Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Röm. Staatsfest d. ältesten Jahresordnung
Band XII,2 (1925) S. 1931 (IA)–1933 (IA)
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Lemuria, römisches Staatsfest der ältesten Jahresordnung, in den Steinkalendern (CIL I² p. 318, vgl. W. Warde Fowler The Roman Festivals 106ff.) am 9., 11., 13. Mai in der Form LEM und mit dem Tagescharakter Ν verzeichnet. Von der Art seiner öffentlichen Begehung wissen wir nicht das Geringste, dagegen erfahren wir aus Ovid. fast. V 419ff. wenigstens von dem Abschlusse seiner häuslichen Feier. Um Mitternacht (des letzten der drei Festtage, wie wir wohl annehmen dürfen) erhebt sich der Hausherr, ohne Schuhe anzulegen (v. 432 habent gemini vincula nulla pedes) und indem er sich durch einen apotropäischen Fingerzauber (v. 433f. signaque dat digitis medio cum pollice iunctis, occurrat tacito ne levis umbra sibi) vor einer unheilvollen Begegnung mit Gespenstern zu schützen sucht. Nach Reinigung der Hände wirft er abgewandten Gesichts neunmal schwarze Bohnen (über die Bohne im Totenkult s. die Literatur bei Wissowa Relig. u. Kult. d. Römer² 235, 10) hinter sich mit dem Rufe ‚das werfe ich, um mich und die Meinen loszukaufen‘ (v. 437f. haec ego mitto, his .... redimo meque meosque fabis). Dann wäscht er sich von neuem und macht Lärm durch Zusammenschlagen eherner Gerätschaften (zur Vertreibung der Geister; vgl. E. Samter Geburt, Hochzeit und Tod 58ff.) und fordert neunmal die Totengeister auf, das Haus zu verlassen (v. 443 manes exite paterni). Den gleichen Brauch bezeugen die kurzen Notizen des Varro de vita p. R. lib. I (bei Non. p. 135) quibus temporibus in sacris fabam iactant ac dicunt se lemurios domo extra ianuam eicere und Paul. p. 87 M. (77, 25 Linds.) nam et Lemuralibus (faba) iacitur larvis. Aus Ovid (v. 485ff.) erfahren wir ferner noch, daß an diesen Tagen, wie an den Feralia (v. 486 ut nunc ferali tempore operta vides; über das Verhältnis der L. zu den Parentalia vgl. Warde Fowler Religious Experience of the Roman People 393ff.), die Tempel geschlossen waren und Hochzeiten nicht stattfinden durften (vgl. Plut. qu. Rom. 86). Das sind alles unverkennbar Bräuche einer Seelenfeier, [1932] beruhend auf der allgemein verbreiteten Vorstellung, daß die Toten zu bestimmten Zeiten die Unterwelt verlassen und in ihre früheren Häuser zurückkehren dürfen (vgl. E. Samter N. Jahrb. für klass. Altert. XXV 1908, 78ff.), wo man ihnen, damit sie nicht Unheil stiften, Speisen hinstellte und allerlei Bequemlichkeiten bereitete (das wird auch an den L. an den ersten Tagen geschehen sein), um sie aber nach Ablauf der Zeit aufs energischste auszutreiben (vgl. auch die Parallelen bei E. Rohde Psyche I² 239, 1). Die größte Übereinstimmung mit den L. zeigt die attische Seelenfeier der Anthesteria, die mit dem Rufe θύραζε κῆρες, οὐκ ἔτ’ Ἀνθεστήρια schließt; auch dies waren μιαραὶ ἡμέραι, an denen die Tempel geschlossen blieben (die Zeugnisse ο. Bd. I S. 2374f., s. Rohde a. a. O. I² 236ff.). Für die Erklärung des etymologisch dunklen Namens L. hat man im Altertum zwei verschiedene Deutungen versucht. Die am meisten verbreitete auch von Varro (s. o.) vertretene oder von ihm aufgebrachte Deutung leitete L. von einem Gattungsbegriffe lemures ab, der die als Gespenster nächtlich umherschweifenden Geister der Verstorbenen (animas silentum Ovid. v. 483) bezeichnet habe. Schol. Pers. 5, 185 Lemures dicuntur dii manes, quos Graeci δαίμονας vocant velut umbras quasdam divinitatem habentes. Lemuria autem dicuntur dies, quando manes placantur. Porphyrio zu Hor. epist. II 2, 209 umbras vagantes hominum ante diem mortuorum (= ἄωροι) et ideo metuendas. Schol. Acr. z. d. St. umbras terribiles biothanatorum (über ἄωροι und βιαιοθάνατοι, vgl. E. Norden Hermes XXVIII 1893, 372ff.; Verg. Aen. VI² S. 10ff.); vgl. auch Corp. gloss. lat. VI 635. In diesem Sinne wird das Wort von Horaz (epist. II 2, 209 nocturnos lemures portentaque Thessala rides und Persius 5, 185 tum nigri lemures ovoque pericula rupto angewendet; die ältere Literatur kennt es nicht, in ihr wird diese Gespenstervorstellung nur durch larvae bezeichnet. Eine andre Deutung des Namens L. trägt, nach unbekanntem Gewährsmann, Ovid v. 445ff. (aus ihm Porphyrio zu Hor. a. a. O.) vor: nach ihm diente das Fest der Versöhnung der Manen des erschlagenen Remus und hieß ursprünglich Remuria (v. 481f. aspera mutata est in lenem tempore longo littera, quae toto nomine prima fuit). Auf den unglücklichen Einfall dieser höchst künstlichen Ableitung (vgl. darüber Mommsen Ges. Schrift. IV 6f.) hätte kaum jemand verfallen können, wenn die lebendige Sprache ein Wort lĕmures in der genannten Bedeutung wirklich gekannt hätte, da in diesem Falle der Zusammenhang desselben mit L. sich mit zwingender Notwendigkeit aufgedrängt (wenn Ovid zwar lĕmŭres, aber Lĕmūrĭa mißt, so geschieht das nur darum, weil Lĕmŭrĭa überhaupt nicht in den Hexameter zu bringen war) und eine völlig erschöpfende Erklärung gegeben hätte. Es stellt sich daher die Vermutung ein, daß lĕmures als Bezeichnung der gespenstigen Seelen überhaupt erst von Varro (oder einem Vorgänger) aus dem Worte Lemuria, dessen Bedeutung als Fest ja feststand, erschlossen worden sei und dann vereinzelt auch in der Dichtersprache Verwendung gefunden habe. Im wesentlichen aber gehört es der gelehrten Literatur [1933] an, die mit klügelndem Scharfsinn bemüht gewesen ist, seinen Begriffsinhalt gegen den verwandter Ausdrücke wie larvae und manes, zu denen man auch Lares rechnete, abzugrenzen (Apul. de deo Socr. 15 p. 24 Thomas; apolog. 64. Serv. Aen. III 63. Augustin. c. d. IX 11. Martian. Cap. II 162), worüber oben im Art. Lares gehandelt ist.