Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Von Athen, der Misanthrop
Band VI A,2 (1937) S. 12991301
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12) T. von Athen, der Misanthrop. Nach den aus dem Altertum vorliegenden Nachrichten war er ein Sohn des Echekratidas aus dem städtischen Demos Kollytos (Lucian. Tim. 7, 50. Alciph. II 32. Diog. Laert. III 1, 3) und lebte etwa zur Zeit des Perikles. Aristophanes erwähnt ihn Av. 1547; Lys. 805 und ebenso nach Plut. Ant. 70 der Komödiendichter Platon. Nach schweren Schicksalen (θεομισής gottverhaßt bei Aristoph. Av. 1547, Ggs. zu θεοφιλής wie bei Plat. rep. X 612 c), an denen seine Mitbürger wohl nicht unschuldig waren, verfluchte er diese (Aristoph. Lys. 815) und zog sich in die Einsamkeit vor den Toren Athens zurück. Nach Neanthes v. Kyzikos bei Suid. s. ἀπορρώξ und Schol. Lys. 808 (= FHG III frg. 35. Jacoby FGrH II frg. 16) starb er schließlich an einer Hüftverrenkung, die in Fäulnis übergegangen war, weil er in seinem Menschenhaß keinen Arzt zuließ, und ward im Demos Halai am Wege nach Zoster und Sunion auf einem Küstenvorsprung begraben, den das Meer später vom Strande losriß.

Soweit die Nachrichten: wieviel davon auf [1300] wirklichen Begebenheiten beruht, ist sehr zweifelhaft. In der Lysistrate beginnt der Chor der Greise, um die Weiber zu ärgern, eine Geschichte (μῦθος) zu erzählen, die er in seiner Jugend gehört haben will, von einem Weiberhasser Melanion. Darauf antwortet ihm der Weiberchor, indem er ebenfalls eine Geschichte erzählt Τίμων ἦν τις ,es war einmal ein Mann, der hieß Timon und haßte die Männer‘ usw. Das sieht nicht gerade aus, als ob es sich dabei um eine geschichtliche Person handelt, sondern eher um eine Lokalsage, wie sie in alten Städten mit großer geschichtlicher Vergangenheit im Anschluß an irgendein altes Bauwerk oder sonst eine Eigentümlichkeit zu entstehen pflegen. Ob der alte, wohl halbverfallene Turm bei der Akademie, den Pausanias noch sah (I 30, 4), oder das Grab des namenlosen Selbst-mörders bei Halai, der in seiner Grabschrift noch seine Mitbürger verfluchte (Plut. Ant. 70), den Anlaß gegeben hat, ist schwer zu sagen: vielleicht trifft das erste zu, da der Turm in der Nähe des Demos Kollytos lag, so daß sich daraus das Demotikon Κολλυτεύς erklären würde, das später Timon beigelegt ward. Neuerdings verlegt man allerdings Kollytos in den Süden und Südosten Athens (Judeich Topogr. v. Athen 113). Jedenfalls war die Geschichte zu Aristophanes Zeiten schon bekannt und Timon sprichwörtlich geworden (Av. 1547 Τίμων καθαρός). Nach und nach wuchsen zahlreiche Geschichten an diese Gestalt an, wie das bei solchen Lokalsagen zu gehen pflegt (Plut. Ant. 71); aus den wenigen Beispielen, die Plutarch gibt, der Begegnung mit Alkibiades (Alc. 16), dem Gastmahl mit Apemantos und seinem Auftreten in der Volksversammlung (Plut. Ant. 70) ergibt sich übrigens, daß T. keineswegs als völlig menschenscheuer Einsiedler, sondern als mitten im Leben unter seinen Mitbürgern verkehrend gedacht wurde, an denen er seinen grimmigen Witz ausließ. In diesem Sinne sind auch die beiden Epigramme des Kallimachos gehalten (epigr. 3. 4), in denen zuerst der Name μισάνθρωπος auftaucht. Auch Cicero (Tusc. IV 11; Lael. de am. 24) hat die Erzählungen von ihm gekannt, dem er das odium generis humani zuschreibt; ebenso Antonius, der sich nach dem Zusammenbruch seiner Stellung ebenfalls von allen zurückzog und sich am Pharos draußen sein Τιμώνειον erbaute (Plut. Ant. 69. 70). Später ist dann wohl eine Verwechselung mit dem Skeptiker Timon eingetreten, der in seinen Spottgedichten alle Philosophen mit Ausnahme des Götterfeindes Xenophanes verhöhnte; so ist T. von Athen nicht nur ein Menschen-, sondern auch ein Gotteshasser und Feind der Philosophen geworden (Plin. n. h. VIII 19 und Suid. s. Τίμων). In dieser Auffassung hat sich Lukian des Stoffes bemächtigt und seinen T. geschrieben, der äußerlich ganz gut in die Zeit des Perikles und des Anaxagoras eingepaßt ist, natürlich mit Benützung der Komiker, wie sich besonders im Streit des Plutos mit der Penia, zeigt, wo vieles aus Aristophanes’ Plutos entnommen ist. Es kam ihm hauptsächlich auf die Motivierung des Menschenhasses an, den er einseitig auf den Undank der Freunde gegenüber dem durch seine Freigebigkeit verarmten T. zurückführt; ihm gehört denn auch wohl die Erfindung, daß T. als Tagelöhner beim Graben einen Schatz findet (so [1301] auch Alciph. II 32), was dann bald bekannt wird und zu den ergötzlichen Szenen am Schlusse führt, in denen die üblichen Typen der Schmeichler, Parasiten, Rhetoren und schließlich auch der Philosophen abgefertigt werden.

Unter den modernen Bearbeitungen der T.- Geschichte ist Shakespeares Timon von Athen die älteste. Sie ist eines der letzten Werke des Dichters; der vielleicht bei der Bearbeitung von ,Antonius und Kleopatra‘ an der Gestalt des Menschenhassers Interesse gefunden hatte, und beruht im wesentlichen auf Plutarchs Antonius und dem Dialog Lukians. Den ungleichmäßigen und ziemlich verwahrlosten Zustand des Stücks hat Nik. Delius (Jahrb. d. Shakesp. Gesellschaft [1866) II 335-361) dadurch zu erklären gesucht, daß es sich um das Stück eines unbekannten zeitgenössischen Dichters handle, das von Shakespeare in einzelnen Szenen bearbeitet sei, um die Gestalt des Timon besser herauszubringen. Dagegen nimmt Wendland, der im Jahrb. XXIII 107ff. (1888) eine Übersicht über die ganze Frage gegeben hat, vielmehr an, daß es sich um einen ersten Entwurf handelt, der mit dem Nachlaß des Dichters an die Herausgeber gelangte und von diesen in die Folioausgabe aufgenommen ward. Molières Misanthrope und Schillers Menschenfeind zeigen nur im Hauptcharakter einige Ähnlichkeit, in Bulwers Versroman The New Timon ist eigentlich nur noch der Name beibehalten. Dagegen hat auf Grund der antiken Quellen, mit denen er aber sehr frei verfährt, Ferd. Bruckner eine Neubearbeitung des Stoffes vorgenommen (Berl. 1932).