallen. Lange war ihm kein so frisches, liebes Gesicht begegnet, in dem sich so viel Erwartung und Lebensfreude aussprachen. Sie war keine Schönheit und doch mehr als das. Je länger er hinblickte, desto deutlicher erkannte er es, und bald schien es ihm, als ob er nichts Reizenderes gesehen hätte [496] als diese fragenden grauen Augen unter fein gezeichneten dunklen Brauen, dieses frische bräunliche Kolorit und diese Fülle braunen Haares, das der herrschenden Mode entgegen in schweren Flechten im Nacken lag. Eine gelbe Rose war leicht darin befestigt und eine gleiche schloß den hohen Kragen ihres einfachen dunkelblauen Leinenkleides, – sonst trug sie keinen Schmuck. Konrad studirte das alles genau, wie es seine Gewohnheit auch bei andern Personen war, die ihm durch irgend etwas auffielen. Freilich, ein so herzerquickender Eindruck war ihm lange nicht geworden, und er fand nichts, gar nichts an dem jungen Mädchen, worüber er sich hätte aufhalten können.

Sie sprach lebhaft, ohne auffällig zu sein, wurde geneckt und neckte wieder, sah sich die Hotelgäste unbefangen an und amüsirte sich augenscheinlich köstlich. Eben sagte der junge Herr, der bei ihrer Gesellschaft war, gewiß etwas Komisches, denn sie lachte laut und so fröhlich, daß ihrem Beobachter warm ums Herz wurde.

Und da traf ihn ihr Blick – ihr Lachen verstummte, und sie sah noch einmal nachdenklich und erstaunt zu ihm hinüber, dann während der folgenden Gänge nie wieder. Sie war auch nicht mehr so heiter und wußte die Neckereien, die man an sie richtete, nicht mehr so schlagfertig zu erwidern wie vorher.

Liebes, reizendes Geschöpf! Konrad Herrendörfer fühlte ihn wieder in sich lebendig werden, den in der Jugend so unversieglich sprudelnden Quell der mittheilsamen Liebe zu andern. So erklärte er sich anfangs sein Wohlgefallen an dem reizenden Mädchen.

Nach Tisch erkundigte er sich nach seinem Gegenüber: der alte Herr war ein Kollege, ein Jurist aus der nahe gelegenen Provinzialhauptstadt, die alte Dame seine Frau und die junge eine Verwandte. Die übrigen wurden ihm auch mit Namen genannt, doch kümmerten sie ihn nur insoweit, als er den Bekannten irgend eines Bekannten unter ihnen entdeckte, der ihn dem kleinen Kreise vorstellen konnte.

Und dann die folgenden Tage! – Mit Behaglichkeit malt Konrad sie sich jetzt aus, und jeden Ausflug, jedes gemeinschaftliche Mittagessen, jedes Beisammensein mit dem lebensfrischen, klugen, heitern Mädchen, das geradezu belebend auf den fast Blasirten einwirkte.

Ihre Lebensgeschichte hat er bald erfahren. Sie ist einfach genug und spielt sich in engem Kreise in der Stadt ab, die Konrad nun eben aufgesucht hat. Ihr Vater, ein höherer Baubeamter, ist ihre einzige Schwärmerei, die Mutter ist früh gestorben, sie erinnert sich ihrer kaum.

Konrad hört von einem einfachen, aber traulichen Heim, dessen Herrscherin sie ist, von vielen Freundinnen, – von ernsten Studien und heiterer Geselligkeit, und alles, was Gertrud Hein ihm vorplaudert, ist von ungeheurer Wichtigkeit. Das Leben zeigt sich ihm von einer andern Seite, er glaubt wieder an eine glückliche Zukunft, und ehe er sich recht klar geworden ist über alles, was ihn bewegt, spricht er das entscheidende Wort, als er wahrnimmt, daß auch andern das junge Mädchen begehrenswerth scheint wie ihm.

In einen Rausch des Entzückens versetzen ihn wieder die damals gesprochenen Worte Gertruds, Worte, aus denen ihre Liebe zu ihm blickt, wahr und aufrichtig.

Wie so ganz anders als damals!

Und nun faßt ihn von neuem ein unbeschreiblicher Widerwille gegen die Thatsache, daß man dergleichen zweimal erleben kann, – zweimal werben um verschiedene Frauen, – beide gleich werth halten, das Leben mit ihnen zu theilen.

Und wie er sich wieder die Umstände ausmalt, die seine Werbung um Magdalene von Langendorf begleiteten, und alles, was dann folgte und was seither wie ein Wurm an ihm genagt hat, da sagt er sich, mit einer Anwandlung zugleich körperlicher Schwäche, daß selbst sein neues, junges Glück nicht Stich hält gegen die bittere Erfahrung seiner Jugend und die schwermüthige Empfindung, welche die heutige Begegnung, diese Stimme aus der Vergangenheit, in ihm wachgerufen hat.

Aus der frohen, erwartungsvollen Stimmung, die ihn die Wochen seit seiner Verlobung erfüllt hat, fällt er wieder in seine gewöhnliche, halb fühllose, halb düstere Stimmung des blasirten Lebemannes.

Und so geht er hinunter und macht sich einem kleinen Kreise anscheinend gleichgestimmter Herren bekannt, die im Speisesaal zusammen sitzen.

Es ist eine Gesellschaft, an die er gewöhnt ist, ältere Junggesellen, die sich Lebenskünstler nennen, die gastronomische Studien für die einzig wahren halten und für das wahrhaft Edle und Ideale, für Frauenwürde längst das Verständniß verloren haben – und in rücksichtsloser, ja roher Weise wird die Unterhaltung geführt.

Konrad ist nur zu bekannt mit diesem Ton, er ist ihm selbst sogar zur Gewohnheit geworden, wenn auch etwas in ihm sich beständig dagegen aufgelehnt hat. Auch heute nimmt er theil an den Gesprächen, die sich hier wie in seinem Klub in Berlin um dieselben Dinge drehen, er weiß selbst sogar noch gewagtere Schlagworte einzustreuen, um gleich darauf Ermüdung und Widerwillen zu empfinden.

Das Essen ist längst abgetragen, dem neuen Bekannten zu Ehren fließt Sekt, – und die Erzählungen werden so zugespitzt wie nur möglich.

Und Konrad betheiligt sich. Das gewohnte Treiben betäubt das häßliche „shocking“, die sentimentale Auffassung der Dinge, – und er ist ganz wie immer ein kühler, fast ermatteter Zecher, der den Schaum ohne Genuß schlürft, weil er den Becher oft bis auf den Grund geleert hat.

Wer ihn jetzt beobachtet, kann keinen günstigen Eindruck von ihm empfangen.

Und er wird scharf beobachtet, ohne daß er es weiß. Unter den von seiner Gesellschaft – die nicht daran gewöhnt ist, sich vor andern Zurückhaltung aufzuerlegen – nicht beachteten Gästen, die zum großen Theil in Zeitungen vertieft dasitzen, würde ihm vielleicht, wenn er um sich gesehen hätte, der ältere Herr aufgefallen sein, der nach einer kurzen Frage an den Oberkellner in seiner Nähe Platz genommen und ihn fortwährend im Auge behalten hat.

Eine fast ängstliche Spannung spricht dabei aus seinem edlen Gesicht, und je länger er hört, desto düsterer wird sein Blick, und als Konrad gerade eine sehr satirische, mit großem Beifall aufgenommene Bemerkung macht und ein Glas Champagner, dessen Schaum er eben geschlürft, in ein Wasserglas gießt und es sich neu füllt, – da wendet der alte Herr sich mit einer Bewegung des Widerwillens ab und verläßt den Speisesaal.

Das Gelage dauert indessen noch fort, und als nach einigen Stunden Konrad auf seinem Zimmer über den verflossenen Abend nachdenkt, da empfindet er deutlicher als je den bittern Nachgeschmack, dieses leise, aber nachdrückliche Gefühl des Abscheus vor sich, vor andern und vor der ganzen Existenz. – –

[510]
Nun war der folgende Tag gekommen. Ein Briefchen lag neben Konrad bei seinem Erwachen. Es war schon am Abend für ihn abgegeben worden, meldete der Kellner. Nur wenige herzliche Worte seiner Braut, die ihm mittheilte, daß ihr Vater eben zurückgekehrt sei und er nun am folgenden Vormittag kommen möge.

Es war nun doch eine eigene Erregung, die sich seiner bemächtigte. Nicht Bangigkeit, – dazu war er zu sehr daran gewöhnt, für eine „begehrenswerthe Partie“ gehalten zu werden. Es war eher eine gewisse Scheu, mit seinem Glück an die Oeffentlichkeit zu treten, und doch auch wieder Erwartung, den Schatz, den er erworben, nun aller Welt zu zeigen. Wenige Stunden noch, und er war Bräutigam, und der Telegraph brachte seinen nächsten Angehörigen die beglückende Nachricht.

Er malte es sich aus, welchen Eindruck sie machen würde. Freude, Staunen, ja ein wenig Neid und Aerger bei spekulirenden Müttern und Töchtern.

Dann setzte er die Verlobungsanzeige auf, und ein freudiger Schauer durchrieselte ihn, als er die beiden Namen nebeneinander schrieb . . . Alles Gute in ihm wallte mächtig auf, er überließ sich freudigen, zuversichtlichen Gedanken und sagte sich, daß er mit dem Einsatz seiner ganzen Person das junge Wesen glücklich machen werde, das so vertrauend und voller Liebe sich an ihn schmiegte.

In weicher und gehobener Stimmung trat er den Weg an, und an dem bekannten Hause angelangt, sah er pochenden Herzens zu dem Fenster empor, an dem er gestern Gertruds liebes Gesicht entdeckt hatte.

Heute war es leer. Kam er zu früh? War es ein böses Zeichen? Auch auf dem Flur keine Spur von ihr. Ein freundliches Dienstmädchen führte ihn durch das trauliche Gemach, das ihm gestern so hold erschienen, in des „Herrn“ Zimmer …

Einen Augenblick darauf standen sich dann zwei gegenüber, die sich mit forschenden Blicken maßen.

Kein alter Herr, wie sich Konrad seinen künftigen Schwiegervater vorgestellt hatte, eher ein gleichalteriger, stattlicher Mann, der ihn mit Gertruds Augen fest anblickte.

Unwillkürlich regte sich in Konrad etwas wie Opposition unter diesem Blick. Der herzliche Ton seiner Stimme schwand, und klar, kühl trug er dem Herrn Baurath seine Bitte vor, „gegründet auf das Einverständniß mit dem Fräulein Tochter“. Er legte, ohne unterbrochen zu werden, seine fast glänzenden Verhältnisse dar, sprach von den Erkundigungen, die der Herr Baurath hier und dort einziehen könnte, und schwieg dann plötzlich, auf den schweren, schmerzlichen Seufzer, den sein Zuhörer ausstieß.

„Mein Herr,“ nahm der nun mit energisch klingender Stimme das Wort, „meine Tochter hat mir von der Liebe gesprochen, die sie für Sie empfindet, und das hat mich bewogen, Ihnen so lange ohne Unterbrechung zuzuhören. Ich muß Ihnen gleich bemerken, daß glänzende äußere Verhältnisse, wie Sie sie mir da schildern, keinen Reiz für mich haben und für Gertrud, hoffe ich, ebenso wenig. Der Mann, den ich meiner Tochter wünschte, sollte ein einfacher Mensch sein, der sich in behagliche, wenn auch beschränkte Verhältnisse hinein gearbeitet hat, denn solche Männer, das habe ich vielfach erfahren, sind es, die eine gewisse Gewähr für gute und schlimme Tage bieten.“

Konrad hörte mit Staunen zu. Wollte der Mann ihm Schwierigkeiten machen, weil er reich war und in seinem Beruf viel verdiente?

Er lächelte überlegen.

„Daß ich zufällig in der Lage bin, Ihrem Fräulein Tochter etwas mehr zu bieten als ein beschränktes Los, kann doch unmöglich ein Hinderniß in Ihren Augen sein,“ sagte er.

„Das nicht ganz,“ erwiderte Gertruds Vater entschieden. „Aber daß Sie durch Ihre Verhältnisse zu Lebensanschauungen geführt worden sind, die meinem Kinde fern liegen, – daß zu Ihren Gewohnheiten ein Ton gehört, der mir selbst unverständlich ist und es meiner Tochter stets bleiben soll.“

Konrad sprang auf.

„Ich verstehe Sie nicht,“ rief er erregt.

„Ich war gestern abend im ‚Deutschen Hause‘ und saß in Ihrer Nähe,“ erwiderte Herr Hein gedrückt. „Meine Tochter hatte mir gleich nach meiner Ankunft alles erzählt, und da trieb es mich, Sie zu sehen, womöglich kennen zu lernen . . . Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen werden, daß das ganze Wesen des Kreises, in dem Sie sich wohl fühlten, mir zuwider ist, meiner ganzen Natur und meinen Ansichten nach, so sehr, daß ich – verzeihen Sie! – es schmerzlich bedaure, daß die Wahl meiner Tochter auf Sie gefallen ist.“

Konrad wurde sehr blaß. Sein besseres Gefühl sagte ihm, daß der Mann recht habe, daß ein Vater, dem das Glück seines Kindes am Herzen läge, nicht viel Vertrauen zu ihm habe fassen können – und mit Blitzesschnelle flogen die gestrigen Unterhaltungen in seinen Gedanken vorüber. Er hätte dem Vater, der um die Zukunft seines Kindes bangte, sagen mögen, daß sein Herz weit ab von dem ganzen Treiben gewesen sei, daß er es im Grunde verabscheue – daß die Sehnsucht nach einem andern Leben an Gertruds Seite mächtig in ihm sei . . . aber steif und hochmüthig, wie er war, brachte er nichts von alledem über die Lippen. Nur mühsam stieß er hervor:

„Und Sie weisen mich ab wegen eines in lustiger Herrengesellschaft verlebten Abends – Sie lehrten Gertrud, mich durch Ihre Augen sehen, und sie denkt wie Sie?“

„Wäre das noch möglich, so würde ich uns beiden von vornherein diese peinvolle Unterhaltung erspart haben,“ erwiderte Gertruds Vater. „Aber meine Tochter liebt Sie“ – er sprach es mit Widerstreben aus – „ich kenne sie zu gut, um mich darüber zu täuschen. Andererseits aber habe ich wohl Rechte an ihren Gehorsam, soweit er sie im großen ganzen nicht in dem beschränkt, was sie nach reiflicher Ueberlegung für ihr Leben beschließen wird.“

„Was soll das heißen?“ fragte Konrad in ansteigendem Zorn.

„Daß ich einen Aufschub verlange, ein näheres Bekanntwerden, ehe ich meine Einwilligung zu einer Verlobung Gertruds gebe.“

„Und wie sollte das zu ermöglichen sein? Ich lebe, wie Sie wissen, in Berlin und bin so viel beschäftigt, daß ich außer den Ferien nicht daran denken darf, für längere Zeit zu verreisen. Andererseits können Sie Gertrud doch nicht für diesen Zweck nach Berlin senden und im übrigen“ – hier übermannte ihn die gekränkte Eitelkeit – „ich bin mir sehr wohl bewußt, was ich von meiner Frau verlange und was ich ihr zu bieten habe, und ich überschätze mich dabei nicht. Hätten Gertrud und ich außerdem nicht vom ersten Augenblick an unsere gegenseitige Zugehörigkeit empfunden – ich glaube nicht, daß ich mich noch einmal der Möglichkeit einer Abfertigung, wie ich sie eben erfahre, aussetzen würde.“

[511] „Ich zweifle nicht,“ entgegnete Hein finster, „daß Sie eine augenblicklich sehr heftige Neigung für mein Kind empfinden, und es leuchtet mir das sehr wohl ein bei dem Gegensatz, den sie wohl zu den Frauen bildet, mit denen Sie zu verkehren gewohnt sind. Aber vielleicht verdrängt bei nächster Gelegenheit –“

„Mein Herr,“ rief nun Konrad empört, „Sie vergessen sich! Ich gebe zu, daß der Ton, den ich gestern der Gesellschaft angemessen gebrauchte, nicht der beste war, aber darum Voraussetzungen auszusprechen, die einen Mann von Ehre und Gefühl aufs äußerste verletzen müssen, nenne ich den Vortheil mißbrauchen, den Sie im Augenblick einem Bittenden gegenüber haben.“

Er griff nach seinem Hut. Es schien ihm, als ob alles vorbei wäre und eine unüberbrückbare Kluft sich zwischen ihm und diesem Mann geöffnet hätte, dem doch die Entscheidung über sein künftiges Leben oblag.

Kein Wort hätte er mehr vorbringen können und er wäre in schroffer Weise aus dem Zimmer geschritten, wenn er nicht eine eigenthümliche Wahrnehmung gemacht hätte: die strengen Falten in dem Gesicht des Bauraths waren dieselben, aber die Augen, die eben noch so strafend und hart blickten, standen voll Thränen.

Da besann er sich plötzlich. Er streckte dem bekümmerten Vater die Hand entgegen und bemühte sich, aus seiner tiefen Bewegung heraus zu sprechen. Es wollte ihm nicht recht gelingen, aber wie sie so Hand in Hand da standen, trotz der eben noch feindlichen Gefühle, öffnete Gertrud die Thür und sah mit gespannten ängstlichen Blicken herein, um gleich darauf mit hellem Jubelruf den Vater zu umarmen.

„Ich ertrug es nicht länger,“ sagte sie. „Ihr wart plötzlich so still und mir wurde bange, aber ich wußte ja doch, daß Ihr einander verstehen würdet . . . Vater . . . Liebster . . .“ Und von heller Gluth übergossen, wendete sie sich Konrad zu, ihm halb zaghaft die Hand reichend.

Er hatte nicht oft so sehr das Bedürfniß empfunden, sie in die Arme zu nehmen, in leiser, friedlicher Zärtlichkeit ihr die strahlenden Augen zu küssen und ihr tausend liebe Worte zu sagen - aber er mußte sich ja bezwingen, und so trat er einen Schritt zurück, mit einer stummen Handbewegung auf ihren Vater deutend.

Bestürzt sah Gertrud zu diesem auf, und ein unbeschreiblicher Ausdruck verdunkelte ihr glückseliges Gesicht.

„Was bedeutet das?“ fragte sie zitternd – und Konrad glaubte zu bemerken, daß ein banger Blick voller Zweifel ihn streifte.

Da wallte der Zorn von vorhin wieder in ihm auf.

„Geprüft, gewogen und zu leicht befunden,“ sagte er bitter.

Gertruds Vater legte ihm die Hand auf den Arm.

„Besinnen Sie sich doch,“ sagte er, sein blasses Kind zärtlich ansehend. „Sie erschrecken meine Tochter und beleidigen mich fast mit Ihren Worten . . . Wir sind sehr verschiedene Menschen; Herr Rechtsanwalt Herrendörfer und ich, liebe Gertrud – und konnten nicht ganz einig werden, ob Eure Verlobung gleich zu veröffentlichen wäre . . . Ich wünsche das nicht, aus Gründen, die ich jetzt nicht näher erörtern kann – und ich hoffe, Du, mein liebes Kind, wirst Deinem Vater noch eine kleine Zeit gönnen, in der er Dich ganz für sich hat – da Du ihn ja doch einmal für immer verlassen willst.“

Was hätte Konrad in diesem Augenblick drum gegeben, wenn ein Blick, ein Wort der Auflehnung aus Gertruds Mund ihm geholfen hätte, die Kränkung zu überwinden, die in des Bauraths Bescheid für ihn lag!

Er wartete eine bange Sekunde und fühlte sich merkwürdig erkältet, als Gertrud mit ihrer klaren Stimme, in der eine leise Bewegung zitterte, sagte:

„Das ist wohl meine Pflicht, lieber Vater, wenn ich mir auch nicht denken kann, warum Du einen solchen Aufschub bestimmst.“

Und dann endlich traf Konrad ein Blick voll der alten Liebe, des kindlichen Vertrauens, der es ihm fast schwer machte, zu sagen, daß es eine harte Probe wäre, auf die man ihn stelle, daß er der Tochter weniger Bereitwilligkeit zugetraut hätte, wo es sich um eine unabsehbare Zeit des Fernseins von einander handelte. Was ihr Vater an ihm und seinen Verhältnissen auszusetzen hätte, würde sich in einer noch so langen Zeit nicht ändern, und es schmerze ihn tief, so ohne Gewißheit über ihr zukünftiges Leben zu seiner täglichen Arbeit zurückkehren zu sollen.

Gertrud hatte mit steigendem Schreck zugehört; als er schwieg, wendete sie sich an ihren Vater und sagte hastig:

„Du willst ihn fortschicken, Vater, ohne daß Du uns Deinen Segen gegeben . . . lieber Konrad – es ist ein Mißverständniß – ich begreife es nicht – sagt mir alles! warum sollen wir nicht glücklich sein? – wir haben uns doch so sehr lieb!“

„Dank für dies Wort, Gertrud!“ sagte Konrad aufathmend, „ich will es in Gedanken behalten, wenn ich mich jetzt dem Willen Ihres Vaters beugen und Königsberg verlassen muß, ohne daß wir seine Einwilligung erhalten haben.“

Er machte wieder eine Bewegung nach der Thür. Ein Angstruf Gertruds ließ ihn nochmals zögern.

„Wie lange können Sie im äußersten Fall bleiben?“ fragte der Vater mit bewegter Stimme.

„Diese Woche noch,“ sagte Konrad.

„Nun, dann bitte ich Sie, für diese Zeit nach Belieben unser Gast zu sein. Ich habe zwar eine kleine Reise vor, aber meine Schwester wird Dir in der Zeit meiner Abwesenheit Gesellschaft leisten, Gertrud – und Sie mögen meine Tochter besuchen – ohne daß das zwischen Euch bestehende Verhältniß berührt wird. Nach meiner Rückkehr, die in etwa drei bis vier Tagen erfolgen kann, soll dann alles geklärt werden.“

„Warum nur, warum nur?“ fragte Gertrud, ängstlich und verständnißlos bald den Vater, bald den Geliebten ansehend.

Konrad zuckte die Achseln, der Vater sagte:

„Weil es meine Pflicht ist, mit den Verhältnissen, in die Du treten sollst, bekannt zu werden.“

Mit einer kleinen Erleichterung hörte Konrad das halbe Einverständniß aus diesen Worten und empfahl sich, indem er der Einladung für den nächsten Tag Folge zu leisten halb widerwillig versprach. Gertrud reichte ihm dabei mit festem Druck die Hand, von dem Vater verabschiedete er sich mit förmlicher Verbeugung – Gertrud gab ihm nicht, wie gestern, das Geleite, und halb zornig, halb bedrückt ging er, ohne sich umzusehen, die lange Königstraße hinunter und nach seinem Hotel.

Gedemüthigt und enttäuscht vernichtete er seine Schreibübungen, die er am Morgen so frohen Muthes niedergekritzelt hatte, und je mehr er über das eben Erlebte nachgrübelte, desto zorniger und aufgebrachter wurde er.

„In meinem Alter gemaßregelt wie ein Schulbube,“ dachte er ingrimmig, „und weiß Gott wie alles noch endet! Natürlich will der Alte nach Berlin, um da persönlich Erkundigungen über den lockern Vogel einzuziehen“ . . . Das mochte er nur, Konrad war sich mit Stolz seines Ansehens bewußt und er freute sich ordentlich darauf, daß der gestrenge Herr ihm seine Entschuldigungen machen müßte wegen der herabwürdigenden Behandlung, die er ihm heute hatte angedeihen lassen.

Und dann mußte er über den Irrthum lachen, in dem er sich eine Zeit lang befunden hatte: daß seine gut geordneten reichen Verhältnisse auf den Vater dieser Tochter Eindruck machen würden – er mußte lachen, daß ihm, dem Vielbegehrten, Selbstbewußten, das begegnen konnte. Aber die augenblickliche Heiterkeit verging ihm bald wieder. Anstatt als erklärter Bräutigam Gertruds mit allen Vorrechten eines solchen bei dem geliebten Mädchen zu weilen, sollte er noch tagelang steif und förmlich mit ihr verkehren wie ein Fremder, nein, schlimmer als das, befangen in dem Gefühl, daß man sie mißtrauisch gegen ihn gemacht habe. Sie würde nun nicht mehr wie in den Wochen ihres früheren Verkehrs zu ihm aufschauen wie zu einem besseren und höheren Menschen – ihr Vater erklärte ja, daß er ihrer nicht würdig wäre.

Ein heißes Schmerz- und Zorngefühl wallte in ihm auf. Was war Gertruds Liebe ihm noch ohne jenes süße, reine Vertrauen, das ihm aus ihren schönen Augen entgegengestrahlt, das alle guten Gedanken und Eigenschaften in ihm geweckt, das ihn überselig gemacht und unbewußt die besten und edelsten Vorsätze in ihm hatte erstehen lassen!

Welche Grausamkeit und zugleich welche Unklugheit von dem Vater, in seinem Kinde dieses Vertrauen zu zerstören, ihr den in seinen Augen schönsten Schmuck zu nehmen!

Wie ängstlich Gertrud ihn angesehen hatte! – und lag nicht schon ein Zweifel an ihm in ihrem Gehorsam gegen den Vater?

[512] War das dasselbe Mädchen, das ihm gestern glückstrahlend, unbekümmert um alles andere auf der Straße entgegengestürzt war – und das heute ihm nicht einmal das Geleit gegeben hatte? Wie sie ihn morgen wohl empfangen würde, in Gegenwart der angekündigten Tante? Am liebsten wäre er gar nicht hin gegangen, aber am Ende war es dieser Familie gegenüber nicht angebracht, Empfindlichkeit zu zeigen. Er mußte die Sache wohl gehen lassen – und im Grunde konnte er sich ja gewiß jeder Prüfung unterwerfen, in der Voraussicht, daß ihm eine vollständige Ehrenerklärung von dem widerstrebenden Vater werden müsse.

Er war ein fleißiger, in seinem Beruf hochangesehener Mann, sein öffentliches, wie sein Privatleben lagen klar vor jedermanns Augen und er konnte sich sagen, daß er sich rein von den unter seinen Genossen üblichen Ausschreitungen gehalten – allerdings, nachdem er seine Erfahrungen gemacht und theuer bezahlt hatte.

Aber darüber waren Jahre vergangen. Damals, nachdem er so schändlich betrogen worden war, hatte er das von der Jugend vielgebrauchte, seelentödtende Betäubungsmittel eines sogenannten „tollen Lebens“ an sich probiert, aber seine starke Natur hatte widerstanden und er war nach kurzer Zeit in sein altes Geleise zurückgekehrt, das durch seine vornehmen zurückhaltenden Gewohnheiten fest eingedämmt war.

Auf solchem Wege führten seine Gedanken ihn wieder zu dem traurigen Erlebniß seiner Vergangenheit zurück, und dann fiel ihm auch die gestrige Begegnung wieder ein.

Auch jetzt dachte er nicht ohne eine gewisse Beklommenheit an die Möglichkeit eines Wiederbegegnens mit Magdalene . . . um sich gleich darauf über sich zu ärgern. Was kümmerte ihn heute jene Frau, die ihn schamlos betrogen hatte, heute, wo ein junges, reines Mädchen bereit war, sein Weib zu werden?

Ja, war sie denn bereit dazu? . . . Alle Wetter, da war er wieder auf dem Ausgangspunkt seines Grübelns, und er wollte nicht grübeln, es konnte ihn nur erbittern und verstimmen. Und er war seit dem „shocking“ von gestern abend niedergedrückt genug. Hatte dieses Erkennen und dieses Erinnern ihn nicht zudem in die leichtsinnige Gesellschaft geführt, in der Gertruds Vater ihn beobachtete? Er hatte es sich gleich gedacht, es war ein böses Zeichen gewesen, es hatte ihm Unglück gebracht, dieses abscheuliche shocking.

Und wieder, während des ganzen öden Tages, den er zwecklos und grüblerisch verbrachte, beunruhigte es ihn; – er sah die Gestalt der alten Miß vor sich und endlich gar, in der langen, schlaflosen Nacht, kam ihm plötzlich der Wunsch, sie wiederzusehen. Erst verwarf er ihn – welcher Gewinn sollte ihm daraus erwachsen? Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Gründe fand er, ihn für entschuldbar, natürlich und endlich leicht ausführbar zu halten.

Im Grunde war es ja geradezu Schicksalsstimme, die ihn nachzog. Schon hatte seine Braut ihm von einem gewissen Zusammenhang mit der Engländerin erzählt – übrigens merkwürdig, wie die Welt klein war – suchte er sie nicht selbst auf, so traf er sie vielleicht zufällig, und das wäre ihm weniger angenehm, als wenn er sie besuchte . . . „Doch wozu all diese Scheingründe,“ sagte er sich schließlich ärgerlich, „ich habe eben den Wunsch, die gute, ehrliche Sikes einmal zu sehen, und überflüssige Zeit, diesem Wunsch gerecht zu werden, habe ich wahrlich auch.“

Entschlossen ließ er sich beim Morgenkaffee das Adreßbuch geben und notierte sich die Adresse der Miß Sikes, Sprachlehrerin, Hintertragheim.

In einem schiefwinkeligen, düstern Zimmer, dessen Fenster auf einen von hohen Mauern umgebenen Hof sah, saß Miß Sikes und korrigierte Hefte. Sonst war das ihre Abend- oder besser gesagt Nachtbeschäftigung, denn es wurde oft zwei Uhr und darüber, ehe die scharfen kleinen blauen Augen sich zur verdienten Ruhe schlossen.

Heute war durch die Absage einer Schülerin eine freie Stunde auf die Mittagszeit gefallen, die konnte gut verwendet werden. Das zu korrigierende Häuflein Hefte wurde immer kleiner. Befriedigt blickte die alte Engländerin darauf hin, dann lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und legte die Hand über die leise gerötheten Augen.

In die vorhin nur durch das Geräusch ihrer korrigierenden Feder unterbrochene Stille drang jetzt aus dem Nebenzimmer kreischendes Vogelgeschrei.

„Garstiges Thier,“ dachte die Engländerin – aber was war da zu machen: Magdalene liebte ihn so sehr, sie sprach mit ihm, erzählte ihm von ihren Träumen . . . arme, arme Magdalene!

Eine zärtliche Sehnsucht nach ihrem Schmerzenskind ließ sie von ihrem Arbeitsplatz aufstehen und die Thür zu dem Nebengemach öffnen.

Seufzend blickte sie hinein, seufzend, obgleich Glanz, Blumenduft und Behaglichkeit aus dem geräumigen Zimmer in ihre dunkle Arbeitsstube geradezu strahlten.

Da standen in sinnigster Anordnung bequeme und doch zierliche Möbel, denen man die Sorgfalt, mit der sie ausgesucht waren, ordentlich ansah. Stück für Stück hatte Miß Sikes sie erworben, mühsam zusammengespart und mit so feinem und besonderem Geschmack gestellt, als ob sie sich in diesem hellen, freundlichen Zimmer für alle Dunkelheit und Unbehaglichkeit ihres übrigen Daseins hätte entschädigen wollen. Und doch waren es nur wenige Augenblicke in ihrem arbeitsvollen Leben, die sie in diesem Blumengarten zubrachte, und Freude und Erholung fand sie nicht in ihnen.

Ihr trauriger Blick streifte die dem Eingang gegenüber in einem niedrigen Sessel liegende Frau, die den schreienden Papagei neckte.

Welche Formvollendung in diesem herrlichen Körper, welch hinreißende Schönheit in diesen Zügen, gleich auffallend in Form und Farben! Dazu dieses volle wellige Goldhaar, in schweren Flechten den kleinen Kopf schmückend! Nun wendete sie ihn, – und der Ausdruck des Entzückens in den Augen der alten Lehrerin wich dem der tiefsten Trauer.

Die wundervollen blauen Augen hatten einen irrenden, träumenden Blick, um den kleinen, schöngeschnittenen Mund lag ein eigenthümlich schlaffer, müder Zug, der es deutlich erkennbar machte, daß eine kranke Seele in dieser schönen Form sich barg.

Miß Sikes fuhr sich mit der magern Hand über die Augen, – ihr Eintritt war nicht bemerkt worden, so ging sie denn, ohne die Thür zu schließen, an ihren Tisch zurück und verscheuchte die trüben Gedanken, indem sie einen fehlerhaften Satzbau in dem gerade vor ihr liegenden Heft mit dicken, rothen Strichen und großen Buchstaben rügte.

Da klang draußen die Glocke, – Miß Sikes horchte danach und stand langsam auf, um die Thür zu dem Nebenzimmer zu schließen.

Ein Blick auf die ihr von dem Mädchen gebrachte Karte ließ sie in ihrem Vorhaben innehalten. Mit ungläubigem Staunen las sie:

„Konrad Herrendörfer, Rechtsanwalt und Notar“, und mit Mühe brachte sie ein „ich bitte“ als Bescheid auf die stumme Frage des wartenden Mädchens hervor. –

Das also war Konrad Herrendörfer, den sie in blühender Jugendfrische so oft gesehen hatte, dessen letzter Anblick, obgleich viele Jahre darüber vergangen waren, ihr in dauernder, schrecklicher Erinnerung geblieben war!

Der sehr schlanke, etwas überlegen dreinschauende, nicht mehr ganz junge Mann erinnerte sie wenig an den ihr bekannten Konrad Herrendörfer, den sie wie verlegen und staunend in ihrem Gast suchte und auf dessen Anrede sie wartete.

Konrad selbst empfand in dem Augenblick, in dem er dem alten Mädchen gegenüberstand, daß er es besser unterlassen hätte, sie wieder aufzusuchen.

Er sah an ihrer mühsam behaupteten Fassung, an der wechselnden Farbe des unverändert gebliebenen Gesichts, daß sein Kommen einen peinlichen Eindruck gemacht hatte; die beiderseitige Wohlerzogenheit machte dann dem sekundenlangen Schweigen ein Ende – sie reichten sich die Hände und Miß Sikes führte ihren Besuch zu dem alten, mit Leder bezogenen Sofa in der Ecke.

Darüber kamen sie an der offenen Thür vorbei. Die blonde Frau stand einen Augenblick im vollen Sonnenlicht in all ihrer berückenden Schönheit vor ihnen . . . Miß Sikes schloß leicht zusammenfahrend die Thür und sah ängstlich nach ihrem Gast, der sehr blaß geworden und seinem Gesicht einen möglichst unbefangenen Ausdruck zu geben bemüht war.

[527]
Es war ein Fehler, Miß Sikes, daß ich Sie hier aufsuchte,“ sagte Konrad mit leiserer Stimme als gewöhnlich. „Natürlich ahnte ich nicht … ich bin vorübergehend hier und glaubte, Sie gestern gesehen zu haben. Verzeihen Sie mir, es war eine sentimentale Regung, – ich dachte wohl auch –“

„Entschuldigen Sie sich nicht,“ sagte Miß Sikes lebhaft. „Sie machen mir eine große Freude. Es waren glückliche Zeiten, als wir uns kennen lernten, – und heute ist es mir eine Genugthuung, daß Sie nach so vielen Jahren noch an das alte Mädchen denken, das damals – doch nichts von damals! Auch ich erinnere mich, daß ich Sie gestern auf der Straße gesehen habe, wenn ich Sie auch nicht erkannte.“

Konrad war tiefer bewegt, als er zeigte. Eine feine Röthe bedeckte sein Gesicht, er hörte noch nicht recht auf die Worte Miß Sikes’, seine zerstreuten Blicke suchten die nun geschlossene Thür, und je mehr er die äußere Ruhe zu bewahren suchte, desto größer wurde der Aufruhr in seinem Innern.

Ob Miß Sikes seinen Zustand ahnte?

Sie sah ihn forschend an in der Hoffnung, von ihm zu hören, was ihn eigentlich hierher geführt hatte.

Daß es hauptsächlich der Wunsch gewesen war, der Zeugin seiner einstigen Niederlage, nun sie zufällig anwesend war, sein junges Glück zu zeigen, war ihm selbst nicht ganz bewußt gewesen, im Augenblick hätte er gar keinen Grund anführen können. Er hatte alles vergessen, sein Herz schlug stärker und alle seine Gedanken weilten in dem Zimmer, in dem ein kurzer Blick ihn die Jugendgeliebte hatte erkennen lassen.

„Arme, arme Magdalene!“ brach nun die Engländerin das Schweigen. „Sie haben sie gesehen und erkannt?“

Konrad nickte.

„Ist sie zu Besuch bei Ihnen?“

„Sie ist meine Tochter, mein Alles, Glück und Unglück zugleich, seit sie von jenem Elenden in Noth und Jammer verlassen worden ist.“

Konrad sprang auf.

„So mußte es kommen,“ rief er voll Erregung, – „so hat das Schicksal mich gerächt“ … und alles, was der Verrath des Mädchens ihm genommen hatte, stand einen kurzen, bittern Augenblick vor seiner Seele.

„Erzählen Sie mir!“ bat er hastig, – „aber ich möchte nicht mit ihr zusammentreffen.“

Miß Sikes schüttelte den Kopf.

„Das haben Sie nicht zu fürchten. Sie betritt dieses Zimmer nie ungerufen; ich gebe meine Stunden hier und hüte sie sorgfältig vor jeder Berührung mit Fremden, denn in dem noch so entzückend schönen Körper wohnt eine kranke Seele.“

„Sie hängt noch immer an jenem Elenden?“ fragte Konrad.

„Mit jedem Gedanken, soweit ihr Zustand ihr das erlaubt – sie ist geisteskrank.“

Da fuhr Konrad erschreckt zusammen. Das lebhafte, hinreißend schöne Mädchen, an dem er mit der ganzen Gluth einer vollen ersten Liebe gehangen hatte, schlimmer als nur todt, – vor der Zeit geistig gestorben – und noch so jung und noch so schön! – Der eine Blick vorhin hatte ihm den ganzen Zauber noch einmal vor Augen geführt, dem er so viel geopfert hatte.

„Wie ist das geschehen?“ fragte er tief bewegt. „Können Sie darüber mit mir sprechen? Ich beklage die Aermste und ich nehme gern die mir unwillkürlich entfahrene Aeußerung über die gerechte Strafe des Schicksals zurück.“

Miß Sikes wiegte bedächtig den grauen Kopf.

„Sie hatten wohl ein Recht dazu, bester Herr, von Ihrem Standpunkt aus … und doch nein! Ich habe mich damals selbstredend auf Ihre Seite gestellt, ich habe dem armen Mädchen die bittersten Vorwürfe gemacht, aber heute sehe ich, daß es ungerechte waren. Die Tiefe ihres späteren Leidens hat mir begreiflich gemacht, daß sie damals unter dem Zwang einer Gewalt handelte, gegen die sie machtlos war, die sie damals schon überwältigt haben würde, wenn sie ihren Willen nicht durchgeführt hätte. Sie waren nach den landläufigen Ansichten von dem armen Mädchen beleidigt, im Grunde war es aber nicht sie, sondern ihr Schicksal, das, indem es ihre eigene Vernichtung vorbereitete, auch Ihnen einen hoffentlich bald überwundenen Schmerz bereitete.“

Konrad nickte stumm, wenn er auch mit Recht hätte widersprechen können.

„Sie muß damals schon wahnsinnig gewesen sein,“ fuhr die alte Miß fort. „Das habe ich später klar gesehen. Dieses leidenschaftliche ungleiche Wesen – sonst ihrer Natur fremd – sobald es sich um den Elenden handelte, dieses Erröthen und Erblassen in seiner Gegenwart, diese bald scheue bald schrankenlose, ich muß wohl sagen unpassende Zärtlichkeit dem Mann gegenüber, der bald nicht mehr der aufmerksame Liebhaber war, diese vollkommene Unterwerfung unter seine abscheulichen, freigeistigen Ideen, – das alles kann nicht mehr gesund gewesen sein. Denken Sie sich, daß der Abscheuliche nicht einmal eine kirchliche Einsegnung gestattete und daß sie, mein frommes Kind, ohne weiteres in eine nur standesamtliche Trauung willigte! Doch was spreche ich darüber! Der gewaltsame Bruch mil Ihnen, dem sie sich doch aus freier Wahl, ohne jede Beeinflussung verlobt hatte, ist ja schon allein ein Beweis für das, was sich in ihrem Geist vorbereitete, wenn auch damals noch nicht erkennbar.“

Konrad mußte lächeln, obgleich er wieder einen nachträglichen, dumpfen Haß gegen den einst so geliebten Freund empfand. Die schranken- und bedenkenlose Liebe eines Weibes nannte dieses alte Mädchen, das das Zeitwort „lieben“ nur in seiner grammatikalischen [528] Bedeutung kannte – „Wahnsinn“. – Nun, er wußte es besser und empfand es als eine Beeinträchtigung seines Glückes, daß ihm eine solche schrankenlos hingebende Liebe nicht beschieden war. Schwankte nicht auch Gertrud zwischen ihrem Vater und ihm? – Magdalene hatte kein Schwanken gekannt; die sonst so Schüchterne, Sanfte hatte sich nicht gescheut, ihn tödlich zu beleidigen und ihre ganze sichere Existenz zu opfern, um dem Mann ihrer Liebe folgen zu dürfen. Diese Liebe war ihr Verhängniß geworden, aber sie hatte ihm nicht entgehen wollen, – und als sie endlich sah, daß sie vergebens liebte, verlor sie den Verstand darüber.

„Wie erging es ihr weiter?“ fragte er gespannt.

„Traurig, wie es vorauszusehen war,“ erzählte Miß Sikes gedrückt. „Sie ging mit ihrem Verführer, der ja vor dem Gesetz ihr Gatte geworden war, nach Italien und schrieb uns erst sehr glückliche Briefe. Die wurden aber seltener, nachdem ein Kind geboren und kurz nach der Geburt gestorben war, – und hörten schließlich ganz auf. Das junge Paar führte ein regelloses Wanderleben, unsere Briefe kamen als unbestellbar zurück und wir blieben lange, lange Zeit ohne Nachricht.

Endlich, nachdem ich sie schon wie eine Todte beklagt hatte, – Frau von Langendorf war immer stumpfsinniger geworden und empfand den Verlust der Tochter kaum mehr, – traf wieder ein Brief von Magdalenen ein, wunderlich, verworren und immer auf die flehentliche Bitte zurückkommend, wir möchten verhindern, daß die ‚Tigerin‘ in der Kommandantenstraße ausgestellt würde.

Ich verstand den Wunsch nicht und ging nach der Ausstellung.

An demselben Platz, Herr, wo einst meine süße Magdalene als Ophelia traurig und rührend schön aus dem Rahmen geblickt hatte, stand nun ein Bild, für das mein Anstandsgefühl keine Worte findet, das selbst von unsern krassesten Realisten trotz der technischen Vollendung, mit der es gemacht war, beanstandet wurde: ein schönes, schwarzhaariges, dunkeläugiges Weib, frech, mit höhnischem Lächeln, schien es mir, auf mich sehend; bezeichnet war es als ‚die Tigerin‘ von Werner Lemberg.

Ich hatte keine Zeit, über den zweifellosen Zusammenhang zwischen diesem abscheulichen Bilde und meiner Magdalene zu grübeln, denn Frau von Langendorf erkrankte gefährlich. Ich meldete es Magdalene sofort an die von ihr angegebene Adresse nach Venedig, mußte aber gleich darauf der Aermsten telegraphisch mittheilen, daß ihre Mutter schnell gestorben sei. Sie konnte dann zur Beerdigung noch da sein.

Und sie kam. Aber in welchem Zustande! Welk, grau, hohläugig und wie eine Träumende. Sie that, als ob sie von einem Ausgange heimkehrte, begrüßte mich zärtlich, fragte kurz nach der Mutter, küßte gleichgültig deren kalte Stirn und verlangte zu schlafen.

Und sie schlief immerzu. Ich mußte die Mutter allein zur letzten Ruhe begleiten, – sie schlief und sprach im Schlaf. Und es war Schreckliches, was sie in ihren Traumworten offenbarte. Der Schurke mußte sie Entsetzliches haben leiden lassen, – die schlimmste Rolle spielte jene ‚Tigerin‘ in Magdalenens Phantasien – er hat sie eben wie eine Frau behandelt, der man keine Achtung und keine Rücksicht schuldet, was im Grunde ja auch nicht unverdient war. Aber daß er es that, hat mein armes Kind um den Rest des Verstandes gebracht.

Die Aerzte schüttelten den Kopf, hofften aber, daß durch verlängerten Schlaf Körper und Geist ins Gleichgewicht kommen würden.

Darüber traf ein Brief von Lemberg an Magdalene ein, den ich öffnete. Er war ein Meisterstück an Leichtfertigkeit und Verlogenheit und seinen Hauptinhalt bildete der Wunsch, Magdalene möchte nicht wiederkommen, – er müßte frei sein und könnte sie nicht brauchen. Er hätte nichts Nennenswerthes geschaffen, seit sie sein Weib wäre, und er müßte nun vorwärts, aber ohne sie, die sie eine Fessel auf dem Wege des Ruhmes für ihn wäre …

Das arme Kind hat den Brief nicht gelesen. Eines Tages erwachte sie mit dem lieblichen unschuldigen Lächeln ihrer Mädchentage. Als sie mich sah, nickte sie mir zu und fragte:

‚Bist Du auch da? Es ist ein seltsamer Traum und eine sehr lange Nacht, ich bin sehr verwundert, daß ich nichts mehr von Werner träume.‘

Und so ist es geblieben. Sie hat die Wahnvorstellung, daß alles um sie ein Traum sei, – aber sie werde bald aufwachen, der geliebte Mann werde sie erwecken, und sie werden zusammen über das viele dumme Zeug lachen, das ihr im Traum eingefallen ist.

Sie nimmt alles gleichmüthig hin. Sie ist sanft wie ein Kind, hat ihre kleinen Freuden und Liebhabereien wie in der Mädchenzeit, nur kein Interesse an der Außenwelt und an geistigen Dingen. Träten Sie heute unversehens bei ihr ein, so würde sie sich nicht wundern, sie würde nur sagen: ‚Sind Sie auch da? – wie sonderbar, daß ich auch von Ihnen träume!‘

Körperlich hat sie ihre volle zauberhafte Schönheit wieder erhalten, ihr armer Geist aber ist in der Irre und niemals wird er sich wiederfinden, – die einzige Möglichkeit wäre zugleich ein schreckliches Erwachen, während sie jetzt im Traum wenigstens nicht leidet. Sie ist unheilbar krank, aber sie ist lieblich dabei wie die unglückselige Ophelia, die sie einst auf jenem verhängnißvollen Bilde verkörperte.“

Konrad fühlte es warm in sich aufsteigen. Wieder sah er sie auf dem Gemälde vor sich in ihrer berückenden Schönheit mit dem irren, traurigen Lächeln, blumengeschmückt und in den Bach starrend, in den sie ihre Gewinde geworfen. Es war ein überwältigendes Bild gewesen und jetzt, da es sich als eine so grausam richtige Prophezeiung erwiesen hatte, doppelt packend in der Erinnerung.

„Es ist ein wunderliches Schicksal,“ sagte er traurig sinnend. „Aber sie ist bei alledem nicht unglücklich. Ein Philosoph möchte sie vielleicht sogar glücklich preisen, denn schließlich: was ist das ganze Leben anders als ein Träumen?“

Miß Sikes erwiderte nichts darauf, und auch Konrad versank in ein bewegtes Sinnen, in dem die Gegenwart keine Rolle spielte. Bang und eigenthümlich erregt war ihm zu Muth. Es war ihm, als ob er selbst in einen wunderlichen Traum gerathen wäre, und erschrocken riß er plötzlich die Augen weit auf und blickte um sich. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er in seiner Berliner Wohnung erwacht wäre.

Aber es blieb alles, wie es war. – Da saß die alte Engländerin, in ihrem Aeußern fast wie früher, nur um einen Schatten grauer und härter in den Zügen, – und da – er fuhr entsetzt zusammen, – dieses eigenthümlich wohllautende Lachen, das da eben aus dem Nebenzimmer drang.

„Hat Lemberg denn nie mehr etwas von sich hören lassen?“ fragte er endlich, um sich aus seinem wachen Traum zu rütteln.

„Ohne Aufforderung nicht,“ erzählte Miß Sikes. „Als aber Magdalenens Krankheit zu Tage trat, machte ich ihm Mittheilung davon. Darauf schickte er etwas Geld und bat mich, die Pflege weiter zu übernehmen. Ich mußte das Geld behalten, denn meine kleinen Ersparnisse waren durch die lange Krankheit von Magdalenens Mutter aufgezehrt, und ich konnte nur wenig dazu erwerben.

Dann hofften die Aerzte viel von einem plötzlichen Wiedersehen mit Lemberg. Ich schrieb ihm das. Er antwortete, er könnte nicht kommen, er wäre schon halb auf dem Wege nach Afrika, wohin er mit einer Expedition zu gehen beabsichtigte.

Dazu schickte er wieder eine größere Summe, – und ließ nichts mehr von sich hören.

Und Magdalene verzehrte sich in ihren Traumphantasien nach ihm. Sie wollte alles ertragen, sie wollte die Frauen, die er ihr vorzog, selbst die ‚Tigerin‘, bei sich sehen und freundlich gegen sie sein, nur sollte er kommen und sie nicht so lange allein lassen. Ich bin überzeugt, sie wäre gesund geworden, wenn er gekommen wäre. – Ja, Herr, ich glaube, auch heute noch, – erschiene er plötzlich vor ihr, es wäre wirklich so, wie sie sich einbildet: ihr Geist erwachte und alles Erlebte erschiene ihr wie ein böser Traum. Aber er wird nicht mehr kommen; es ist nichts von ihm zu hören gewesen in all den Jahren. Ich habe alle Kataloge der größeren Kunstausstellungen, auf denen er sonst vertreten war, durchgesehen jahraus, jahrein, aber ich habe seinen Namen nicht gefunden. Vielleicht ist er auf jener Expedition zu Grunde gegangen, vielleicht auch an seinem zügellosen Leben. Ich rechne ihn zu den Todten.“

„Wie hat er eine Frau wie Magdalene verlassen können!“ brach es plötzlich aus Konrad mit einem Feuer, dessen er sich selbst nicht bewußt war, „ein so schönes, liebreizendes Weib, und so echt, so groß in ihrer Liebe!“

[530] „Sie hat ihn eben zu sehr geliebt, und das hat er nicht vertragen können,“ sagte Miß Sikes. „Viele Männer sollen diese häßliche Eigenschaft haben.“

Das klang so lehrhaft, Konrad hätte lachen mögen, ein nervöses gereiztes Lachen. Aber er bezwang sich.

„Noch eine offene Frage, Miß Sikes,“ sagte er, „die Sie dem alten Freunde nicht übel deuten mögen. Ist es Ihnen in pekuniärer Hinsicht nicht schwer geworden, Magdalene, die ja ganz ohne Mittel ist, bei sich zu behalten?“

Die alte Miß erröthete.

„Anfangs oft,“ sagte sie dann nach kurzem Bedenken. „Ich mußte Berlin verlassen, der vielen Bekannten wegen, die an Magdalenens Geschick Antheil nahmen oder Neugier dafür zeigten. Ich ging hierher und hatte anfangs oft schwere Sorgen. Aber allmählich bin ich bekannt geworden, man sucht jetzt meinen Unterricht und ich verdiene so viel, daß ich meinem Kinde ein behagliches Nestchen habe herrichten können und imstande bin, ihr armes Leben nach Kräften zu verschönen.“

Konrad drückte ihr gerührt die Hand.

„Ich bewundere Sie aufrichtig, Miß Sikes, und wenn Sie einmal einen Freund brauchen sollten, sei es in welcher Hinsicht auch, – ich würde zu Ihrer Verfügung stehen.“

Miß Sikes sah ihn mit sprechendem Blick an, als ob sie etwas sagen wollte, aber die Worte versagten ihr und sie wendete sich ab. Konrad stand auf.

„Bleiben Sie denn hier und wie kommen Sie eigentlich hierher, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ sagte sie da. „Ihr Erscheinen hier ist so wunderbar, so unerwartet.“

Da war Konrad mit einem Schlage ganz und gar in die Gegenwart versetzt, – aber seltsam, es war ein peinliches, unklares Gefühl, das in ihm aufkam.

Er erröthete auch und sprach von Familienangelegenheiten, die ihn noch einige Tage hier aufhalten würden, während deren er jedenfalls noch bei ihr vorsprechen würde.

„O richtig, Sie sind mit den Heins verwandt, es war ja Gertrud Hein, mit der ich Sie zusammen auf der Straße sah, als Sie –“

„Ich war unhöflich und bitte nachträglich um Entschuldigung,“ sagte Konrad hastig. „Aber Ihr ‚shocking‘ war die Veranlassung, daß ich Sie heute aufsuchte.“

Damit verabschiedete er sich herzlich, aber mit einem zögernden Blick auf die dunkle, geschlossene Thür, hinter der Magdalene den seltsamen Traum träumte, von dem sie erst mit dem Tode erwachen sollte.

Und noch auf der Straße glaubte er sie vor sich zu sehen, wie sie in dem flüchtigen Augenblick seines Eintritts dagestanden hatte, schöner als je in ihrer üppigen Entfaltung mit den goldschimmernden Haaren und den großen räthselhaften Augen.

Darüber entging ihm die schlanke Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite des Trottoirs, die bei seinem Anblick zögernd stehen blieb und mit verwunderten, ein wenig traurigen Blicken sein träumerisches Gesicht musterte. Es war Gertrud Hein, die er vorübergehen ließ, ohne ihrer Nähe gewahr zu werden, – während sie mit pochendem Herzen so lange auf seine Anrede wartete, bis er ihren Blicken entschwunden war. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gertrud hatte die schwersten Stunden ihres jungen, bisher so glücklichen Lebens durchlebt. Sie begriff den gütigen Vater nicht, sie wußte nicht, was sie von dem Geliebten denken sollte, der ihr mit der finstern, hochmüthigen Miene fremd war. Der Vater suchte sie zu beruhigen, aber da er es ohne Gründe, nur mit Zärtlichkeiten und der Bitte, ihm zu vertrauen, that, wurde sie immer unruhiger, ein peinliches, drückendes Gefühl verdrängte alle Hoffnungsfreudigkeit und die bräutlichen Glücksgefühle in ihr.

Am nächsten Morgen wollte der Vater wieder verreisen – da hatte sie mit den kleinen Reisevorbereitungen zu thun – aber die Nacht ging schlaflos für sie hin, wohl die erste derartige in ihrem Leben.

Erst als der Vater ihr beim Abschied sagte, er wolle ihre Zukunft ordnen, und er hoffe, eine glückliche, kleine Braut zu segnen, wenn er in einigen Tagen wiederkomme – sie solle nicht fürchten, daß er sie von dem Auserwählten zu trennen beabsichtige, dazu sei sie zu selbständig in ihrem Empfinden und Handeln – aber er selbst müsse in allem klar sehen, bevor er sein Kind an das Schicksal ausliefere, – erst da kam etwas Ruhe, das alte Vertrauen zum Vater und die Gewißheit von des Geliebten unangreifbarer Würde über sie. Ihre Augen wurden wieder klar, und das alte sonnige Lächeln erschien in dem lieblichen Gesicht.

Und nun war der Vater fort, Tante Karoline kam aus ihrem Stift erst am Nachmittag zu ihr; da blieb ihr noch manche Stunde zum Träumen und Denken an den nahen und doch fernen Liebsten.

Aber sie sehnte sich nach Aussprache und sie hatte niemand, mit dem sie über ihn sprechen konnte. Nicht über ihre Liebe, nein, die war ihr zu heilig, aber über ihn, seine hervorragende Person, seine – ja, da fiel es ihr ein: Miß Sikes kannte ihn ja, Miß Sikes, der sie längst einen Besuch hätte machen sollen. Im Grunde war es unartig, daß sie es noch länger aufschieben wollte, sie mußte der alten strengen Dame auch ein entschuldigendes Wort über ihr auffallendes Benehmen von der Straße sagen, und ohne sich klar zu machen, daß sie das ja nicht könne, ohne ihr Geheimniß preiszugeben, nur im Drange, den Namen des Geliebten von einem andern nennen, ihn loben zu hören – denn daß er gelobt würde, das war ja selbstverständlich! – kleidete sie sich an und ging den wohlbekannten Weg hinunter.

Mit ihrem scharfen Auge sah sie schon in größerer Entfernung Konrad aus dem Hause treten. Also auch er hatte die alte Lehrerin aufgesucht, vielleicht in derselben Absicht wie sie. Ob er sie nun ansprechen würde – natürlich, nun mußte er sie ja sehen! Aber er sah sie nicht, und als sie sich ihm bemerkbar machen wollte, fiel ihr der träumerisch versunkene Ausdruck seines Gesichts, die feine Röthe, die dasselbe überzog, auf, und es erfüllte sie auch mit freudigem Stolz, wie stattlich und vornehm er daherkam.

Und dann war er vorüber, und sie staunte, daß er ihre Nähe nicht geahnt hatte; sie empfand eine leise Enttäuschung.

„Aber er dachte ja an mich,“ sagte sie sich dann froh, „wie will ich ihn heute nachmittag mit seiner Versunkenheit necken!“

Und leichtfüßig eilte sie die beiden Treppen hinauf, die zu der Wohnung ihrer alten Lehrerin führten.

Die Flurthüre stand weit geöffnet, das Dienstmädchen war nicht da, sie anzumelden, und so klopfte denn Gertrud an die Thür des Zimmers, an dem sie oft in leiser Scheu vor der gestrengen Lehrerin gesessen hatte. Und während sie auf das „Herein“ Miß Sikes’ wartete, fühlte sie eine Anwandlung von Reue über ihr Kommen, gerade wie Konrad Herrendörfer vorhin. – Doch sollte sie nun umkehren?

In ihrem Sinnen hatte sie wohl die Aufforderung, einzutreten, überhört. Mechanisch öffnete sie die Thür, aber das Zimmer, in welches sie trat, war leer. Sollte sie sich an der andern Thür bemerkbar machen? Sie that es und öffnete auf das „Herein“ einer weichen Frauenstimme.

Entzückt und starr vor Staunen blieb sie an der Thür des reizenden Gemachs, das einen so starken Gegensatz zu dem düstern Lehrzimmer bildete, stehen und voller Entzücken sah sie die wunderschöne Frau an, die ihr klassisch schönes und dabei unsagbar liebliches Gesicht ihr voll zugewendet hatte und sie mit einem fragenden Blick musterte.

Das war also die Nichte der Miß Sikes, die so wunderlich zurückgezogen lebte! Gertrud hatte von ihr gehört, aber eine ältere Frau dabei in Gedanken gehabt – und nun diese märchenhaft schöne Erscheinung, inmitten eines blumendurchdufteten, luxuriösen Raumes, wie Gertrud ihn ähnlich nie gesehen hatte.

„Verzeihung,“ sagte sie endlich leise, „ich suchte Miß Sikes.“

Die schöne Frau gab keine Antwort, aber sie nahm Gertruds Hand und zog sie zu einem kleinen Sessel neben sich.

„Kommen Sie doch,“ sagte sie weich und mit eigenartiger Betonung, „ich habe Sie ja noch nie gesehen. Waren Sie schon öfters hier?“

Gertrud erzählte ihr von ihren Stunden, die sie bis zum vergangenen Frühjahr von Miß Sikes erhalten und die sie auch im Winter fortgesetzt hätte – wenn – ein glückliches Lächeln trat in ihr Gesicht, sie brach ab und sprach ihre Verwunderung aus, daß sie die Dame früher nie gesehen hätte.

„Auch ich habe noch nie von Ihnen geträumt,“ sagte Magdalene Lemberg, „und es geschieht selten, daß fremde Gestalten vor mir auftauchen. Aber es ist eine angenehme Unterbrechung, und Sie sehen lieb aus. Wie heißen Sie denn?“

[531] Gertrud nannte ihren Namen, sie konnte aber ein bängliches Gefühl nicht unterdrücken, wie sie die schönen, glänzenden Augen der Fremden mit träumerisch leerem Ausdruck auf sich ruhen sah.

Nun schüttelte Magdalene den Kopf. „Niemals sah ich Sie oder hörte Ihren Namen. Sonderbar, vielleicht sollen Sie mir sagen, wie man von gar zu langem Schlaf aufwacht.“ – Gertrud sah ihr verwundert in das schöne Gesicht.

„Nun, wie machen Sie es denn?“ fragte Magdalene ungeduldig.

„Ich schlafe nicht zu lange,“ antwortete Gertrud befangen.

„Und träumen Sie nicht viel?“

„Nein, sehr selten,“ sagte Gertrud immer befremdeter.

„Und ich träume, träume, träume,“ sagte Magdalene klagend, „und immer bin ich allein, ohne ihn, und ich habe solche Sehnsucht nach ihm, nach seinen Küssen. Und die Nacht ist so endlos lang. Ich träume von Tagen und Nächten, ich sehe die Sonne scheinen und den Mond, der Frühling kommt und der Schnee – aber ich kann nicht aufwachen, ich muß schlafen und von Personen träumen, die mir gleichgültig sind, gegen ihn, den ich liebe. – Warum kam er nicht statt Ihrer?“

Gertrud war aufgestanden. Wie gebannt starrte sie auf die schöne Frau, die nun plötzlich scharf nach ihr blickte.

„Sehen Sie mich an!“ sagte sie laut, „bin ich ein Wesen mit Fleisch und Blut, oder bin ich ein Bild? Ich stand als Ophelia an einer Weide und sah in die Wellen. – Hier am Hause, in dem ich jetzt träume, ist ein kleiner Garten und ein Wasser dahinter, die Weiden lassen ihre grünen Zweige hineinhängen. Wenn ich heimlich da hinunter gehe, den Weidenstamm umklammere und in das murmelnde Wasser blicke . . . ich weiß es nicht mehr, bin ich Magdalene . . . Ophelia . . . Magdalene . . . Ophelia –“

Sie ließ den Kopf sinken und starrte melancholisch ins Leere.

Gertrud faßte eine ungeheure Angst.

„Ich will mich nach Miß Sikes umsehen,“ stieß sie hervor.

Die Fremde nickte gleichgültig und schien keine Notiz mehr von Gertrud zu nehmen, die, immer den Blick auf sie gerichtet, dem Nebenzimmer zuschritt.

„Werner – Werner,“ krächzte da der Papagei von seiner Stange, und mit dem jauchzenden Ruf „Werner“ sprang die schöne Frau auf und liebkoste das Thier. Dazu schien die Sonne hell in die Blätter der fremdländischen Gewächse, die das Zimmer schmückten, ein starker Duft, von kleinen gelben Blüthen ausströmend, durchzog das Zimmer.

Als Gertrud angstvoll und doch gespannt die Thür geschlossen hatte, glaubte sie einen seltsamen Traum geträumt zu haben. Nüchtern wie das Alltagsleben sahen die wohlbekannten Geräthe des düsteren Unterrichtszimmers sie an.

Sie warf noch einen flüchtigen Blick umher, dann eilte sie mit klopfendem Herzen hinaus zu der noch geöffneten Thür, die Treppe hinunter.

[544]
Das alte Dienstmädchen der Miß begegnete Gertrud auf der Treppe.

„Ach – Fräulein waren oben,“ sagte sie, Gertrud ängstlich anblickend. „Es gab eine solche Aufregung bei uns. Mein Fräulein hat einen Brief erhalten, in dem jedenfalls eine besondere Nachricht stand – sie schien zu erschrecken und lief, das Blatt in der Hand, die Treppe hinunter. Ich wollte sehen, wo sie bliebe, konnte sie aber nicht finden; darüber fiel mir ein, daß ich alles offen gelassen hatte – ich hoffe, Fräulein werden mich nicht verrathen,“ fügte sie bittend hinzu.

Gertrud schüttelte den Kopf.

„Hatte Miß Sikes denn nicht kurz vorher Besuch?“ fragte sie zögernd.

„Ja, einen fremden Herrn, der wohl eine Stunde da gesessen hat. Unterdessen kam auch der Brief, den ich aber erst abgab, als der Herr gegangen war. Da muß sie dicht hinter ihm her gelaufen sein.“

„Doch nicht,“ sagte Gertrud, „ich sah den Herrn aus der Hausthür treten – Miß Sikes dagegen nicht.“

Eine Frage nach der schönen Frau schwebte ihr auf den Lippen, aber – sie wußte selbst nicht weshalb – sie unterdrückte dieselbe, beruhigte mit einigen freundlichen Worten die besorgte Dienerin und ging ihres Weges.

Das eben Erlebte hatte sie doch gewaltig erregt. – Wie wunderschön die Fremde, und wie entsetzlich, daß sie krank, augenscheinlich geisteskrank war! – Ophelia hatte sie sich genannt? Gertrud schauderte. Wie alle gesunden, jungen Menschen hatte sie eine unwillkürliche Furcht vor Gemüthskranken, nun war sie ohne Vorbereitung mit einer solchen in Berührung gekommen – freilich war das Entsetzliche bei diesem holdseligen Weibe verklärt zu Anmuth und Lieblichkeit, wie bei ihrer unglückseligen Namensschwester.

„Schwermuth und Trauer, Leid, die Hölle selbst
Macht sie zur Anmuth und zur Artigkeit.“

Diese Worte des Laertes fielen ihr ein, und eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Welche Tragödie mochte sich in diesem Frauenleben abgespielt haben, wie viel Jammer und Weh mochte dieses schöne Wesen getroffen haben, ehe die schreckliche Nacht über sie hereinbrach, die so endlos lang war, wie sie klagte!

„Werner“ – wie die Kranke den Namen gerufen hatte! So voll jauchzender Freude, voller Leidenschaft. Ob sie, Gertrud, wohl auch den Namen des Geliebten so ausprechen könnte: „Konrad“ . . . Sie erröthete und schüttelte den Kopf . . .

Nein, nicht so, aber leise, zärtlich, nur für ihn und sie hörbar. – O, wie sie sich nach ihm sehnte! Es war ihr, als ob sie unendlich Trauriges erlebt hätte und damit zu ihm flüchten müßte, um sich von ihm Trost zu holen.

Zu Hause angekommen, suchte sie alle kleinen Erinnerungszeichen an ihn zusammen, von deren Dasein er gar nicht einmal wußte, eine Stranddistel, die er ihr gepflückt, eine hübsche Feder, die sie zusammen gefunden, ein Vierblatt, das sie von ihm erhalten hatte, und dergleichen kleine Andenken mehr, bei deren Anblick sie sich die glücklichen Stunden vergegenwärtigte, denen diese Liebeszeichen entstammten.

Und dann sprang sie aus ihren Träumereien auf und lief in die Küche, um noch einmal genaue Anweisungen wegen des besonders feiertäglichen Abendessens zu geben, das sie dem Geliebten zu Ehren herrichten ließ: er sollte seine künftige Hausfrau bewundern!

Mitten in ihrem geschäftigen Treiben aber flogen ihre Gedanken wieder zu der schönen Träumenden – sie sehnte sich danach, Konrad ihr Abenteuer mitzutheilen und von ihm vielleicht einigen Zusammenhang in ihre romantischen Voraussetzungen bringen zu lassen.

Dann kam Tante Karoline, in nicht geringer Erwartung des Gastes, von dem der Bruder kurz vor seiner Abreise gesprochen und den er ihr beziehungsvoll anempfohlen hatte. Gertrud mußte von ihm erzählen, aber die kluge alte Dame hörte bald auf, zu fragen, denn die tiefe Röthe, die der Nichte Wangen färbte, sagte ihr mehr als die halb gezwungenen Worte. Sie erzählte in ihrer hübschen, lebhaften Weise allerlei komische Geschichten, die an ihrem Stifte vorgekommen waren, und Neuigkeiten, die sie in ihrem großen Bekanntenkreis gehört hatte, und beachtete anscheinend die Zerstreutheit und Schweigsamkeit der sonst so theilnehmenden Gertrud nicht, die in der erregten Erwartung der kommenden Stunden der Tante sogar ihr seltsames Abenteuer mitzutheilen vergaß.

Und nun schlug die Glocke an, und das Mädchen meldete Herrn Rechtsanwalt Herrendörfer. – Gertrud ging ihm in das kleine Vorzimmer entgegen, mit strahlenden Augen, ihm beide Hände entgegenstreckend.

Er nahm sie, aber er führte sie nur leicht an die Lippen und machte eine scherzende Bemerkung über des Vaters Wunsch.

Gertrud erschrak.

Es war recht von ihm, aber daß er diesen Wunsch berücksichtigte, welche Beschämung für sie! Thränen stiegen in ihre Augen – sie wendete sich halb ab.

Und Konrad? Er empfand die Stimmung seiner Braut, ohne sonderlich gerührt zu sein – er sagte nur leise: „Sie haben es ja so gewollt!“

Aber das bereute er, denn auf diese Worte versiegten plötzlich die Thränen, die grauen Augen, die so weich und träumerisch blicken konnten, blitzten ihn stolz an und trotzig stand das „Kind“, wie er sie oft bei sich nannte, vor ihm.

„Natürlich,“ sagte sie rasch, „und es war hübsch von Ihnen, mich darauf aufmerksam zu machen.“

Und sie führte ihn in das Wohnzimmer, der Tante Karoline zu, die bald eine lebhafte Unterhaltung in Gang brachte, sich im Stillen aber über die jungen Leute von heutzutage wunderte. Das sollte ein angehendes Brautpaar sein? Wo war denn das schüchterne Erröthen der Braut, wo das heimliche Hin- und Widerblicken – der ganze poesievolle Hauch, der ein solches unausgesprochenes Verhältniß sonst umgiebt?

Auch Konrad wunderte sich, wenn er Gertrud so kühl beherrscht die Unterhaltung führen hörte – eine ganz andere als die erwartungsvolle, strahlende Gertrud, die ihn im Vorzimmer begrüßt und die er gewissermaßen beleidigt hatte.

Er würde ganz gewiß nie wieder in die Lage kommen, ihre bräutliche Zärtlichkeit zurückzuweisen, dachte er mit leichtem Bedauern; sie war stolzer, herber, als er sich das lachende Kind vorgestellt hatte. Aber mit diesem Erkennen regten sich zugleich wieder die Zweifel an der Echtheit der Liebe Gertruds zu ihm. Würde sich ein so junges Wesen so vollständig in der Gewalt haben wie das Mädchen vor ihm, wenn ihr Herz voll und ganz mitspräche?

Gerade so war es mit – der andern gewesen, mit der seine Gedanken selbst jetzt sich beschäftigten. Scheu, kühl, voller Selbstbeherrschung ihm gegenüber – aber als der Rechte kam, besinnungslos, leidenschaftlich in ihrer Liebe, bis zum äußersten, bis zum Verlieren des Verstandes.

Arme Magdalene!

Doch er rüttelte sich gewaltsam aus seinen Gedanken; wie undankbar, wie unlogisch, das einmal Erlebte auf das liebe Mädchen vor ihm anzuwenden! Hatte nicht er sie gerade wegen ihrer [546] Unbesonnenheit getadelt, gestern, als sie ihm auf die Straße entgegengeeilt, war er nicht heute wieder ihrer naiven Zärtlichkeit entgegengetreten? Nein, sie liebte ihn – fort mit den Vergangenheitsschatten, fort mit der blonden Ophelia, fort mit allen Bedenken! Sein Blick flammte auf – und endlich, endlich machte Tante Karoline die Entdeckung, auf die sie bisher vergeblich gewartet hatte: daß der stattliche, vornehme Mann sterblich verliebt in das Trudchen sei.

Da erinnerte sie sich plötzlich, daß sie doch eigentlich in der Küche nachsehen wollte, aber so schnell konnte sie das einmal begonnene Gespräch nicht abbrechen, also erzählte sie weiter.

Sie war am Tage zuvor in einem Konzert gewesen, in dem es etwas Neues zu bewundern gegeben hatte, Señor Pablo, den berühmten Konzertmaler.

Gertrud äußerte sich wegwerfend über diese Entweihung der Kunst und wunderte sich, daß Tante Karoline Gefallen daran gefunden hätte.

„Ja, Kind,“ sagte die enthusiastische alte Dame, „die Sache liegt für mich anders als für Euch Kenner. Ich bin keine Kennerin, und es machte mir wirklich Spaß, unter den Klängen bekannter Musikstücke ein hübsches Bild, eine Waldlandschaft mit See bei Mondschein, entstehen zu sehen. Dann aber war auch der Maler eine interessante, vornehme Erscheinung. Man erzählte im Publikum, daß er ein sehr gefeierter Künstler gewesen sei, der Gott weiß wie auf diese Bahn gerathen.“

„Unmöglich!“ rief Gertrud, „ein wirklicher Künstler wird sich nie so weit herabwürdigen, eine Gaukelei aus seiner Kunst zu machen.“

„Das dürfen Sie nicht so schroff behaupten, wenn es auch eigentlich so sein sollte, wie Sie sagen,“ meinte Konrad. „Gerade bei genialen Naturen treten solch jähe Umschläge am leichtesten ein, wenn die sittliche Kraft der geistigen nicht das Gleichgewicht hält. Die Erfahrung lehrt das, und Sie werden täglich Beispiele dafür finden.“

„Hier ist das ganz sicher auch so, oder ähnlich,“ sagte Tante Karoline lebhaft. „Justizrath Berner hat den Maler erkannt und ihn auch darauf hin angesprochen, daß sie sich vor langen Jahren in Gastein getroffen hätten. Man hat damals das Höchste von ihm erwartet, und er soll dann auch ein Bild ‚Ophelia‘ gemalt haben, das geradezu Aufsehen erregt hat. Der Name, unter dem er hier auftritt, ist natürlich ein falscher, er ist auch gar kein Spanier, sondern ein guter Deutscher und heißt Lemberg –“

Konrad Herrendörfer wurde sehr blaß, erschreckend blaß sogar.

Gertrud sprang auf.

„Fehlt Ihnen etwas?“ rief sie besorgt. „Sie sehen plötzlich krank aus.“

Sie legte die Hand auf seine Schulter, und er, unbekümmert um Tante Karoline, lehnte sich an sie, als ob sie seine Stütze wäre und nicht das „Kind“, dem er den Halt für das Leben geben wollte.

Die Aufregungen, welche die letzten Tage ihm gebracht hatten, die Enttäuschung der Gegenwart, die Erinnerung an die Qualen der Vergangenheit überwältigten ihn; als er nun noch den Namen des Gehaßten unvorbereitet hören mußte, gab er sich – Stimmungsmensch, wie er war – einen Augenblick ganz dem trostlosen Gefühl hin, das ihm so oft in vergangenen Zeiten das Leben grau und trübe gemacht hatte.

Tante Karoline entfernte sich zartfühlend. Er stand auf und zog Gertrud an sich.

„Es ist, als ob ein Fluch auf meinem Aufenthalt hier ruhe,“ sagte er zu dem erschreckten Mädchen nach der Versicherung, daß er sich körperlich wohl fühle. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß im gewöhnlichen Leben eine solche Reihe von Zufälligkeiten zusammentreffen könnte, um die sonderbarsten Verkettungen zustande zu bringen. Du ahnst nicht, was alles auf mich einstürmt, welche Erinnerungen, welch peinvolle Begegnungen.“

Gertrud hielt seine Hand und sah ihm so theilnahmsvoll, so herzlich in die Augen, daß er vergaß, daß es seine Braut, ein junges liebendes Mädchen ohne Welterfahrung und Menschenkenntniß war, zu der er sprach – und er erzählte ihr von seiner Jugendliebe, in den warmen Worten, die ihm sein Empfinden in den Mund legte – er vergaß, daß es kein Selbstgespräch war, in dem er jetzt nach Jahren um die verlorene Geliebte klagte, seinem Haß gegen den plötzlich aufgetauchten Nebenbuhler in leidenschaftlichen Worten Ausdruck gab.

Er erzählte von dem Opheliabilde, von Miß Sikes, ihrer blonden Schülerin, von dem ungetreuen Freunde und dem Verrath, den man an ihm begangen, als ob er gestern das alles erlebt hätte, und erst das leidenschaftliche Schluchzen Gertruds ließ ihn wie aus einem Traume auffahren. –

Welche Unklugheit hatte er begangen, wie thöricht, wie taktlos war seine Aussprache gewesen! Nun er sich alles vom Herzen gesprochen hatte, gewann die Gegenwart ihr Recht – und es war ihm plötzlich, als sei alles, alles ein wüster Traum gewesen – und nun lockte ihn das Leben in der Gestalt des liebreizenden Geschöpfs, das sich von ihm losgemacht und schluchzend und zitternd in einen Lehnstuhl geworfen hatte.

„Gertrud, liebe Gertrud,“ sagte er zärtlich, „das ist nun alles vorbei, wir haben uns ja gefunden und –“

„Nein, nein,“ rief Gertrud da leidenschaftlich und entschieden, „Du hast Dich geirrt, Du sahst, daß ich Dich liebte, und da hast Du Dir eingeredet, daß auch Du mir gut wärest. Deine Liebe gehört der schönen Frau – ach, ich habe sie ja heute selbst gesehen, als ich zu Miß Sikes ging. Du kamst an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich Aermste glaubte, Deine Gedanken wären bei mir, aber sie weilten bei der schönen Irrsinnigen oben, die Du nie vergessen wirst, wenn sie Dir auch das Herz gebrochen hat – Du hast jetzt nach vielen Jahren gesprochen, als ob Du das alles eben erlebt hättest, Deine Augen sahen träumerisch und unglücklich aus – Deine Worte kamen so aus tiefem Herzen, wie ich sie für mich noch nie von Dir gehört habe. Für mich hattest Du engherzige Schicklichkeitsbedenken, als ich Dir ohne Ziererei zeigte, wie es mir ums Herz war – natürlich, Du hast keins mehr für mich, nur Mitleid und ein wenig Zärtlichkeit, und ich will Dich ganz, mit ganzer Seele, mit ganzer Liebe, denn in mir ist nicht ein Gedanke, der nicht Dir gehörte – –“

Konrad stand stumm vor ihr. Er konnte ihre Worte nicht ernsthaft nehmen – er war auch nicht mehr verstimmt über seine begangene Thorheit – er war nur sehr glücklich, denn aus des Mädchens Erregung sprach die leidenschaftliche Liebe, an der er unter den Eindrücken des letzten Tages zu zweifeln begonnen hatte.

Und wie schön sie war, mit ihren stolzen, thränenfunkelnden Augen, dem zuckenden, kleinen Munde und der heißen Röthe auf den sonst nur leicht gefärbten Wangen!

„Ich habe Dich lieb, Gertrud,“ sagte er einfach, aber voll überzeugender Wahrheit, und wollte sie an sich ziehen.

Aber sie duldete es nicht. Die schlichten Worte verklangen gegen die von leidenschaftlicher Trauer durchbebten, in denen er von der Vergangenheit gesprochen hatte.

Sie trocknete ihre Thränen und richtete sich stolz auf.

„Ich will kein Almosen,“ sagte sie. „Mein Gefühl sagt mir das Richtige, und ich weiß nun auch, weshalb mein lieber Vater mich Ihnen nicht geben wollte. Er hat es auch gemerkt, daß Sie mich nicht liebten, wie es sein soll –“

Konrad wurde ungeduldig. „Aber Gertrud, das ist kindisch,“ sagte er. „Hast Du es denn vergessen, wie wir uns gefunden, wie ich um Dich geworben habe?“

„Du wußtest es vom ersten Augenblick an, daß ich Dir gut war, Du hast nicht einen Augenblick gezweifelt, daß ich Dir ‚Ja‘ sagen würde – so hast Du selbst mir erzählt,“ kam es hastig von Gertruds Lippen, und der trotzige Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich.

„Das war gerade schön so,“ sagte er beruhigend, „und dieses unwillkürliche, unbegrenzte Vertrauen zu Deiner Liebe, das allerdings einen Augenblick schwankend wurde, als Du gestern früh dem Wunsche Deines Vaters so schnell nachgabst, – das hat mich jetzt thörichterweise veranlaßt, Dir Bekenntnisse zu machen, für die Du noch zu jung bist.“

Gertrud sah auf ihre krampfhaft ineinander geschlungenen Hände. „Du hättest Dich nicht so erregen können, wenn Dir die schöne Magdalene nicht noch lieb wäre – Du warst ein anderer, als Du mir von ihr erzähltest. – Und ach, warum mußte ich sie auch noch sehen in ihrer zauberhaften Schönheit: nur um wie ein armes Aschenbrödel mich zurückziehen und erst recht begreifen zu müssen, daß, wer eine solche Frau geliebt hat, sein Herz keiner andern mehr geben kann.“

In Konrad wurde die Ungeduld übermächtig. Er versuchte noch einmal, einen Kuß auf die zuckenden Lippen zu drücken, die Aufgeregte in seine Arme zu nehmen, – es gelang ihm nicht, – sie schluchzte und weinte schon wieder und hörte nicht [547] einmal mehr auf die beschwichtigenden Worte, die Vernunftgründe, die ihr lau und nichtssagend klangen nach den Worten der Leidenschaft.

„So bleibt mir nichts anderes übrig,“ sagte er halb entmuthigt, halb ungeduldig, „als Dich zu verlassen und uns beiden zu wünschen daß Du Dir bis morgen überlegt hast, wie unrecht Du mir thust. Es war ein großer Fehler von mir, das kühle Urtheil eines Unbetheiligten bei Dir vorauszusetzen, aber eine so harte Strafe habe ich nicht verdient. Ich bin überzeugt, daß Du mir morgen, wenn die erste Erregung vorüber ist, mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen wirst. Sieh, mein Liebling, ich bin so viel älter als Du, – aber ich sehe, Du bist jetzt nicht zugänglich für meine Worte, wenn Du später darüber nachdenkst, vergiß nie, daß ich Dich über alles lieb habe. Gute Nacht, Gertrud!“

Damit ging er, aber trotz seiner Niederlage war ihm warm und leicht ums Herz, denn die Gewißheit, daß Gertrud ihn, ihn selbst mit allem Feuer ihrer warmen Jugend liebte, gab ihm ein echtes Glücksgefühl und ließ ihn augenblicklich vergessen, daß ein neuer Schatten aus der Vergangenheit auf seinen Weg gefallen war.

Nur zu bald sollte er wieder daran erinnert werden. – – – – – – – – – – – – – – –

Tante Karoline hörte von der Küche aus mit Staunen, daß der Gast sich entfernte.

„So hat sie ihn abgewiesen,“ dachte sie und konnte einen kleinen aufsteigenden Aerger nicht unterdrücken; denn der stattliche Mann hatte ihr besser gefallen als andere ihr bekannte jugendlichere Verehrer Gertruds.

Sie ging ins Wohnzimmer, und da fand sie ihren Liebling in heißen, leidenschaftlichen Thränen, wie sie wohl noch nie aus diesen lachenden Augen geflossen waren.

„Gertrud, Kind,“ sagte sie erschreckt, „hat es einen Streit zwischen Euch gegeben? Beruhige Dich doch, das gleicht sich wieder aus.“

Das weinende Mädchen warf sich in die Arme ihrer zweiten Mutter. „Nie, nie,“ sagte sie unter Thränen, „aber frage mich jetzt nicht, ich will Dir später alles erzählen, nur jetzt nicht!“

Und Tante Karoline streichelte das braune Haar des Mädchens, setzte sich mit ihm auf das kleine Ecksofa, das Gertrud ihr Beichtwinkelchen nannte, weil sie da schon oft mit der Tante vertraut geplaudert hatte, – und begann davon zu sprechen, daß das Leben im Grunde hart sei, wie die Natur, daß man Unvermeidlichem sich mit möglichst wenig Geräusch fügen, aber wo Aussichten für die Erreichung eines Zieles wären, bis aufs äußerste kämpfen müsse, die entgegenstehenden Hindernisse zu besiegen. Mißverständnisse vor allem wären solche Hindernisse, die oft schon dem Glück den Weg verlegt hätten – und in dem Ton weiter.

Gertrud hörte kaum, was Tante Karoline sagte, aber der sanfte Klang ihrer Stimme legte sich beruhigend auf ihre Nerven, und bald hatte sich der leidenschaftliche Aufruhr in ihr in eine sanfte Trauer verwandelt. Eben wollte sie nun doch der mütterlichen Freundin ihr Herz ausschütten, als die Glocke gezogen wurde.

Beide Frauen fuhren erschrocken auf und warteten mit einer gewissen Spannung die Meldung des eintretenden Mädchens ab.

„Ein Brief an Fräulein Gertrud; die Ueberbringerin wartet auf Antwort.“

Eckige, fremde Schriftzüge, „Alice Sikes“ unterzeichnet …

Was bedeutete das nur wieder? Ob Miß Hein imstande wäre, fragte Miß Sikes, ihr die Adresse von Mr. Herrendörfer anzugeben. Sie wüßte, daß er mit ihrem Hause bekannt wäre, und hätte Unaufschiebbares mit dem Herrn zu besprechen. Miß Hein würde sie durch eine sofortige Angabe der augenblicklichen Wohnung des Mr. Herrendörfer zu großem Dank verpflichten.

Was war das wieder? Gertruds Herz schlug von neuem voller Angst und Eifersucht. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es sich bei einer so wichtigen Unterredung um die blonde Jugendgeliebte Konrads handeln müsse.

Aber was konnte es sein? Am Vormittag war er erst dort gewesen, und nun diese Eile, ihn wieder zu sprechen? Vielleicht war die schöne Magdalene aus ihrem Traum erwacht, – vielleicht, – doch was nützte es, sich in alle diese „Vielleicht“ zu vertiefen – Gertrud ging seufzend zum Schreibtisch und schrieb die Adresse des „verlorenen Geliebten“ auf, – denn verloren war er für sie, das stand in ihrem Trotzkopf fest, trotz der brennenden Schmerzen, die sie dabei empfand. Sie fragte auch draußen die ihr so gut bekannte Dienerin Miß Sikes’ nichts weiter. Mochte da geschehen, was sein wollte, – es war alles, was im Zusammenhang mit der alten Engländerin seit vorgestern vorgegangen war, so tückisches Schicksal, daß Gertrud sich machtlos fühlte, auch nur im geringsten handelnd einzugreifen.

Was sollte eigentlich nun auch noch kommen? Er liebte sie nicht, was konnte sie da noch Aergeres treffen? Weinend suchte sie zu später Stunde ihr Lager auf und beängstigende Träume von der schönen Ophelia quälten sie auch im Schlaf weiter. –

[558]
Konrad Herrendörfer saß unterdessen in seinem einigermaßen behaglichen Zimmer, rauchte, philosophirte und ließ in seinen Gedanken Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durcheinander gehen. Heute erfüllte ihn das „shocking“, das die vergangene Zeit in die neue gerufen, durchaus nicht mit den schwermuthsvollen Träumereien, die ihm gestern noch das Herz so schwer gemacht hatten. Es war, als ob er mit seinem Bekenntniß an Gertrud alle Wärme, alles innere Empfinden in Bezug darauf verausgabt hätte. Er begriff es selbst nicht mehr, warum er eigentlich Miß Sikes aufgesucht hatte, wie es möglich gewesen war, daß sein Herz so stürmisch schlagen konnte bei dem Anblick der einst Geliebten, warum ein so bitteres Haßgefühl in ihm erwacht war, als er gehört hatte, daß der falsche Freund hier in seiner Nähe sei.

Es war ja ein wunderliches Zusammentreffen, – für unglaublich würde er es früher gehalten haben, – das gerade jetzt alle Personen zusammenführte, die vor Jahren ein Stückchen Tragödie aufgeführt hatten, aber was kümmerte ihn jetzt im Grunde noch die verschollene Geschichte!

Von dem Standpunkt einer gerechten Vorsehung aus war er ja sogar gerächt. Sie, die sein Leben für Jahre vergiftet hatte, eine Unglückliche, doppelt Leidende, – und er, der einst ein zweiter Rubens werden sollte, ein reisender Schnellmaler, nicht besser als ein Seiltänzer oder Taschenspieler, nein, geringer als solche, denn die meinten es ernst mit ihrer Kunst, während er die seine herabgewürdigt hatte.

Die Befriedigung, die weniger vornehme Naturen bei einer solchen „Vergeltung“ vielleicht empfunden hätten, blieb ihm indessen fremd. Gleichgültig war ihm in diesem Augenblick das Schicksal des einst so bitter gehaßten Gegners, das tragische Vergehen Magdalenens, in ihm war vor der Hand nichts als ein stürmisches Sehnen nach den zornsprühenden, thränenfunkelnden Augen Gertruds, ein ungestümer Wunsch, sie für sich zu haben, fern von hier, in einer anderen Umgebung, für sich ganz allein.

Ihren Zorn, ihre Eifersucht wollte er bald verscheucht haben, – wie glücklich hatte sie ihn dadurch gemacht! Noch wenige Tage nur, und der Vater kehrte zurück mit dem „guten Zeugniß“ für ihn, – auch darüber lächelte er jetzt, und dann begann endlich, endlich die goldene Zeit des Lebens, die eines unendlichen Glücks für ihn und das liebe Mädchen.

Und so malte er sich schöne, glücksvolle Zukunftsbilder, während Gertrud an ewige Trennung dachte.

Das Klopfen des Kellners unterbrach ihn.

Wenig erbaut empfing er ein kleines Billet, – eine dringende Bitte von Miß Sikes, sie sofort aufzusuchen, sie hätte überaus Wichtiges mit ihm zu besprechen und bäte um seinen Rath.

„So ist also von der alten Geschichte nicht loszukommen,“ dachte er unwillig. „Vermuthlich hat sie von der Anwesenheit des Schuftes gehört und verliert nun den Kopf. Aber was kann ich dabei thun?“

Trotz seines Widerstrebens gab er dem Kellner doch eine zusagende Antwort und machte sich zum Fortgehen bereit.

„Diese alte Engländerin verfolgt mich geradezu,“ dachte er dabei mürrisch. „Wie viel Unannehmlichkeiten hat sie mir nicht schon gebracht, Unglück kann ich sagen, und das scheint sich ja fortzusetzen. Wenn sie nicht eine so anständige alte Person wäre, wer weiß, was ich jetzt thäte.“

Freilich hätte er nie etwas anderes gethan, als mit Rath und That da beistehen, wo man ihn darum anging, – aber auch nie, ohne sich gewissermaßen vor sich selbst zu entschuldigen, wie er es jetzt mit allen möglichen Gründen that.

Darüber langte er bei der Wohnung Miß Sikes’ an und zog nun doch einigermaßen gespannt die Glocke.

Miß Sikes saß allein in ihrem finstern Zimmer mit einem gramvoll vertieften Zug um den Mund. „O Mr. Herrendörfer,“ rief sie, ihm beide Hände entgegenstreckend, „wie gütig, daß Sie kommen, welch eine Fügung überhaupt, daß Sie jetzt gerade hier sein müssen! Es ist ein Glück für mich, daß Sie mich aufgesucht haben. Ich brauche Ihren Rath, ich wäre verlassen ohne Sie, – ach, wenn Sie mir beistehen wollten –“

„Aber gewiß, meine liebe Miß Sikes,“ versicherte Konrad, sich zu ihr setzend. „Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.“

Sie holte einen Brief aus ihrem Schreibtisch und legte ihn vor Konrad hin.

Jahre waren vergangen, seit er diese elegante, kräftige Handschrift nicht gesehen hatte, aber er erkannte sie auf den ersten Blick. Sie hatte nicht mehr ganz den alten Schwung, die Buchstaben gingen unsicher durcheinander.

Konrad berührte das Schreiben nicht. „Bitte, theilen Sie mir mit, inwiefern ich Ihnen dienen kann,“ sagte er zurückhaltend.

„Sie erkennen, von wem der Brief kommt, und mögen ihn nicht in die Hand nehmen,“ sagte Miß Sikes traurig. „Ich sehe es ein, es ist unendlich viel, was ich von Ihnen verlange; aber ich bin so rathlos und ich weiß, es ist eine Fügung des Himmels, der Sie mir geschickt hat.“

„Ich will Ihnen gern dienen, Miß Sikes, aber eine unmittelbare Berührung mit dem Mann da müßte ausgeschlossen sein.“

Miß Sikes nickte. Sie suchte sich zu sammeln, um genau und doch kurz zu berichten. Ihr Gesicht zuckte vor Erregung und sie überhörte den leisen Gesang, der gedämpft aus dem Nebenzimmer klang und der Konrads Sinne erzittern ließ:

„Es vergeht kein Stund’ in der Nacht,
Da mein Herze nicht erwacht.“

Eine gebrochene, leise, tonlose Stimme, aber süß wie Vogelgezwitscher, – das war der so vielbewunderte, herrliche Gesang von Magdalene Langendorf. Wie die Blumen im Nebenzimmer duften mußten! Bis hierher drang der starke, süße Geruch, der sich mit dem klanglosen Gesang zugleich in Konrads Sinne schmeichelte und ihn in einen traumhaften Zustand versetzte, aus dem ihn erst die harte, thränenerstickte Stimme der alten Engländerin aufschreckte.

„Um es kurz zu sagen,“ begann sie, „er ist hier. Während Ihres Besuches heute hat man seinen Brief abgegeben. In dem ersten Schreck eilte ich damit gleich hinter Ihnen her, um es Ihnen sofort zu sagen; aber ich muß wohl nach der entgegengesetzten Seite gegangen sein, denn ich konnte Sie nicht finden. Er scheint seit einigen Tagen hier zu sein, – ich bin ganz verwirrt durch die Nachricht, ich habe ihn ja todt geglaubt.“

„Er ist als reisender Konzertmaler hierher gekommen,“ fügte Konrad verächtlich ein.

„Sie wissen also von seinem Hiersein?“ fragte die Engländerin erstaunt.

„Seit einer Stunde,“ sagte Konrad etwas ungeduldig. „Aber was will er von Ihnen und woher weiß er, daß Sie hier leben?“

„Er schreibt nicht wie ein Gentleman,“ sagte Miß Sikes; „er hat meine Adresse mit Hilfe polizeilicher Nachforschungen in Berlin erfahren und ist ebenso unterrichtet über Magdalenens Aufenthalt bei mir. Er wünscht jetzt, anderer günstiger Aussichten wegen, von ihr, die ihn vor Jahren verlassen hat, endlich auch gerichtlich geschieden zu werden. Zu einer Entschädigung, schreibt er, sei er nicht verpflichtet, da sie von ihm gegangen sei. Er wende sich an mich, da er mit seiner früheren Gattin in beiderseitigem Interesse nicht mehr als durchaus nothwendig unmittelbar verhandeln wolle . . . Was soll ich nun thun? Das arme Geschöpf aus seinem Traume erwecken, – und ich bin überzeugt, daß sie zum Bewußtsein kommt, wenn sie ihn sieht, aber sehen muß sie ihn doch wohl bei solchen Verhandlungen – oder würde eine Angabe ihres Zustandes genügen, um sie davor zu bewahren und doch eine gerichtliche Scheidung herbeizuführen?“

„Das ist eine sehr verwickelte Sache,“ sagte Konrad aufstehend; „um für unheilbar erklärt zu werden, müßte sie von sachverständiger Seite längere Zeit beobachtet werden.“

„Das wäre gleichbedeutend mit gänzlicher Vernichtung für mein armes Kind,“ sagte Miß Sikes niedergedrückt. „Sie ist jetzt das friedfertigste, liebste Geschöpf, bei ärztlicher Behandlung fängt sie zu toben an. Ich habe das alles schon erlebt vor Jahren, – und ich würde mich nie wieder dazu entschließen, sie in eine Anstalt zu geben. Ich habe wie gesagt auch die Ueberzeugung, daß sie gesund werden könnte, wenn sie ihren Mann wiedersähe . . .“

[559] Konrad schüttelte den Kopf. „Das sind Einbildungen, Miß Sikes,“ sagte er. „Ich habe derartigen Versuchen in meiner Praxis beigewohnt. Man hat den Kranken oft unter großen Opfern das von ihnen sehnlichst Herbeigewünschte verschafft, und der Erfolg ist ein nur ganz vorübergehender gewesen. – So würde es auch bei Magdalene sein. Da sie eben wirklich geistig krank ist, würde sie ihn im Augenblick vielleicht erkennen, aber bald darauf zu ihrer Wahnvorstellung zurückkehren.“

„Sie wissen nicht, wie übermächtig das Gefühl für den Elenden in ihr ist,“ sagte Miß Sikes leise. „Es gehört ja eben mit zu ihrem Wahn.“

Konrad hatte sinnend seinen alten Platz wieder eingenommen, mit dem Gedanken beschäftigt, wie der einst so Vielversprechende seinem jetzigen Ansinnen nach heruntergekommen sein mußte. Was es wohl für günstige Aussichten sein mochten, die ihn zu einem so unvermutheten Wiederauftauchen veranlassen konnten? Eine reiche Heirath mit irgend einer heirathslustigen vermögenden Witwe aus niedriger Gesellschaftsschicht? – er malte sich noch andere Möglichkeiten aus, eine erniedrigender für den einstigen Freund als die andere.

„Würden Sie uns Ihren juristischen Rath geben, Mr. Herrendörfer?“ fragte da Miß Sikes zaghaft.

„Nein,“ sagte er hart, „aus Gründen, die Sie achten müssen. Ich will Ihnen gestehen, Miß Sikes, daß mir die Auffrischung dieser alten Geschichte, an der ich recht schwer getragen habe, wenig Glück für meine Angelegenheiten gebracht hat. Nun gar noch selbstthätig einzugreifen, verbietet mir die Rücksicht auf mich und andere. Ich will Ihnen aufrichtig sagen, liebes Fräulein“ – sein Ton wurde weicher und mit unruhigem Blick streifte er das thränenüberströmte Gesicht des alten Fräuleins und dann die Thür, durch die neue abgebrochene Worte in schmelzenden, zärtlichen Tönen drangen, – „daß es mir sehr schmerzlich ist, was die Arme und Sie getroffen hat, – so sehr, daß es auf Augenblicke mein ganzes Denken und Empfinden ins Schwanken gebracht hat. Aber darum noch einmal eine Rolle in dem Leben dieser Frau spielen, noch dazu die des berathenden Freundes, – das kann ich nicht, wenn ich nicht das, was ich vom Leben noch für mich erwarte, aufs Spiel setzen will. Und das sind innere Bedenken,“ fuhr er in anderem Ton fort, „vergessen Sie nicht die Bedingungen, die mir eine juristische Beihilfe in diesem Fall auch äußerlich unmöglich machen, meine sehr angestrengte Thätigkeit in Berlin in erster Reihe –“

Miß Sikes sah ihn rathlos und flehend an.

„Verzeihen Sie mir! In meiner Besorgniß um meinen Schützling habe ich es nicht überlegt, wie taktlos meine Bitte an Sie war. Sie kamen gut und freundlich zu mir und schienen mir wie ein Retter in der Noth, von der Vorsehung geschickt. Ich bin hier sehr fremd geblieben, Magdalenens wegen, und die alte Zeit, die doch manchen Sonnenblick hatte, schien mir mit Ihnen gekommen. Ich war verblendet, aber was soll ich thun?“

„Suchen Sie mit ihm zu unterhandeln, aber ohne Nachgiebigkeit. Sie sind hoffentlich im Besitz seiner Briefe von damals, die sein Unrecht entschieden nachweisen. – Wenn es Ihnen angebracht scheint, bieten Sie ihm Geld. Ich würde zu einem Beitrage in Betracht der alten Freundschaft, die einst meine Eltern mit den Langendorfs verband, bereit sein, natürlich bis zu einer gewissen Grenze und ohne daß der – Schnellmaler davon weiß. Geht er darauf nicht ein, nun, dann müssen Sie einen tüchtigen Juristen zu Rathe ziehen und das Unvermeidliche eben tragen, arme Miß Sikes. Vielleicht läßt sich ein Ausweg finden, eine persönliche Zusammenkunft zu vermeiden. – Wie gesagt, zu einem Geldbeitrage bin ich bereit.“

Miß Sikes erröthete.

„Vielleicht geht es nicht über meine Kräfte, – ich hoffe bestimmt, daß meine kleinen Ersparnisse, – und ich kann gut auch noch einige Stunden mehr geben, – ich danke Ihnen, Sir,“ sagte sie verlegen und ablehnend. „Nun Sie mir einen Weg angegeben haben, ist mir alles etwas klarer geworden. Es war nur der erste Schreck, der mich Sie hineinziehen ließ. Nochmals, vergeben Sie mir!“

Das alte, eckige, vergrämte Gesicht trug in diesem Augenblick einen eigenthümlich verschönenden Ausdruck, der Konrad ans Herz griff. Er kam sich selbst erbärmlich, selbstsüchtig und klein vor gegen die schlichte Aufopferung der alten Lehrerin.

Er zögerte, Abschied zu nehmen, – ihm war bedrückt und ängstlich zu Muth. Er würde gewiß immer mit dem peinlichen Gefühl, eine Unterlassungssünde begangen zu haben, an diese Stunde zurückdenken, sagte er sich, aber was sollte, was konnte er nur thun?

Miß Sikes sah stumm und traurig vor sich hin, der Papagei im Nebenzimmer schrie, dazwischen hörte man ein gedämpftes wohltönendes Lachen. Konrad saß wie im Traume da und ihm war, als ob er eine lange Unterhaltung mit Miß Sikes führte, in der er sich vor ihr rechtfertigte.

Man schellte draußen. Es wurde geöffnet und eine Männerstimme fragte nach Miß Sikes. Konrad hörte es mit Gleichgültigkeit, die alte Dame aber sprang auf, erschreckend blaß und mit versagender Stimme ausrufend: „Das ist er!“

Und er war es.

Gegenüber der Thür, die das meldende Mädchen öffnete, an dem kleinen Spiegel mit dem Ordnen seiner Frisur beschäftigt, stand Werner Lemberg, – und heute wie vor Jahren hatte Konrad Herrendörfer die Empfindung, als müßte er mit einem Wuthschrei auf ihn zuspringen, ihn schütteln, würgen, ihm die Seele aus dem Leib zerren – die falsche, verrätherische Seele.

Mein Gott, konnte er denn nicht vergessen, daß er den Mann da geliebt, fast mehr noch als das schöne blonde Weib, das im Nebenzimmer sang und lachte?

Mußte ihm mit der Blutwelle, die jäh in sein Gesicht stieg, mit dem alten Haß zugleich ein plötzliches, schmerzhaftes Erinnern an das kommen, was dieser Mann ihm gewesen war?

Einen Halbgott hatte er, der kühle Verstandesmensch, wie er sich nannte, einst in dem begnadeten Künstler gesehen, dessen klassische Schönheit ihn noch früher gefesselt hatte als sein glänzendes, bestrickendes, liebenswürdiges Wesen, das ihm die Herzen der Menschen öffnete, ohne daß er es zu begehren schien.

Ueber die höchsten und tiefsten Dinge hatten sie sich ausgesprochen, beim Wein, – in räucherigen Bierlokalen, in mondscheinhellen Sommernächten, und mit welchem Enthusiasmus hatte er sich an den Vielerfahrenen angeschlossen, vor dem manche Hellsehende – sein Vater und sein Bruder waren darunter – ihn warnten, und den er, stolz auf seine Freundschaft, gegen alle „philisterhaften“ Angriffe vertheidigte. Sie hatten ihn eben alle nicht erkannt, sie nahmen ihn, wie er sich bei oberflächlicher Bekanntschaft gab, als genialen, liebenswürdigen, aber durchaus unzuverlässigen Musensohn, – sie ahnten nichts von dem tiefen Gemüth, dem leidenschaftlichen Empfinden, der göttlichen Zartheit dieses Künstlergemüths, was sie allerdings wohl alles aus seinen Bildern hätten herauslesen können.

Aber freilich, die große Menge!

Als die große Menge dann Recht behalten hatte, – ach nein, viel zu glimpflich noch war sie gegen den Elenden gewesen! – da war mit der Freundschaft für ihn auch jedes innigere Empfinden in der Seele des jungen Mannes gestorben. In den Staub gezogen waren die idealen Güter des Lebens, die nur langsam, langsam an seinem geistigen Horizont als erstrebenswerth wiedererstanden, bis sie in der wahrhaften Liebe zu der reinen, jungen Gertrud ihm wieder ganz zu eigen geworden waren.

Wohl ihm, daß ihm in diesem kurzen, aber qualvollen Augenblick des Erinnerns die schönen, unschuldsvollen Augen seiner Braut Trost zusprechen konnten!

Tief athmend strich er über sein Gesicht und wendete sich dem zitternden, alten Fräulein zu, die dem Mädchen noch keinen Bescheid gegeben hatte.

„Nehmen Sie ihn an und fragen Sie nach seinen Bedingungen!“ sagte er fest. „Mir gestatten Sie, mich in ein anderes Zimmer zurückzuziehen, bis Lemberg Sie verlassen hat. Wir können dann sofort weiter sprechen, und es ist Ihnen vielleicht eine Beruhigung, mich in der Nähe zu wissen.“

„Sie können von hier aus nur in dieses anstoßende kleine Zimmer, das von diesem allein durch die Portiere da getrennt ist. Ich weiß nicht, ob es Ihnen recht wäre, so Zeuge des Gespräches zu sein –“ sagte Miß Sikes zögernd.

„Alles lieber, als direkt mit ihm zusammentreffen,“ sagte Konrad, schon die Vorhänge zurückschlagend und hinter denselben, vor einer kaum bemerkbaren Lücke, einen Augenblick verweilend.

Da trat Lemberg ein – nach einem kurzen Blick auf ihn wendete Konrad sich ab . . . Er hatte ihm viel von dem alten [560] Lemberg gezeigt – nur ein klein wenig herabgekommen, müde und gezwungen in seinem ruhigen, gentlemanmäßigen Wesen, das er der alten Miß wohl vorspielen wollte.

Seine Stimme, früher hell und frisch, klang heiser und war das Verkommenste an ihm neben dem häßlichen, wüsten Zug um Augen und Mund.

Als Konrad noch einmal schärfer hinblickte, machte er eine Bemerkung, die der unerfahrenen Miß Sikes wahrscheinlich entging: Lemberg war nicht ganz nüchtern.

Seine ersten Worte konnten auf Rechnung einer leicht erklärlichen Befangenheit geschoben werden, aber jetzt – er stockte – er wiederholte die Phrasen, die er machte – die Zimmerwärme schien ihn mehr und mehr zu verwirren, nachdem er sich in der kühlen Herbstluft von seinem Rausch vielleicht soweit erholt hatte, daß er Muth zu diesem Gange gefaßt – dachte Konrad verächtlich.

Wie hatte er selbst nur so kopflos sein können, die arme Miß Sikes zu veranlassen, jetzt, abends und unvorbereitet, den Besuch dieses Menschen anzunehmen – man hätte ihm eine beliebige Stunde bestimmen müssen.

Er machte sich bittere Vorwürfe und konnte gar keine Entschuldigung für sich finden.

. . . „und da dachte ich mir,“ sagte Lemberg jetzt, auf demselben Stuhl Platz nehmend, auf dem Konrad vorhin gesessen hatte, „ja, ich dachte . . . mache die Angelegenheit gleich klar, den beiden Damen kann damit nur gedient sein, wenn alles so schnell wie nur möglich erledigt wird. Daher auch die etwas späte Stunde meines Besuchs, deretwegen ich höflichst um Entschuldigung bitte.“

„Meine eigene Thätigkeit macht es mir wünschenswerther, Sie jetzt zu empfangen,“ sagte Miß Sikes würdevoll. „Ich würde Sie sonst um eine andere Zeit gebeten haben, wenn es überhaupt nöthig war, daß Sie mich aufsuchten.“

„Ganz zweifellos,“ sagte Lemberg etwas unsicher, „eine noch so kurze Ausprache wird uns mehr fördern als vieles Hin- und Herschreiben.“

Miß Sikes schwieg.

„Ich habe mir erlaubt, Ihnen meine Vorschläge zu machen, darf ich fragen, wie Magdalene sich dazu stellt?“

Miß Sikes dachte nach.

„Sie sind gänzlich im Irrthum,“ sagte sie endlich, „wenn Sie glauben, daß wir ohne weiteres anzunehmen gedenken, was Sie vorschlagen.“

„Ist Magdalene – gesund?“ ging Lemberg nun in viel rücksichtsloserem Ton auf sein Ziel los.

Die arme Miß Sikes schüttelte den Kopf. Lemberg athmete erleichtert auf.

„Sie haben sie auf dem Gewissen. Ihre schändliche Handlungsweise hat das arme Kind in die geistige Nacht getrieben – und als sie daraus durch Ihr Kommen hätte geweckt werden können – die Aerzte haben es alle behauptet – da blieben Sie unter nichtigen Vorwänden weg. Und jetzt, nach Jahren, wo sie äußerlich wenigstens ruhig geworden ist, wollen Sie Ihrer Gewissenlosigkeit die Krone aufsetzen und durch Ihren Anblick, durch Untersuchungen und ich weiß nicht, was alles zu Ihrem Plan gehört, die Aermste vollständig ruinieren. Aber ich werde sie schützen, meine treue Pflege giebt mir ein Recht dazu. Sie wollen noch einmal heirathen. Gut, ich werde die Familie, in die Sie eintreten wollen, vor Ihnen warnen, ich will ihr die arme Magdalene vorführen, die in ihrem Wahn Sie ärger anklagt, als alle Worte es könnten, und ich –“

Miß Sikes konnte nicht weiter. Sie brach in heiße Thränen aus und schien nun in ihrer schmerzlichen Hilflosigkeit selbst auf Lemberg Eindruck zu machen.

Er sah zu Boden und dann fing er an zu sprechen, ganz anders vermuthlich, als er sich vorgenommen hatte. Der alte Lemberg kam wieder hinter dem häßlichen, verwüsteten zum Vorschein. Er war für einen Augenblick nicht der herabgekommene reisende Künstler, der aus geschäftlichen Gründen einen Skandal in das stille Haus der tödlich beleidigten Frau tragen und dabei noch möglichst viel Vortheil aus der Angelegenheit ziehen wollte, sondern ein unglücklicher, zerfahrener Mensch, dem seine hohe, künstlerische Begabung zum Fluch geworden war, weil ihm die Energie zum Guten gefehlt hatte, sprach zu der alten Lehrerin, deren strenges Auge vor Jahren schon so tadelnd auf ihm geruht hatte, als er äußerlich noch in stolzer Kraft und überzeugt von seiner hohen, künstlerischen Aufgabe, vor ihr stand – innerlich bereits dem Wege strenger Rechtschaffenheit untreu geworden – ein Verräther an der Freundschaft und der Mannesehre.

„Meine Heirath mit Magdalene ist mir zum Unglück geworden,“ sagte er, den Blick zu Boden gerichtet. „Sie liebte mich allzusehr, sie beschönigte meine Fehler und bestärkte mich in meinem hohen Selbstbewußtsein. Sie übte niemals Kritik an meinen Bildern und vergötterte alles, was ich that. Das langweilte mich bald, ihre anfangs so viel bewunderte Schönheit schien mir unbedeutend – sie welkte übrigens auch bald – ihre Hingebung ermüdete mich und ihre Duldsamkeit fand ich empörend. Ich hoffte in der Kunst wieder vorwärts zu kommen, ohne sie – und froh, von ihr befreit zu sein, beantwortete ich entsprechend Ihre Briefe, Miß Sikes, die mir die Erkrankung Magdalenens meldeten. Ich hatte da schon alle Schiffe hinter mir verbrannt – ich ging mit der von der Regierung ausgerüsteten Expedition unter della Seglia nach Afrika und führte das übliche interessante, aber mühevolle Nomadenleben solcher Entdeckungsreisenden. Anfänglich malte ich viel, allmählich aber begann die wilde Natur einen andersartigen Reiz auf mich auszuüben. Meine Kunst schien mir erst klein, dann überflüssig der großartigen Wildniß und der Aufgabe gegenüber, die Kultur in sie hineinzutragen.

Jahre lang habe ich keinen Pinsel angerührt, bin drüben geblieben, nachdem meine Gesellschaft oder vielmehr deren Ueberreste längst nach Europa zurückgekehrt waren, und – vielleicht ermüdet von unserer Ueberkultur, habe ich allen Ernstes geglaubt, das wahre Glück unter wilden Völkern, im Kampfe mit der fremdartigen Natur und ihren Geschöpfen gefunden zu haben.

Eines Tages aber, als ich unter einer Sykomore ruhte – ich weiß nicht, wie es kam – fiel es mir ein, daß drüben gerade die Linden blühen müßten, und ein heftiges Verlangen nach dem betäubenden, träumerischen Duft wollte sich nicht mehr stillen lassen. Das war das erste, und dann kam plötzlich ein gewaltiges Heimweh über mich, ein solches Reißen und Zerren nach dem Meer, nach Schiffen, nach Landsleuten, daß ich mich durch Mühsale aller Art nach Alexandrien durchkämpfte und endlich dann auch glücklich die europäische Küste und allen Kulturschwindel wieder erreichte, der so lange wie ein Traum hinter mir gelegen hatte.

Zunächst hungerte ich. Da mußte ich die alte Kunst versuchen, um mir ein Stück Brot zu verdienen. Früher hatte sie mir Geld im Ueberfluß gebracht – aber ich war ein Wilder geworden, an Stoffe zu Gemälden konnte ich gar nicht mehr denken. Es hätte auch zu lange gedauert, bis ich mit einem Bilde etwas verdient hätte, und da malte ich denn, was vorkam – für das tägliche Brot.

Ich lernte die Noth kennen, die Kunst verachten und das Geld lieben. Je schneller ich malte, desto mehr verdiente ich. Ich wanderte dabei herum und fand Spaß an dem Vagabundenleben. Ich hatte die feste Ueberzeugung, daß es nur meines Wollens bedürfte, um wieder Hervorragendes zu leisten – wer eine ‚Ophelia‘ gemalt hatte, der durfte nur mit Energie wollen. –

Und dann kam mir der Gedanke, daß ich ein Weib hatte. Er ließ mich zuerst kalt, allmählich aber fing er an, mich zu bedrücken. Ich begann mich unfrei zu fühlen.

Eines Tages, in Barcelona war es, lernte ich einen Gastwirth kennen, der über meine Fähigkeit, schnell hübsche, augenblendende Bilder zu malen, in großes Staunen gerieth. Ich sollte die Kolonnaden seines Hauses ausmalen, es sammelte sich auf seine Veranlassung Publikum um mich, das voller Bewunderung die glühendsten Landschaften unter meinem Pinsel entstehen sah.

Die stürmischen Beifallsbezeigungen stachelten mich zu immer erstaunlicheren Leistungen an – der spekulierende Wirth ließ eine Zigeunerbande aufspielen – das Publikum fand sich scharenweise ein. Die Zigeuner spielten ihre Fandangos und Sarabanden, ich gab meine Pinselkunststücke zum besten und die begeisterten Zuschauer wollten vor Entzücken vergehen.

So entstand in Barcelona in einem heißen Sommer, der reich an Entbehrungen aller Art gewesen war, der Konzertmaler Señor Pablo.

Ich fand einen Impresario und reiste eine Zeit lang, ich kann wohl sagen mit Vergnügen, denn das Neue und Wechselvolle reizt. Aber nun wollte ich auch wieder ein wirkliches Bild schaffen, in meiner alten Art, ich hatte einen Stoff gefunden, [562] eine Rizpah sollte es werden, die die Leichname der geliebten Söhne vor Schändung bewahrt. Ich hatte ein wunderbar schönes Modell, in meiner Phantasie lebten die glühenden Farben der südlichen Landschaften, und ich malte mit einem guten Stück der alten Künstlerbegeisterung.

Aber . . . das Können hielt nicht mit dem Wollen Schritt. Ich konnte nichts mehr ausführen, die angewöhnte böse Handwerksmanier ließ sich nicht verleugnen. Ich quälte mich furchtbar, ich mußte das Bild zwingen – und als ich es endlich fertig hatte, glaubte ich denn auch ein Meisterwerk geschaffen zu haben, gegen das die ‚Ophelia‘ ein blasser Schatten war. Ich schickte es zur Ausstellung nach Düsseldorf . . . man verweigerte die Annahme. Es wanderte nach Berlin . . . und es kam zurück, ohne ausgestellt worden zu sein. Wuth und Verzweiflung faßten mich – ich versuchte das Menschenmögliche – umsonst, ich drang nicht mehr durch; sie wollten die Naturwahrheit des schönen Bildes nicht anerkennen. Uebertrieben, unfein, unkünstlerisch nannten sie es.

Unterdessen brachten mir meine Konzertreisen Geld und Ruhm. Nicht den göttlichen, von dem ich einst geträumt und auch schon gekostet hatte – eine ganz andere Sorte – aber in Ermangelung von anderen nahm ich auch mit diesen billigen Lorbeeren vorlieb und malte, malte Abend für Abend Waldlandschaften, Wüstenscenen, Gletscher und Seestücke zu den tagesüblichen Gassenhauern.

Aber ich fing an, des Treibens müde zu werden, meine Augen fühlten sich auch angestrengt – und ich sehnte mich oft nach einem kleinen, ruhigen Hafen, in dem ich meine gute Cigarre rauchen, träumen, philosophiren könnte, ohne nöthig zu haben, den Leuten bunte Kunststücke vorzumachen.

Eines Abends in München stand ich rathlos vor meiner Palette, auf der die Farben in einem wüsten, bunten Knäuel durcheinander tanzten. Vor mir saß eine hübsche, dicke Frau, mit vielsagenden dunkeln Augen – ich fixirte sie, um mich wieder zu sammeln, und es gelang mir einigermaßen. Die reichgekleidete Person hatte mein Fixiren anders aufgefaßt – ich näherte mich ihr, als ich das während der Pause bemerkte – und siehe da, der ersehnte Hafen war gefunden!“

Ein häßliches, gemeines Grinsen erschien auf dem gerötheten Gesicht Lembergs, von dem der veredelnde Ausdruck der Reue längst verschwunden war wie der weiche Ton aus der Stimme.

Miß Sikes war während des langen Berichtes mehrmals halb aufgestanden – bei der letzten Bemerkung stieß sie ihr zornigstes „shocking“ aus und veranlaßte durch ihre kalten, strengen Blicke den Redenden, in seiner Erzählung innezuhalten.

„Ich glaube nicht, Sir,“ sagte sie, so gemessen als ihr in ihrer Erregung möglich war, „daß Sie hergekommen sind, um mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen.“

„That ich das?“ fragte Lemberg verwundert. „Nun, dann hatte das den Zweck, Ihnen zu erklären, daß die schöne, reiche Witwe mir freundlich ein behagliches Heim angeboten hat und daß daher eine Scheidung von Magdalenen nothwendig ist. Ich habe mich zu dem Zweck an Sie gewendet, aus reinem Zartgefühl – wahrhaftig! – Magdalene . . . “

Ob er den Namen lauter rief, ob ein inneres Gefühl, mächtiger als die Scheu vor Fremden, die sie sonst zurückhielt, in der armen Kranken gesprochen hatte, die Thür zum Nebenzimmer öffnete sich und im hellsten Licht stand Magdalene einen Augenblick in dem Thürrahmen, in ihrem weißen, phantastischen Gewande einer Erscheinung aus einer andern Welt gleich.

Ihr schönes Gesicht erblaßte und schien zu erstarren, dann öffneten sich die Augen weit, weit – Purpurröthe strömte in die Wangen, und mit einem jubelnden, schluchzenden, herzergreifenden Ruf stürzte sie auf den wie verzückt nach ihr starrenden Mann, umschlang ihn mit ihren Armen und flüsterte, weinte und lachte, und küßte ihn wieder und wieder mit aller Gluth, welche die langen Jahre hindurch ihren Wahn durchlodert hatte.

Und er! Sprachlos starrte er auf das Wunder in seinen Armen. Eine welke, verhärmte Frau hatte ihn verlassen – hier fand er sie nach Jahren wie auferstanden, neu geschmückt mit allen Reizen menschlicher Schönheit. Ein Aufwallen der Leidenschaft, die ihn vor Jahren zu dem schönen Geschöpf geführt hatte, vereint mit dem gluthvollen Entzücken des Künstlers durchfuhr ihn, und er umfaßte das schöne, bebende Weib.

Helle Röthe flammte über sein Gesicht, seine Augen leuchteten auf und sein Mund öffnete sich gierig.

Miß Sikes schrie in namenlosem Entsetzen auf. Ein Blick auf sie gab dem doppelt Berauschten die Besinnung.

„Das ist ja eine hübsche Fabel, die Sie mir da erzählt haben, verehrtes Fräulein,“ sagte er höhnisch. „Du sollst krank sein, mein Lieb – komm, Du gehörst zu mir! Laß alles – geh mit mir! Was ist behagliches Leben an der Seite einer andern gegen Deine wundervolle Schönheit, Du herrliches Weib! O Magdalene, warum waren wir so lange getrennt! Wie konnte ich Thor vergessen, wie schön Du bist und wie Du mich liebst … Komm – komm!“

Und Magdalenens Blicke hingen voller Gluth und Anbetung an ihm – durch die hellen Glücksthränen hindurch, die aus den leuchtenden Augen strömten.

„Ich wußte ja, Du würdest wiederkommen. Aus langem Traum bin ich erwacht – nun ist es Tag, denn Du bist wieder da,“ flüsterte sie, sich an ihn schmiegend. „Aber Du bist kalt, komm in mein kleines, warmes Reich, in dem ich so viel an Dich gedacht habe.“

Mit neu entbrannter Leidenschaft zog er sie an sich – da fiel ihm jemand an den Arm und riß ihn zur Seite.

Er sah in Konrad Herrendörfers todtblasses Gesicht, aus dem heftiger Zorn, Haß, Leidenschaft ihm entgegenblickten.

„Du wirst sie nicht weiter berühren, Lump, der Du bist!“ sagte Konrad dumpf, aus zusammengeschnürter Kehle. Er wollte weiteres hinzufügen, aber die Worte versagten ihm. –

Nun hatte Lemberg ihn erkannt, von dem er einst in heiterer Freundschaft nach einem lustigen Abend Abschied genommen hatte – während er ihn schon längst betrog . . . er zuckte zusammen, einen kurzen Augenblick verblüfft vor Schreck und Scham.

Aber dann sah er plötzlich klar. Der Nebel, den sein leichter Rausch, das unvermuthete Wiedersehn mit der hinreißend schönen Frau über seine augenblickliche Lage, den Zweck seines Hierseins, seine Zukunftspläne gebreitet hatte, schwand und damit auch der Rest der besseren, reuevollen Gefühle, die ihn eine Zeit lang beherrscht hatten.

Ein unaussprechlich gemeines, verständnißvoll sein sollendes Lächeln verzog seinen Mund, und sein Blick glitt von dem ehemaligen Freunde zu seiner Frau, die voll ungeduldiger Freude da stand, unbekümmert um alles andere, was um sie her vorging.

„Sie haben in meiner Abwesenheit Ihre älteren Rechte auf diese Dame geltend gemacht,“ sagte er in gemacht leichtem Ton. „Gut, hier ist nicht der Ort, wo über dergleichen gestritten werden darf. Aber ich freue mich, daß Sie mich zur rechten Zeit über einen verhängnißvollen Irrthum aufgeklärt und mir damit die beste Handhabe für meine Klage vor dem Gesetz gegeben haben.“

Er wandte sich nach der Thür. Konrad konnte vor Erregung noch kein Wort finden, Miß Sikes aber trat zitternd an den Maler heran und sagte:

„Sie sind es, der sich in einem verhängnißvollen Irrthum befindet. Magdalene ist unheilbar geisteskrank.“

Lemberg zuckte verächtlich die Achseln und öffnete die Thür. Da stürzte Magdalene voller Todesangst auf ihn zu.

„Verlaß mich nicht!“ schrie sie gellend. „Du darfst nicht noch einmal fort – ich kann nicht leben und wachen ohne Dich. Ich verzeihe Dir alles, alles – aber nimm mich mit! Ich will noch nicht sterben – das Wasser ist so trübe, die Weide rauscht so traurig – ich habe auch keine Blumenkränze – und Du …“

Schluchzen erstickte ihre Worte, ihre Augen starrten mit unnatürlich erweiterter Pupille und dem leeren Blick nach ihm, den er ihnen einst auf seinem Bilde gegeben hatte.

„Ophelia,“ schrie er auf, und von Grauen erfaßt, machte er sich aus den ihn umklammernden Armen los, stürzte aus dem Zimmer, dem Hause, und hinaus in den dunkeln Herbstabend, der trüb, mit schweren, grauen Wolken auf der Stadt lagerte.

Die Unglückselige aber, die eben vom Gipfel höchsten Glückes in den Abgrund tiefster Verzweiflung geschleudert worden war, lag in Krämpfen auf dem Fußboden, für einen Augenblick von aller erträumten Qual und Glückseligkeit befreit.

Der erschütterte Konrad verließ die Frauen mit dem Versprechen, einen Arzt zu schicken und am nächsten Morgen zu weiterer Rücksprache bei Miß Sikes zu erscheinen.

Ihn fror. Wie traurig war das Leben! Es giebt kein Entrinnen vor dem Leid der Vergangenheit; düster überragt es alles Glück der Gegenwart und seine Schatten verdunkeln die Sonne, die eben hereinbrechen will. – – – – – – – – – –

[575]
Der Morgen ist da, lichtlos, mit schwer herabhängenden Wolken. Ohne Bewegung liegt das große, graue Wasser da, an dessen Rand alte, mit spärlichem gelben Laub bedeckte Bäume stehen.

Die Luft ist weich, fast wie Frühlingsluft. Und einem Frühlingssturm gleich rauscht es auch in den alten Kronen auf – mit tausend Stimmen, die sich erst flüsternd, dann rauschend, zuletzt brausend von Baum zu Baum schwingen. Aber es sind keine Frühlingsstimmen, der weiche sausende Wind rüttelt keine erwachenden Knospen zu neuem Leben auf, – er jagt die letzten gelben Blätter von den kahlen Aesten, daß sie über das trübe Wasser tanzen und die letzten Sommerträume hierhin und dorthin tragen.

Die Staketthür des Gartens wird leise geöffnet. Noch ist das Leben im Hause nicht erwacht, nur aus einem Fenster im zweiten Stock glimmt ein Licht trübe in den werdenden Tag.

[576] Die Frau, die den kleinen Garten betritt, sieht triumphirend nach oben und eilt dann vorwärts nach dem Teichrand, der durch einen schmalen Holzzaun vom Garten getrennt ist. An einer Stelle ist der Zaun unterbrochen. Man tritt da auf einen Steg, an dem im Sommer ein Boot angekettet liegt. Eine alte, verkrüppelte Weide, deren Wurzeln schon im Wasser hängen, ragt mit einigen Aesten darüber.

Da steht nun die blonde Frau wie schon oft, oft zuvor, greift in die überhängenden Aeste und starrt brütend in das Wasser.

Eben erhebt sich ein neuer Stoß des Windes. Magdalene sieht auf. Ihr ist, als müßte dieser Sturm sie an etwas erinnern. Hat er nicht ein ungeheures, nicht auszudenkendes Leid zu ihr gebracht? Erzählt er ihr die alte Geschichte von ihrer Liebe, – erinnert er sie an den schönen Traum von kurzem Glück, den bösen von langem Leid? Flattern in ihrer armen, kranken Seele ein paar irre Gedanken zu dem Verrath, durch den sie ihre kurze Liebesseligkeit erkaufte? Etwas von allem erwacht in ihrem Sinnen, wie sie auf dem Steg steht, die Weide umklammernd und halb unbewußt den tausend Stimmen lauschend, die um sie ertönen.

Der Wind reißt an dem Tuch, das sie über ihr leichtes Morgenkleid genommen hat, und verwirrt ihr Haar, das in starken, goldschimmernden Flechten über den Rücken hängt. Eben peitscht er eine lange Strähne über ihr Gesicht. Was war das? Stroh? Waren es die Blumengewinde, die auf dem Bilde damals ihr Haar geschmückt?

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckt es ihren Körper.

Sie weiß es jetzt, was sie von dem warmen Lager fortgetrieben hat, neben dem ihre treue Hüterin erschöpft in tiefem Schlaf ruht, – und hierher, gerade hierher.

Ophelia . . . das ist’s! Sie muß die Weide rauschen, das Wasser murmeln hören . . . sie ist ja jene Unglückselige, und alles andere ein Traum, der nun zu Ende geht.

Magdalene? Werner? Ein irres Lächeln huscht über ihre Züge. Er ist ja doch da gewesen, – er hat sie geküßt, und dann hat er sie Ophelia genannt und ist davon gegangen. – Ein gebrochener Schmerzenslaut entringt sich ihren Lippen, aber gleich darauf muß sie lachen.

Ein welkes Blatt schlägt in ihr Gesicht und springt dann hinunter ins Wasser. Und da noch eins, und da wieder eins, und da tanzen sie auf den grauen Wellchen und treiben weiter hinein. Sie muß immer mehr lachen, zuletzt ist es ein unheimliches, gellendes Schreien, das sich mit dem Sausen des Windes vermischt. Dazu stürzen Thränen aus ihren Augen, Wahngebilde mischen sich mit dem, was sie sieht, und mit leisen Anklängen aus der Wirklichkeit.

Das graue Tuch flattert von ihren Schultern, sprühender Nebel um sie her, – die Bäume vom jenseitigen Ufer strecken ihre halbkahlen Arme nach ihr herüber und die welken Blätter wirbeln durch die Luft.

Eine plötzliche Angst faßt sie; das Heulen des Windes verstärkt sich in ihren Ohren zu einem Toben, aus dem drohende, unverständliche, wirbelnde Geräusche sie umbrausen. Sie schwellen an wie ein gewaltiger Orgelklang, der näher und näher auf sie zukommt … „Ophelia, Ophelia“ rauscht es um sie …

Sie umklammert den Weidenast, sie tritt vorwärts – der Ast bricht – sie stürzt in das Wasser …

Einen Augenblick halten ihre Kleider sie noch oben, dann, mit Wasser getränkt, ziehen sie sie hinab. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und so endete der Traum des schönen Weibes, das nur für ihre einzige, große Leidenschaft gelebt hatte.

Das Bild, das einst den ersten Schritt in ihr Unglück vorbereitet hatte, war eine düstere Prophezeiung für sie geworden, – gleich wahr für ihr Leben wie für ihr Sterben.

Wie auf dem berühmt gewordenen Gemälde spielten die gelben Blätter auf dem Wasser, die Weide hing ihre entlaubten Aeste hinein, und trüb und grau lag der Herbsthimmel auf dem Ganzen.

Die Stelle aber, wo die liebreizende Ophelia noch vor Minuten gestanden, mit leerem ängstlichen Blick in unbekannte Weiten starrend, – war leer. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gertrud war spät erwacht. Nun stand sie traurig am geöffneten Fenster, ließ sich von der linden Luft die brennenden Augen kühlen und dachte an ihn, der allein ihrem Leben Inhalt geben konnte.

Die gestrige Aufregung war verflogen, nur noch in leisen Nachklängen zitterte sie durch die bewegte Seele.

Es war ihr klar geworden, daß sie keinem Jüngling ihr Herz gegeben hatte, daß Konrad Erfahrungen im Leben gemacht haben mußte, an denen sie kein Theil haben konnte. Aber was ihr gestern, verstärkt durch den Eindruck, den sie durch die schöne Frau empfangen hatte, unüberwindlich für ihren Stolz erschienen war, das sah sie heute in einem andern Lichte.

Wie konnte sie erwarten, die erste, die einzige Liebe eines Mannes wie Konrad zu sein, – wie hatte sie nur den Muth finden können, das vor ihm auszusprechen!

Sie schämte sich jetzt ihres leidenschaftlichen Ausbruches, und ein furchtbarer Schreck faßte sie, wenn sie dachte, daß er ihre trennenden Worte für Ernst hätte nehmen können.

Nein, nein, sie wollte zufrieden sein mit dem, was er ihr gab. Vielleicht, wenn sie ganz und für immer bei ihm wäre, würde sie sich langsam erringen, was ihre feurige erste Liebe von ihm erwartet hatte. Wenn er nur erst wieder da wäre! Aber was würde sie ihm sagen? Und in welcher Stimmung würde er ihre Worte entgegennehmen? Weiß Gott, was Miß Sikes gestern noch von ihm gewollt hatte! Ernstes mußte es gewesen sein. Ob es mit der Anwesenheit des verrätherischen Freundes zusammenhing? Ob Konrad noch bekümmert war? O, sie wollte ihn zu trösten versuchen, – sein Leid war ja ihr Leid! Wenn nur die kranke Frau nicht so wunderschön gewesen wäre! Sie mußte dieselbe sich wieder vorstellen, und wenn sie sich dachte, daß er diese Lippen geküßt, diese goldenen Haare gestreichelt, in diese leuchtenden Augen voll sehnender Liebe geblickt habe, dann stiegen ihr von neuem brennende Thränen auf, und sie sagte sich muthlos: „Es ist alles vergebens, – er wird sie nie vergessen!“

Darüber kam Tante Lina, der Gertrud noch gestern abend eine vollkommene Beichte abgelegt hatte.

Sie war seltsam erregt; mit gespannten Blicken schaute sie auf Gertrud und setzte mehrmals zu einer Rede an, die doch nicht über die Lippen wollte. – Gertrud bemerkte es. Sie lächelte traurig und küßte die liebe alte Freundin, die sich sicherlich schwere Gedanken um ihretwillen machte, die nach Trostworten für sie suchte und sie nicht finden zu können schien.

„Beunruhige Dich nicht um mich, liebe Tante,“ sagte sie. „Ich bin schon wieder ganz vernünftig. Ich war sehr thöricht gestern und vergaß ganz, wie lieb ich ihn habe. Wenn Konrad mich will, so wie ich bin, – ich werde mir rechte Mühe geben, weniger anspruchsvoll zu sein, und . . .“ nun wollten die Thränen doch schon wieder kommen.

Tante Karoline strich über ihr blondes Haar.

„Das ist recht!“ sagte sie. „Die echte Liebe darf auch nicht fragen, ob sie in derselben Münze wieder erhält, was sie hergiebt. Aber das ist es nicht, was mich bekümmert, – ich habe Dir etwas Erschütterndes mitzutheilen und weiß nicht, wie Du es auffassen wirst.“

„Um Gotteswillen, – Konrad!“ rief Gertrud mit versagender Stimme.

„Die schöne Irrsinnige ist plötzlich gestorben!“ sagte Tante Lina nun ohne Umschweife.

Gertrud sah sie mit weitgeöffneten Augen an.

„Ophelia?“ fragte sie mechanisch.

Die alte Dame nickte.

„Ich habe mich bisher um die Nachbarschaft der alten englischen Lehrerin nicht gekümmert,“ sagte sie, „außer daß ich mich auf Deinen Besuch freute, wenn Du aus der Stunde kamst. Heute aber wurde unser ganzes Stift durch die Nachricht alarmirt, welche von den Hausleuten zu uns getragen wurde. Ich nahm natürlich nach Deiner gestrigen Erzählung noch besonderen Antheil daran.“

„Erzähle!“ bat Gertrud, noch wie erstarrt. „Ist es gestern abend gewesen?“

„Gestern abend soll sie heftig erkrankt sein. Miß Sikes und das Mädchen haben bei ihr gewacht, bis sie selbst eingeschlafen ist, und sind dann gegen morgen beruhigt zu Bett gegangen. Als sie erwacht sind, ist die Kranke verschwunden gewesen und man hat sie, kurz gesagt, nicht lange danach in dem Schloßteich, an den das Gärtchen des Hauses stößt, aufgefunden.“

„Mein Gott, davon phantasirte sie gestern,“ brach es von Gertruds Lippen. „Ich verstand sie nicht, sie sprach von Ophelia, – o, wie war sie lieblich . . . Ach Tante . . . “ Ihre Erregung [578] brach sich in einem heftigen Schluchzen Bahn. Plötzlich fuhr sie auf . . . Konrad – was würde er sagen, wie würde er leiden, was mochte vorgegangen sein? Vielleicht war er betheiligt. – Ihr Herz zog sie zu ihm. Da waren alle Bedenken, aller Stolz, aller Trotz ganz verschwunden vor dem einen Gedanken: es wird ein großer Schmerz für den Geliebten sein und du mußt ihn ihm tragen helfen, ihn trösten, ihm zeigen, daß du ihm auch in ernsten Lebensstunden etwas sein kannst.

Zögernd sagte sie zu Tante Lina: „Ich möchte Konrad sprechen.“

„Er ist gewiß benachrichtigt,“ meinte die Tante, „aber wenn Du meinst, können wir ja hinschicken.“

„Nein, nein, ich möchte selbst hin,“ sagte Gertrud. „Gehst Du mit?“

„In sein Hotel? Gott bewahre, Kind – Ihr seid noch nicht verlobt, und selbst dann wäre es ein unpassender Schritt, der Deines Vaters Billigung schwerlich finden würde.“

„Darauf käme es mir jetzt nicht an,“ sagte Gertrud trotzig. „Ich gehöre zu Konrad, und es ist für unser ganzes kommendes Leben von Wichtigkeit, daß ich jetzt bei ihm bin.“

„So lasse ihn bitten, sofort zu kommen,“ redete Tante Karoline zu.

„Darüber vergeht zu viel Zeit, und Miß Sikes kommt mir zuvor, und . . . ach, Tante, ich kann nicht anders, ich muß zu ihm, – und ich gehe allein, wenn Du nicht mitkommst!“

„Das darf ich nicht, und ich dulde auch einen so auffallenden Schritt von Deiner Seite nicht. Dein Vater hat Dich mir übergeben, – Du weißt selbst noch nicht, ob er diese Verbindung billigen wird.“

„Das wäre mir jetzt gleichgültig,“ rief Gertrud mit glühenden Wangen. „Ich ginge doch mit Konrad.“

Tante Lina schlug entsetzt die Hände zusammen, aber sie kam zu keiner Erwiderung, denn das Mädchen meldete: „Herr Rechtsanwalt Herrendörfer“.

Gertrud flog ihm jauchzend entgegen, warf sich in seine Arme, trotz der Anwesenheit der Tante, und er, auf eine kleine Scene gefaßt, machte sie heute nicht auf den Wunsch des Vaters aufmerksam, – weich gestimmt, wie er nach dem gestrigen Erlebniß war, küßte er sie zärtlich, gab ihr tausend Schmeichelnamen und schmückte sie mit den duftenden Rosen, die er ihr gebracht hatte.

Tante Lina hatte sich entfernt. Sie wollte kein strenges Wort in die junge Glückseligkeit hineinreden – sie ging still ins Nebenzimmer, und vielleicht wanderten ihre Gedanken zu den eigenen, längst vergangenen Rosentagen.

Konrad war noch ahnungslos. Er wollte nach den gestrigen Erfahrungen mit Gertrud nicht von der Tragödie sprechen, die er mit erlebt hatte, – obgleich sie ihn unausgesetzt beschäftigte.

Sollte der Elende seine Drohung wahr machen und seinen, Konrads, Namen in die Scheidungsklage verwickeln, dann mußte er eben das Weitere abwarten. Jedenfalls wollte er nicht mit Gertrud, sondern mit deren Vater vorher die Angelegenheit besprechen.

Höchlich überrascht war er, als Gertrud ihn plötzlich fragte, was Miß Sikes gestern noch von ihm gewollt habe.

Sie sagte ihm, wodurch sie von seinem Besuche unterrichtet sei, und als er zögerte, bat sie ihn so inständig, als Zeichen, daß er ihr ihre gestrige Unvernunft vergeben habe, – ihr von allem zu sprechen, so daß er ihr schließlich die Vorkommnisse des Abends kurz berichtete, auch mit der peinlichen Wendung, die sie zuletzt für ihn genommen hatten, – und von seiner Verabredung mit Miß Sikes, sie noch vormittags aufzusuchen.

„Sie erwartet Dich also,“ sagte Gertrud leise, – „daher . . .“

„Was?“

Und da legte sie den Kopf an seine Schulter, umschlang ihn fest mit ihren Armen und erzählte ihm unter Thränen von dem tragischen Ende der schönen Ophelia.

Eine Weile schwieg er erschüttert. Er war sehr blaß geworden und ein heftiges Frösteln durchschauerte ihn.

„Also das mußte das Ende sein!“ sagte er leise. „Arme Magdalene!“ Er legte die Hand über die Augen – „und arme Miß Sikes!“ sagte er, sich gewaltsam zusammennehmend und schnell aufstehend. „Ich muß sofort hin; ich will ihr in jeder Weise beistehen, was ich ihr gestern verweigern mußte.“

„Nimm mich mit,“ bat Gertrud; „es giebt da gewiß manches für eine weibliche Hand zu helfen!“

Er überlegte. „Und Dein Vater?“ fragte er.

„Er wird es billigen, daß ich jetzt bei Dir bleibe, – da ich durch nichts mich von Dir trennen lassen würde.“

„Und wenn Dein Vater Dir sagte, daß ich Deiner Liebe nicht würdig wäre?“

Ein ungläubiges Lächeln flog über ihr Gesicht, das erste heute. Sie erwiderte kein Wort, – aber sie lehnte sich fest, fest an ihn, – und ihre glänzenden Augen sagten: „Du bist der Herrlichste, der Beste, – und ich das glückseligste Weib!“ – – –

Er nahm sie nicht mit in das Sterbehaus. Sie war der armen Miß Sikes immerhin eine Fremde, während er selbst sich zu ihr gehörig fühlte. War sie doch der einzige Halt des armen, verlorenen Weibes gewesen, dem einst seine heiße Liebe gehört hatte, und in dieser Stunde ernster, schwermüthiger Trauer gelobte er sich, ihre uneigennützige Treue nie zu vergessen, sich ihr gewissermaßen als Ersatz für das verlorene Schmerzenskind zu bieten.

Er fand sie gefaßter, als er gedacht hatte. Ihre Thränen flossen zwar unaufhörlich, und ihr Gesicht schien noch spitzer und vergrämter, – aber ihre strenge Religiosität hinderte sie daran, sich in ihrem großen Schmerz gehen zu lassen.

„Die Aermste konnte nicht wissen, was sie that, – wenn wir nicht einen Unglücksfall annehmen wollen,“ – tröstete Konrad sie. „Die Vorstellung des unglückseligen Bildes muß sie immer verfolgt haben.“

Und er erzählte ihr von Gertrud Heins Zusammentreffen mit Magdalene, und wie sie von dem Teich unten und den Weiden gesprochen habe.

„Meine Ahnung führte mich auch sofort hinunter,“ schluchzte Miß Sikes, „als ich erwachte und ihr Bett leer fand. Sie hat den kleinen Garten immer geliebt. Wir liefen sofort hinunter, mein Mädchen und ich, – da lag ihr Tuch halb auf dem Steg, halb im Wasser, – und da haben wir sie denn auch bald gefunden. Der Arzt sagt, ein Schlagfluß müsse sie getroffen haben. Ihr liebes schönes Gesicht zeigt keine Spur eines Kampfes, – nur ein wenig ängstlich erstaunt sieht sie aus . . . o Gott, der Bube, der dieses holde Geschöpf vernichtet … möge die Strafe des Himmels ihn treffen!“

„Die hat ihn längst ereilt,“ sagte Konrad. „Er konnte Großes leisten und ist in den Schlamm gesunken, – und er ist sich dessen auch in vollem Maße bewußt. Eine härtere Strafe giebt es kaum für ihn. Doch jetzt nichts mehr von ihm! Lassen Sie mich Ihnen helfen, verehrtes Fräulein, – später will ich Ihnen noch einen andern Beistand bringen.“

Er erzählte ihr flüchtig von seinem jungen Glück, – und sie mit dem Edelmuth großer Naturen nahm theil daran, trotz ihres großen Schmerzes, trotz der Bitterkeit, die in ihr aufstieg, wenn sie bedachte, wie anders das Los ihres todten Lieblings an dieses Mannes Seite gewesen wäre.

Sie besprachen dann das Nothwendige, – und wenn möglich, so fand die arme Miß Sikes einen Trost darin, daß die Widerwärtigkeiten des drohenden Scheidungsprozesses ihr und ihrem Liebling fern geblieben waren.

Magdalene hätte unendlich leiden müssen, auch wenn ihr nicht ganz klar geworden wäre, um was es sich handelte, – nun ruhte sie in Frieden!

Ja, träumerische Ruhe, tiefer Friede, aber zugleich eine staunende Frage lag auf den wunderbar schönen, edlen Zügen. – In der fremdartigen Blumenpracht ihres Zimmers, in dem sie so lange geträumt, ruhte sie nun selbst wie ein verkörperter Traum von hinreißender Schönheit und Holdseligkeit.

Lange stand Konrad bei dem Lager, und wunderliche, hohe, ihm sonst nicht vertraute Gedanken zogen durch seine Seele.

Endlich beugte er sich nieder, küßte die kalte Stirn und legte die Rosen, die ihm Gertrud für sie gegeben hatte, in die schönen, starren Hände.

Alle Bitterkeit, die unbewußt die langen Jahre hindurch in ihn, gewirkt und ihm die Welt vergällt hatte, schwand aus seinem Herzen, und voller Wehmuth, aber innerlich frei, nahm er Abschied von dem Traume seiner Jugend, das Leben lag klar und reizvoll vor ihm. – – – – – – – – – – – – – –

Am Abend des nächsten Tages kehrte Gertruds Vater von Berlin zurück. Frohen Herzens wollte er nun, nach allem, was er über Konrad gehört hatte, den Bund seines Kindes segnen. Er fand zu seinem Erstaunen Konrad bereits als erklärten Bräutigam [579] in seinem Hause und Gertrud, sein sonst so gehorsames Kind, in ein bewußtes, liebendes Weib verwandelt, das seinen Segen dankbar als eine Vergrößerung ihres Glücks, aber nicht als dessen unerläßliche Bedingung hinnahm – und aufrichtig, wie sie war, auch kein Hehl daraus machte.

Es war ja nun gut so, – dachte der Vater bei sich, – aber es hätte auch anders kommen können, und – – nun, er wollte hoffen, daß für sein Kind alles zum Glück sich wenden würde, und, da sein Schwiegersohn ihm von Stunde zu Stunde besser gefiel, Gertrud auch freudigen Herzens in das selbsterwählte Leben ziehen lassen. – – – – – – – – – – – –

Am nächsten Morgen wurde die schöne Ophelia zur letzten Ruhe gebettet. Gertrud hatte den Geliebten zum Kirchhof begleitet, und nun standen sie, ein stilles Gebet sprechend, an dem frischen Hügel, an dem sie außer Miß Sikes und dem Geistlichen die einzigen Leidtragenden waren.

Nur ein Mann noch war zu der frühen Stunde in einiger Entfernung anwesend.

Als der Miß Sikes befreundete Geistliche das Vaterunser sprach, machte er eine Bewegung, als wollte er näher treten, – aber er wagte es nicht. Scheu blieb er hinter dem Stamme einer alten Ulme stehen und sah voller Erregung nach dem Sarge. Er hatte eigentlich das größte Recht, eine Handvoll Erde auf den schönen Leib dort zu werfen, – er sagte sich, es wäre thöricht, daß er es nicht thäte, – – nein, es wäre thöricht, daß er hierher gegangen, und er wollte auch der Komödie ein Ende machen!

Er wendete sich und eilte, innerlich von Reue geschüttelt, wie vor wenig Tagen von der lebenden, – heute von der todten Ophelia.

Aber ihr Bild kann er nicht mehr los werden, – wie sie sich flehend an ihn klammert, wie er sie von sich stößt, – und wie sie dann, ihrem unglücklichen Vorbild gleich, in den trüben Fluthen Ruhe sucht vor ihren Träumen.

Alles das steht ihm immerdar vor Augen, und damit zugleich auch sein Verschulden an dem Edelsten der Schöpfung . . . einer Menschenseele! –