Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Muschel
Band II,2 (1896) S. 25892592
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Austern (ὄστρεον, ὄστρειον, ersteres die ältere Form, Athen. III 92 e; lat. ostrea, ostreum), Ostrea edulis. Homer erwähnt die A. nie ausdrücklich, doch vgl. Il. XVI 747 und die Erkl. z. d. St. Zuerst werden A. für uns erwähnt bei Aeschylus frg. 34 und Epicharm (Athen. III 92 f). Aristoteles gebraucht ὄστρεον für 1) Ostrea edulis; 2) in allgemeiner Bedeutung für alle Hartschaligen (ὀστρακόδερμα, vgl. Galen. XII 343); 3) für alle Zweischaligen, so dass die Deutung der einzelnen Stellen oft unsicher ist. Namentlich aber bleibt zweifelhaft, ob auch unter den nur von Aristoteles erwähnten λιμνόστρεα A. zu verstehen sind (vgl. J. B. Meyer Aristot. Tierk. 190. Aubert–Wimmer Aristot. Tierk. I 179. 180), vielleicht sind sie identisch mit den einmal (Xenocr. 26) erwähnten ὄστρεα ἐν τέλμασιν. Andere A.-Arten kannte man im Mittelmeer jedenfalls nicht; bei den A. des roten Meeres, von denen Aelian n. a. X 13 redet, ist eher an eine Muschelart zu denken; über indische A. Plinius n. h. VI 80. XXXII 63 (jedenfalls übertrieben).

Naturgeschichtliches

Naturgeschichtliche Mitteilungen über die A. fliessen reichlich, Aristoteles interessierte sich für alle diese Schaltiere, die ihm eine eigenartige Mittelstellung zwischen dem Pflanzen- und Tierreich einzunehmen schienen (de gen. an. I 104, 73l b 8. Galen IV 160). In Bezug auf den körperlichen Bau kennt Aristoteles einen Kopf der A. (de part. IV 7, 683 b 23), den ihnen Plinius abspricht (n. h. XI 129), einen Darm (hist. an. VIII 22, 590 a 29). Die Augen fehlen ihnen (Plin. n. h. XI 139. Galen. IV 639), ebenso alle Sinne ausser dem Gefühl, Plin. n. h. X 192. 195. Da nach der Meinung des Aristoteles alle Schaltiere von selbst aus Schlamm und Fäulnis entstehen (hist. an. V 61, 546 b 17. 69, 547 b 18), so nimmt er auch bei den A. Urzeugung an, die ‚sog. Eier‘ erklärt er (mit Unrecht) für Fettbildung (de part. IV 5, 680 a 25; de gen. an. III 121, 763 a 25ff., wo Aubert–Wimmer zu vergleichen). Atmung spricht er ihnen im Gegensatz zu früheren Meinungen ab (π. ἀναπν. 2, 470 b 32). Eine milchartig schleimige Ausscheidung wird mehrfach erwähnt (Aristot. de part. IV 5, 681 a 31. Plin. n. h. IX 61).

Lebensweise und Vorkommen

Die A. gedeihen besonders im schlammigen, seichten Meer, an Flussmündungen, im Brackwasser (Athen. III 91 f), sie setzen sich überall an, an Pfählen, Scherben, ruhig liegenden Schiffen (Arist. de gen. an. III 121, 763 a 27. Plin. n. h. IX 160). Auch an felsigem Strand finden sie sich (Plin. n. h. XXXII 59), auf hoher See gedeihen sie weniger (Xenocr. 26 = Oribas. coll. med. II 58, 95. I p. 147, 2 ed. Bussem.-Daremb.), ausserhalb des Wassers können sie nicht leben (Aristot. hist. an. I 6, 487 a 23). Als ihre Nahrung wird einmal eine Art Tang genannt, [2590] Aristot. hist. an. VI 79, 568 a 5. Es bestand die Meinung, dass die A. mit dem Monde grösser würden und abnähmen, Opp. hal. V 589. Lucil. frg. 801 Baehrens (Gell. XX 8). Cic. de div. II 33. Hor. sat. II 4, 30. Plin. n. h. II 109. XXXII 59. IX 96. Isidor. orig. XII 6. Als Feinde der A. werden kleine weisse Krabben genannt, die sich in den Schalen festzusetzen (Aristot. hist. an. V 70, 547 b 29) oder gar die Schalen durch Steinchen offen zu halten wissen, Opp. hal. II 167 (jedenfalls eine Pinnoteresart, Aubert–Wimmer Aristot. Tierk. I 155); ferner die Seesterne, die es verstehen die A. auszusaugen, Aristot. de part. IV 5, 681 b 9. Opp. hal. II 181. Aelian. n. a. IX 22 (vgl. Brehm Tierl. X 528). Ein mehrfach erzähltes θαυμάσιον vom Reiher, der die A. verschlingt, bei sich behält, bis sie in der Wärme ihre Schalen öffnen, und sie dann wieder ausspeit und verzehrt, dürfte aus Aristot. hist. an. IX 71, 614 b 26 (vom Pelikan) herausgesponnen sein (Plut. de soll. an. 10. Aelian. n. a. V 35).

Nahrungsmittel

Im 5. Jhdt. v. Chr. sind in Griechenland die A. jedenfalls ein weit verbreitetes Nahrungsmittel. Genannt werden A. von Lesbos, Chios (Aristot. de gen. an. III 122, 763 b 1), besonders vom Hellespont; Archestratos erklärt die von Abydos für die besten (Athen. III 92 d. Ennius frg. 529 Baehrens). Bei den Römern bildeten die A. wohl mit das geschätzteste Gericht (Suet. Tib. 42). Dabei wechselte das Ansehen der verschiedenen Sorten. Seit Sergius Orata (s. u., um 100 v. Chr.) galten die A. aus dem Lucrinersee für die besten (Hor. epod. II 49. Plin. n. h. IX 168. Mart. V 37), bald wurden auch die von Circeii (schwarz) viel genannt (Hor. sat. II 4, 33. Plin. n. h. XXXII 60), von italischen Orten sonst noch Brundisium, der Arvernersee (Plin. n. h. XXXII 61), Tarent (Varro sat. frg. 403 = Gell. VI 16). Im 1. Jhdt. n. Chr. kamen dann die britannischen zu grossem Ansehen, Iuven. IV 141 (A. von der Küste von Kent). Plin. n. h. XXXII 62. IX 169, ohne dass die hellespontischen das ihrige je verloren hätten. Catull frg. 1. Verg. Georg. I 207 (Abydos), ähnlich die aus der Propontis oder dem Bosporos, Priap. 75, 13 (Kyzikos). Lucan. IX 959 (Chalkedon). Daneben werden genannt A. vom Pontos (Plin. n. h. IX 52), von Ephesos (s. u.), Grynion, Myrina, Istrien, Illyrien (dunkel), Messenien (? Coryphantena), von der gallischen Westküste (Médoc), von Spanien (rot) Plin. n. h. XXXII 60–62, von Geraestus, Val. Flacc. I 456. Bei Xenocr. 26 = Oribas. a. a. O. treten dazu noch A. von den Nilmündungen, den chelidonischen Inseln, Leukas, Actium, Puteoli, Narbo, dem ‚libyschen Meerbusen‘, eine Liste, die bei Auson. ep. 9 (= 5 Peiper) noch besonders um gallische Namen vermehrt erscheint: A. von Massilia, Narbo, von der Seinemündung, Bretagne, Poitou; die Médoc-A. sind ihm ebenso berühmt wie der Bordeauxwein. Er nennt dann noch A. von Schottland, von Byzanz und der Propontis. Ein grosser Teil der im Altertum viel genannten Orte liefert auch heute noch geschätzte A.

Gastronomisches

Man wusste, dass die A. zur Zeit der Trächtigkeit am besten seien (Aristot. hist. an. VIII 172, 607 b 3; de gen. an. I 77, 727 b 2. Athen. III 92 a), dass sie unter der Kälte und Hitze (?) leiden, Aristot. de part. IV 5, 680 a [2591] 29. Die A. wurden frisch und gekocht gegessen (patina ostrearum Macrob. sat. II 13, 12), auch mit Zuthaten gewürzt (Apic. IX 423, s. auch unten die Ärzte). Meist wurden sie wohl vor der Hauptmahlzeit gegeben (Macrob. a. a. O. und die Ärzte), doch auch zum Nachtisch (Petron. 70). Über die Eigenschaften, welche die Gourmands von den guten Sorten verlangten, berichtet ins einzelne hinein Plinius n. h. XXII 60ff. Als das Beste galten die Lappen oder Fasern (cirri, Mart. VII 20, identisch mit dem Bart, πώγων bei Antiphil. Anth. Pal. IX 86); καλλιβλέφαρα hiess eine Art, wo diese noch von Purpurhärchen umgeben waren (?), Plin. n. h. XXXII 61. Eine besonders grosse Sorte hiess τρίδακνα. Nach und nach ersann man raffinierte Steigerungen des Genusses: man liess A. aus Brundisium im Arverner- oder Lucrinersee mästen und trug sie dann in Schnee gekühlt auf, Plin. n. h. XXXII 61. 64. IX 169.

Die Zucht

Über A.-Zucht fehlen bei den Griechen genauere Nachrichten, doch war sie wohl bei ihnen schon lange in Übung, da Aristoteles de gen. an. III 122, 763 b 1 von einer Versetzung von A. von Lesbos nach Chios beiläufig als von etwas ganz Selbstverständlichem redet. Eigens zur Aufnahme von A. eingerichtete Bassins (καταβόλοι) gab es z. B. in Ephesos, Xenocr. 26 = Oribas. a. a. O. Der erste Römer, der nach mehreren Berichten einen A.-Park (bei Baiae im Lucrinersee) anlegte und grossen Gewinn daraus zog, war Sergius Orata (Plin. n. h. IX 168). Seinen Erfolg bezeugt am besten das Witzwort, er sei so geschickt, dass er selbst in tegulis A. wachsen lassen könne, Val. Max. IX 1, 1. Cic. dial. frg. 71 Baiter-Kayser. Neben der eigentlichen Zucht kannte man auch die ‚Mästung‘, d. h. Versetzung in geeignetes Wasser für kurze Zeit (opimata vivariis ostrea, Sid. Apoll. ep. VIII 12). A.-Parks, deren Einrichtung Colum. VIII 16, 6 nebenbei erwähnt, bestanden nach unseren Berichten im Lucriner- und Arvernersee (vgl. auch Strab. V 245), dann bei Bordeaux (Apoll. Sid. a. a. O. Auson. ep. 7 = Peiper 15). Man verstand es auch, die geschätzte Delicatesse auf weite Entfernungen zu versenden, wurden doch in Rom neben den italischen auch griechische oder englische A. gegessen. Apicius sollte dem Traian (?) A. ins Innere von Asien (Parthien) nachgesandt haben, die nach einem von ihm erfundenen Verfahren conserviert waren (Athen. I 7 d). So ist es auch nicht auffallend, wenn bei Ausgrabungen römischer Reste in den Rheinlanden Mengen von A.–Schalen (englischen?) gefunden wurden, z. B. in Bonn, Köln, Bregenz; vgl. Schaaffhausen Rhein. Jahrb. XC (1891) 211.

Die Ärzte

Bei der Häufigkeit des Gerichts kommen auch die Ärzte vielfach auf die A. zu reden, sie geben Winke über die Zuträglichkeit und Verdaulichkeit des A.-Fleisches und -Saftes je nach dem Orte des Fanges und der Art der Zubereitung, über die A.-Saucen (ζωμοί), über die Stelle der A. in der Reihenfolge der Speisen, vgl. Hippokr. π. διαίτ. II 19. Diocl. bei Athen. III 86 b. Hikesios bei Athen. III 87 c, besonders Diphilos bei Athen. III 91f ff. Cels. II 24. 28. 29. Xenocr. 26 = Oribas. a. a. O. und coll. med. IV 2, 19 = I p. 273, 11 Bussem-Daremb. Galen. VI 734. 340. XI 576. Im einzelnen werden A. besonders bei [2592] Magen und Blasenleiden empfohlen (Plin. n. h. XXXII 64), auch als Gegenmittel gegen einige Gifte, wie das des lepus marinus und anderer (Plin. n. h. XXXII 59 u. s. w.), in den Schalen gekocht gegen Schnupfen (Plin. n. h. XXXII 64). Besondere Heilwirkungen werden sodann den A.-Schalen nachgerühmt; je nachdem zerstossen, geglüht, mit Salz vermischt, in Salben werden sie angewendet gegen Entzündungen, Hautschäden und Geschwüre aller Art. Auch ein Zahnpulver wurde aus ihnen hergestellt, Plin. n. h. XVIII 66. XXXII 64, 65. Galen. XI 758, besonders XII 345ff.

Auch zur Bereitung von einer Art Cement wurden die Schalen benützt, Pallad. de re r. I 41.

Im Sprichwort scheinen die A. keine Rolle gespielt zu haben. Berühmt war Platons Vergleich (Phaedr. 250 C) der im Körper eingeschlossenen Menschenseele mit einer A. in ihren Schalen. Bildliche Darstellungen fehlen (vielleicht eine A. auf einer kleinen Münze von Kerkyra, Imhoof-Keller Tier und Pflanzenbilder VIII 34).