Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
t.t. der Rechtswissenschaft
Band X,1 (1918) S. 12001202
Recht in Wikisource
Recht in der Wikipedia
GND: 4048737-4
Recht in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register X,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|X,1|1200|1202|Ius|[[REAutor]]|RE:Ius}}        

Ius. Dies für die Rechtswissenschaft grundlegende Wort rührt von einem Sprachstamm her, der auf eine Bindung hindeutet, ähnlich wie religio und obligatio. Während aber religio die innere Bindung an eine Überzeugung betont, weist i. auf eine äußere Bindung an ein Gemeinwesen hin, wogegen obligatio die Bindung gegen über einem bestimmten Gläubiger bezeichnet; vgl. Walde Lateinisches etymolog. Wörterbuch², Heidelberg 1910, 399 gegen Schrader Reallexikon 1901, 657, der den Zusammenhang des Wortes mit dem Eide betont, aber, hierüber befragt, zugibt, daß es auf demselben Stamm beruhen kann, wie iungere, wenn es auch nicht [1201] von diesem Worte unmittelbar abgeleitet ist. Vaniçek Griech.-lateinisches etymolog. Wörterbuch, Leipzig 1877, II 761; ius = das Bindende 762; iurare = sich eidlich verbinden.

Ius ist ein Homonym für eine Reihe von Erscheinungen, die miteinander nahe verbunden sind und daher Gedankenassoziationen zwischen einander erwecken, die in dem gemeinsamen Namen zum Ausdrucke kommen. Es bedeutet nicht bloß die von Staats wegen gültige Bindung, sondern auch die Bindungsstätte, d. h. den Sitz des Rechtspflegers (vgl. Iudicium über den Gegensatz des Verfahrens in iure zu dem Verfahren in iudicio), als auch einen rechtswirksamen Privatakt, z. B. eine Stipulation oder ein Pactum (Cic. orat. part. 37, 131), auch in der Wendung i. dicere = iudicare iubere (s. Iudicium) einen Urteilsspruch oder endlich den Bindungsvorteil für einen andern als den Gebundenen (sog. subjektives Recht = Berechtigung, Dig. I 1. 12, z. B. i. Quiritium, Latii, Italicum, i. in re usw.). Diese Berechtigung kann für sich allein einen benutzbaren Vorteil und Einfluß oder die bloße Möglichkeit geben einen solchen Vorteil zu erwerben, z. B. i. commercii oder connubii.

Im Gegensatz zu diesem Rechtsvorteil (= subjektivem Recht) bezeichnet man die Bindung selbst als objektives Recht, namentlich wenn sie in einem allgemeinen Rechtssatze besteht, dem man sich fügen muß, oder in einer Gruppe solcher Sätze, z. B. i. civile, pontificum, praetorium, personarum u. dgl. Eine Bindung kann aber auch nach freiem Ermessen durch den Beamten im einzelnen Falle geschaffen werden, wie das bei dem i. dicere (= iudicare iubere) geschah; s. Iudicium, Dig. I 1, 11.

Die deutsche Etymologie des entsprechenden Wortes ,Recht‘ beruht auf einem andern Bilde. Richten heißt ,in eine bestimmte Lage bringen‘. Im Grunde läuft aber auch dieses Bild auf dasselbe hinaus wie die ,Bindung‘, weil auch der Gebundene in eine bestimmte Lage gebracht ist. Besondere Schwierigkeiten bietet das Verhältnis von i. und lex (Mitteis Röm. Privatrecht bis auf die Zeit Diocletians 1908, § 2 S. 30ff.). Beides wird zuweilen als gleichbedeutend gebraucht, namentlich in Zeiten, in denen geschriebene Satzungen fast das einzige Bestimmungsmittel für den Rechtsinhalt sind. In Wahrheit ist aber i. mehr als lex, weil es auch das Gewohnheitsrecht und das kraft allgemeiner Ermächtigung für einen besonderen Fall eigens geschaffene Recht bezeichnet, eine Erscheinung, welche älter ist, als die aus ihm erwachsenen allgemeinen Regeln, während andererseits auch bloße leges privatae (= rechtsgeschäftliche Anordnungen) vorkommen, die nicht durch sich selbst binden, sondern durch den Rechtssatz, der ihnen eine Geltung verleiht (z. B. die lex contractus).

Ein mit i. verwandter Ausdruck ist fas. Dies Wort hängt zweifellos mit fari zusammen, Varro de 1.1. VI 30, nicht mit qpäos, und ist nach Varro a. a. O. einfach ein obrigkeitlicher Ausspruch = ein Akt der Rechtsprechung. Daher die dies fatti, s. Iudicia privata. Neben diesen Aussprüchen gab es aber auch solche der pontifices, [1202] die man von weltlichen Anordnungen von altersher unterschied, Mitteis Röm. Privatrecht 1908, 22. Da man die obrigkeitlichen Aussprüche als i. bezeichnete, so lag es nahe, das Wort fas auf priesterliche Auskünfte zu beschränken, die ebenfalls vielfach das Recht betrafen, aber auch Gewissensfragen beantworteten. Wie nun aber i. nicht bloß die Bindung im einzelnen Falle, sondern schließlich auch den allgemeinen Rechtssatz bezeichnete, so wurde auch fas zum Namen der allgemeinen Regeln, nach denen die pontifices ihre Aussprüche taten; vgl. z. B. Pomp. Dig. I 2, 2, 18, wonach infolge der religiösen Grundsätze Roms ein Dictator es nach priesterlichen Aussprüchen für ein Gewissensgebot ansehen mußte, seine Macht nicht unbescheidenerweise über ein halbes Jahr auszudehnen. Daß auch das fatum als Götterwort galt (L. Kuhlenbeck Die Entwicklungsgeschichte des r. R. I 1910, 69, 3. Macrob. I 19) beruht vielleicht erst auf Anschauungen, die jünger sind, als die Entstehung des Wortes fas; s. Waser Art. Fas o. Bd. VI S. 2001. Mitteis § 1 S. 22–30, Literatur S. 24, 4. v. Ihring Geist des römischen Rechts I⁴ 1310ff. (bahnbrechend gegen die Überschätzung religiöser Einflüsse auf das römische Recht). Leist Altarisches jus civile I §§ 17. 64–67. II §§ 54–59, woselbst vieles den arischen Völkern als Besonderheit zugesprochen wird, was sich auch bei andern findet.

Ein Gegensatz von i. ist aequitas; s. Kipp Art. Aequitas o. Bd. I S. 598. Dies Wort bezeichnet aber bisweilen keinen Gegensatz des i.; vgl. z. B. Cic. Top. 2, 9, wo das i. als aequitas constituta bezeichnet wird. Darum steht das i. aequum als das elastische Recht im Gegensatz zum i. strictum, das sich den einzelnen Fällen grundsätzlich nicht anpaßt, Kipp a. a. O. 600. Aequus deutet überall auf eine Ausgleichung hin. Daher die natürliche Ausgleichung entgegengesetzter Wünsche (aequitas naturalis) als älteste Quelle alles Rechts bezeichnet wird, Dig. XLI 1, 1; s. Aequitas o. Bd. I S. 598 und Ius strictum.

Literatur für die Bedeutung des Wortes i. findet sich im Beginn sämtlicher Lehrbücher des Rechts oder einzelner Rechtszweige.