Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Gnade zugunsten des Beschuldigten oder Verurteilten
Band IX,2 (1916) S. 13781380
Begnadigung in der Wikipedia
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Indulgentia bedeutet Gnade (venia, gratia), eine zugunsten des Beschuldigten oder des Verurteilten zugelassene Ausnahme vom Strafgesetz. Die Gewährung der Gnade ist daher selbst eine Betätigung der Gesetzgebungsgewalt. Eine solche Ausnahme kann gemacht werden: 1. vor dem Strafurteil (vor Beginn oder während der Dauer des Prozesses); 2. nach der Urteilsfällung, aber vor Vollziehung der Strafe; 3. nach Beginn der Vollziehung. Die Begnadigung kann zugunsten einzelner bestimmter Personen erfolgen oder einer Gruppe von Personen zuteil [1379] werden, die durch allgemeine Merkmale (z. B. die wegen Majestätsbeleidigung Verurteilten) bestimmt wird (Amnestie). Die Begnadigung kann die Strafe ganz ausschließen oder durch Abkürzung oder Umwandlung mildern; in Rom wurde es auch als Gnade betrachtet, wenn der Verurteilte sich die Strafe wählen durfte, Suet. Dom. 8, 11. Tac. ann. XV 61.

I. In der republikanischen Zeit war ursprünglich eine Begnadigung weder vor noch nach der Urteilsfällung zulässig; ein durch die Rechtsordnung selbst im voraus geschaffenes Hindernis für den Strafvollzug – keine Begnadigung – war es, daß die Vollziehung unzulässig wurde, wenn ein zum Tode Verurteilter auf dem Wege zur Hinrichtung einer Vestalin begegnete, Plut. Numa 10. Die Amnestie ist wie der Name (ἀμνηστία) griechischen Ursprungs und die Annahme liegt nahe, daß die von den Geschichtschreibern, z. B. Liv. III 54. VII 41. Appian. bell. Hann. 61. Cass. Dio XLIV 43 erwähnten Amnestiefälle unter dem Einfluß der Erinnerung an Vorgänge der griechischen Geschichte ohne tatsächliche Grundlagen in die römische Geschichte hineingetragen worden sind. Auch die Einzelbegnadigung durch die Komitien ist für die Zeit vor Sulla nur in einem Fall sicher beglaubigt, Cic. Brut. 34, 128. Mommsen St.-R. 482. Erst im letzten Jahrhundert der Republik wurden sowohl Senatsbeschlüsse als Geschworenensprüche auf die Rogatio eines Tribunen hin durch Volksbeschlüsse aufgehoben, Appian. bell. civ. III 95. Cic. p. Sulla 22, 62. 63; p. Sest. 31. 60; ad Att. III 23. 26. Suet. Caes. 5. 41. 75. Plut. Brut. 19. Außerdem kamen Begnadigungen durch einzelne Gewalthaber (Sulla, Marc Anton, Caesar) kraft ihrer diktatorischen Gewalt vor, Cic. Phil. II 23 und 38, 98. Quint. inst. orat. XI 1, 12. Plut. Caes. 37. Vell. Pat. II 56. Der Senat konnte auch vor der Aburteilung Straflosigkeit gewähren, Appian bell. civ. IV 94. Cass. Dio XLIX 43. Plut. Brut. 19. Vell. Pat. II 58. Gegen die Annahme einer Befugnis des Richters, die Strafe zu erlassen, spricht die Rücksicht auf die Rechtskraft und Cic. Verr. 2. Ankl. V 6.

II. In der Kaiserzeit entwickelte sich ein Begnadigungsrecht des Princeps als ein vom Senat unabhängiges Majestätsrecht, Inst. I 2, 6. Wegen der Begnadigung vor dem Urteil durch Niederschlagung des Prozesses (Interzession), vgl. Abolitio. Die Interzession durch den Princeps wirkte – abweichend von der des Tribunen – als dauernde Begnadigung, weil die Beschränkung auf ein Amtsjahr wegfiel. Die Begnadigung wurde bis zu Antoninus Pius nicht immer, aber vielfach durch Erwirkung eines Senatsbeschlusses mittels preces des Princeps in senatu herbeigeführt, Suet. Dom. 11; Claud. 12; Otho 2. Tac. ann. III 70. Auch in dieser Zeit übten jedoch die Kaiser das Begnadigungsrecht selbständig ohne Anrufen des Senates aus, Dig. III 1, 1, 10. XLVIII 18, 1, 27. Insbesondere riefen die Kaiser häufig die von ihren Vorgängern in die Verbannung (Exilium) geschickten Personen zurück, Plin. ep. 40. 41. 64. 65. Suet. Cal. 15; Claud. 12; Otho 2. Tac. ann. XII 8. XIII 11. XIV 12; hist. I 90. [1380] II 92, oder sie milderten die Strafen, Suet. Dom. 8. Tac. ann. IV 31. Die Begnadigung, schon von Caes. bell. civ. III 1 als in integrum restitutio bezeichnet, hieß in der Kaiserzeit allgemein restitutio, Plin. ep. 40. 41. 64. 65. Suet. Cal. 15. Dig. III 1, 1, 9. I 9, 2. XLVIII 5, 24 pr. Die Wirkungen waren ähnlich denen der restitutio i. i. der Begnadigte erhielt seine ganze bürgerliche Stellung, auch die Würde als Ritter oder Senator und die Fähigkeit zur Erlangung öffentlicher Ämter zurück, Dig. L 4, 3, 2. Cod. IX 51, 1. Dagegen wurde durch diese Restitution die Wiedereinsetzung in das vom Fiskus eingezogene Vermögen noch nicht gewährt, sondern mußte besonders nachgesucht und bewilligt werden, Cod. IX 51, 2. Bei einzelnen Verbrechen war die Aufhebung der Infamia ausdrücklich durch Gesetz ausgeschlossen, Cod. X 32, 33; bei andern Delikten war die Restitution überhaupt untersagt, Cod. I 2, 16, 6. I 3, 14. IX 38. Nov. VII 7. Aber die Auffassung der Begnadigung als einer Betätigung der Gesetzgebungsgewalt wird solche Schranken auch in Rom und Byzanz überwunden haben; jeder kaiserliche Erlaß konnte durch einen andern aufgehoben werden, und die Androhung der Unwiderruflichkeit einer Strafe brauchte nicht verwirklicht zu werden.

Neben der einzelnen Verbrechern gewährten restitutio (indulgentia specialis, beneficium speciale) kam die einer ganzen Gruppe von Personen bewilligte indulgentia communis oder generalis (benef. comm. oder gen.) vor; in diesen Fällen war jedoch mit dem Wegfall der Strafe die Aufhebung der infamia nicht verbunden, wenn nicht ausdrücklich auch diese Wohltat bewilligt wurde, Cod. IX 51, 4ff. Cod. Theod. IX 38, 5.

Keinem Richter stand ein Begnadigungsrecht zu, Dig. XLVIII 18, 1, 27. 19, 4, 11, 9; 27 pr.; 31 pr. Plin. ep. ad Trai. 56, 3. Die aus Dig. IV 4, 16, 5 erkennbare Befugnis des Richters, Restitution gegen eigene Urteile zu gewähren, ist nicht als Begnadigungsrecht aufzufassen, sondern auf die gewöhnlichen Restitutionsgründe beschränkt. Eine Ausnahme macht Dig. XLVIII 19, 22 zugunsten der Verurteilten, die, durch Alter oder Krankheit geschwächt, zur Bergwerksarbeit untauglich geworden waren, Plin. ep. ad Trai. 31. 32. Literatur: Joh. Merkel Abhandlungen aus d. Gebiete d. römischen Rechts, 1. Über die Begnadigungskompetenz im röm. Strafprozeß 1881. K. G. Geib Geschichte d. röm. Kriminalproz. (1861) 572ff. 585ff. E. Herzog Geschichte u. System d. röm. Staatsverfassung II 1887, 729ff. J. N. Madvig Die Verfassung u. Verwaltung d. röm. Staats II 1882, 287. Marquardt-Mommsen Handbuch d. römischen Staatsaltertümer II² 1887, 884. Th. Mommsen Röm. Strafrecht 1899, 452ff. 478ff. Rein Kriminalrecht d. Römer 1844, 264ff. A. F. Rudorff Römische Rechtsgeschichte II 1859. 328ff. 453ff.