Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt (2)

Textdaten
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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt. II.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 456–459
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Organisation und Verfahren der Berliner Kriminalpolizei
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Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel.
II.
Die Kriminalpolizei. – Grüner Wagen. – Der Polizeigewahrsam. – List wider List.

Unsere Leser haben aus der Schilderung unseres ersten Artikels in Nummer 15 eine Vorstellung gewonnen von dem vielumfassenden Organismus der Berliner Polizei. Fast möchte ihnen dabei das Bild eines jener sagenhaften Ungeheuer aufgestiegen sein, mit welchen einst die erregbare Phantasie seefahrender Stämme ferne Meere bevölkerte, eines jener Riesenkraken, der zahllose Arme zumal nach seiner Beute ausstreckt, um sie mit unentrinnbarer Sicherheit zu umgarnen. Nun, die Polizei kann sich den Vergleich mit diesen unheimlichen Geschöpfen gefallen lassen, sofern man sich bewußt bleibt, daß es ja nur die Schädlinge der menschlichen Gesellschaft sind, auf welche sie es abgesehen hat. Auf keinen Theil des Ganzen dürfte aber das Bild von dem tausendarmigen Fabelwesen besser zutreffen als auf die Kriminalpolizei. Wir müssen uns zunächst, um dies anschaulich zu machen, wieder etwas mit der Zergliederung dieses Körpers befassen.

Das Kriminalkommissariat bildet, wie wir bereits in unserem ersten Aufsatz kurz hervorgehoben haben, eine besondere Gruppe der umfangreichen vierten Polizeiabtheilung, welche sich mit dem gesammten Sicherheits- und Sittendienst Berlins zu beschäftigen hat, und zerfällt wiederum in drei Kriminalpolizei-Inspektionen; an deren Spitze steht je ein Inspektor, dem mehrere Kriminalkommissare sowie eine größere Anzahl von Kriminalwachtmeistern und -schutzleuten zugetheilt sind, während die oberste Leitung in den Händen des „Chefs der Kriminalpolizei“ ruht, gegenwärtig in denen des Grafen Pückler, eines ebenso umsichtigen und pflichteifrigen, wie gegen seine Untergebenen liebenswürdigen und gerechten Beamten. Die erste Kriminalinspektion umfaßt acht Bezirkskommissariate, welche in Anlehnung an die acht Bezirkshauptmannschaften Berlins eingerichtet sind und die minder wichtigen Sachen bearbeiten, namentlich Gelegenheitsdiebstähle, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüche, Beleidigungen, strafbaren Eigennutz etc. Die zweite Inspektion bearbeitet die Anzeigen derjenigen Vergehen und Verbrechen, bei denen eine ausgebreitete Personalkenntniß die Ermittelung insofern erleichtert, als bei bestimmten Vergehen und Verbrechen – wir nennen nur Einbrüche, Taschen-, Kolli-, Laden-, Schlafstellen- und Marktdiebstähle, gewerbsmäßiges Hazardspiel, Hochstapelei etc. – der Thäter von vornherein in bestimmten Kreisen bekannter Personen zu suchen ist. Die dritte Inspektion beschäftigt sich mit Anzeigen über betrügerischen Bankerott, mit Postunterschlagungen und -schwindeleien, mit Wuchersachen, Wechselfälschungen, Münzverbrechen, Häuserschwindel und Patentverletzung.

Der Geschäftsgang dieses Kriminalkommissariats, welches seinen Sitz im Polizeipräsidialgebäude hat, ist folgender: die Anzeigen über vorgekommene Vergehen und Verbrechen werden zunächst in den einzelnen Polizeirevieren erstattet, von denen zweiundachtzig über ganz Berlin verstreut sind, und diese lassen die Meldungen, Protokolle etc. auf dem vorschriftsmäßigen Wege der Centralbehörde zugehen; hier werden sie dem Chef vorgelegt und von diesem je nach ihrer Abart einer der drei Inspektionen, bei der ersten je nach dem Thatort einem ihrer acht Bezirke zur Bearbeitung überwiesen. Der Vorsteher der zweiten Inspektion, mit welcher wir uns hier besonders zu beschäftigen haben, zur Zeit Herr von Meerscheidt-Hüllessem, theilt wiederum die ihm zugegangenen Sachen den bei ihm beschäftigten Kriminalkommissaren und Wachtmeistern zu und behält sich von vornherein die Einwirkung auf die Bearbeitung und die Schlußprüfung vor. So ist er stets über alle in der gewerbsmäßigen Verbrecherwelt vorkommenden Bewegungen unterrichtet und kann jederzeit seinen Kriminalkommissaren wie seinen Mannschaften die entsprechende Hilfe gewähren.

Bei besonders wichtigen Angelegenheiten erhält selbstverständlich diese zweite Inspektion telegraphische Nachricht seitens der einzelnen Polizeireviere. Nehmen wir an, bei einem der letzteren sei ein Mord oder Raubmord angezeigt worden; sogleich wird durch eine Ordonnanz der Bezirksphysikus zur Stelle gerufen; der Chef der Polizei, das Kommando der Schutzmannschaft, die Polizeihauptmannschaft, zu welcher das betreffende Revier gehört, der Chef der Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft, die Kriminalabtheilung und das Leichenkommissariat – sie alle werden durch Depeschen benachrichtigt. Währenddessen ist der Vorstand jenes Polizeireviers mit den gerade verfügbaren Schutzleuten an den Thatort geeilt und hat ihn derart abgesperrt, daß alles so erhalten bleibt, wie man es vorgefunden hat; in kürzester Frist erscheinen dann die Beamten der benachrichtigten Behörden, hauptsächlich der Kriminalabtheilung und Staatsanwaltschaft, und veranlassen das Weitere; der Reviervorsteher aber, zumeist ein Polizeilieutenant, muß umgehend seine Berichte über das am Thatorte Gesehene und Gehörte an den Polizeichef, an den Oberregierungsrath (Stellvertreter des ersteren und Dirigent der ersten Polizeiabtheilung), an die Staatsanwaltschaft und an die Kriminalabtheilung erstatten. Letztere entfaltet alsdann eine fieberhafte Thätigkeit; vor allem werden jene Kriminalbeamten, die sich zur Zeit nicht im Dienst befinden, telegraphisch von dem Ereigniß unterrichtet mit der Verfügung, sich aufs schleunigste im Präsidialgebäude einzustellen; hier laufen alle Fäden zusammen, oft ein kaum entwirrbares Netz bildend, in welchem der Schuldige gefangen werden soll. Tag und Nacht herrscht die unermüdlichste Rührigkeit: Berathungen werden abgehalten, einzelne Verhaltungsmaßregeln ertheilt, Zeugen vernommen, Verdächtige vorgeführt, Aussagen protokolliert und verglichen, Depeschen nach auswärts gesandt und empfangen – eine auch den Unbetheiligten mitreißende nervöse Aufregung durchzittert gewissermaßen jenes der Kriminalabtheilung eingeräumte Viertel des gewaltigen Polizeipalastes und läßt erst nach, wenn die Kunde von der Ergreifung des Thäters durch den Blitzfunken hierher übermittelt wird.

Der Thäter oder – um den Einzelfall zu verlassen – alle diejenigen, welche sich eines Verbrechens oder Vergehens schuldig gemacht oder in irgend einer Weise durch Lärm, Trunkenheit, Mißhandlung, Widerstand etc. öffentliches Aergerniß erregt haben, werden dem nächsten Polizeirevier eingeliefert, dessen Vorsteher das Protokoll aufnimmt; können die bei leichteren Ueberschreitungen Betroffenen einen Ausweis beibringen, so werden sie alsbald wieder entlassen; die anderen werden in dem Arrestlokal oder bei schweren Vorkommnissen in der Einzelzelle so lange in Haft behalten, bis sie nach dem Polizeipräsidialgebäude verbracht werden. Das letztere geschieht vermittelst des sogenannten „Grünen Wagens“, welchem die Berliner mancherlei Spitznamen, wie „Grüner Anton“, „Grüner Heinrich“, „Kriminalequipage“ u. s. w., gegeben haben. Sieben solcher Wagen sind fast stets unterwegs, da jeder von ihnen im Laufe von vierundzwanzig Stunden viermal nach den Polizeirevierwachen fährt, welche Gefangene beherbergen. Die Nachricht, daß Gefangene vorhanden sind, kommt dem Polizeipräsidium telegraphisch in denkbarster Kürze zu: nur die Nummer des Reviers und die Zahl der Gefangenen vor einem „G“ wird mitgetheilt. Die Wagen gehen früh um acht, dann mittags um zwölf, abends um acht und nachts um zwei Uhr ab und kehren je nach der Entfernung möglichst rasch mit ihrem lebenden Inhalt wieder zurück. Jeder von ihnen kann sechzehn bis achtzehn Insassen

[457] aufnehmen, oft aber sind es mehr und die Arretierten müssen dann dichtgedrängt und stehend die Fahrt zurücklegen. Es kommt auch vor, daß die Wagen nicht auf einmal die Menge der Arrestanten fortbringen können und zweimal ihren Weg machen müssen. Ihre innere Einrichtung besteht aus einer rings um die Wand laufenden Sitzbank sowie aus zwei zellenartigen Verschlägen für gefährliche Subjekte. Neben diesen Verschlägen, und zwar dicht an der vergitterten Thür, hat der begleitende Schutzmann seinen Platz. Außer nach dem Polizeipräsidialgebäude befördern jene grün angestrichenen, in auffälliger Kastenform gebauten, schwerfälligen, fensterlosen Gefährte die Gefangenen auch nach Orten außerhalb, nach den Gefängnissen im Moabiter Kriminalgericht, in Plötzensee und Rummelsburg, und bringen ebenso die erkrankten Verhafteten nach der Charité, wo eine besondere Abtheilung für sie eingerichtet ist.

Der Grüne Wagen vor einem Polizeirevierbureau.

Rollt der „Grüne Wagen“ in den an seiner Rückseite von den Polizeigefängnissen abgeschlossenen Hof des Präsidialgebäudes herein, so wird hiervon durch ein Klingelzeichen die Schutzmannswache unterrichtet, und zwölf Schutzleute nebst einem Wachtmeister eilen herbei und stellen sich an der Thür des Wagens auf; dann erst wird diese geöffnet, der den Wagen begleitende Schutzmann meldet dem Wachtmeister mit lauter Stimme die Zahl der Fahrgäste und reicht ihm die von den Polizeirevieren ihm eingehändigten Schriftstücke über die Verhafteten.

Das Ausladen des Grünen Wagens im Hofe des Polizeipräsidiums.

„Aussteigen!“ – schon drängen sich an der Thür die Arretierten, eine buntgemischte Gesellschaft, in ihren einzelnen bald eleganten bald verlumpten Erscheinungen das Elend, Laster und Verbrechen der Millionenstadt verkörpernd: hier ein alter, gebrechlicher Mann, der kaum die hohen Trittbretter herunterzuklettern vermag, weniger aus Altersschwäche als wegen des Schnapsdusels, der sein Gesicht flammend geröthet hat; dann einige Vagabunden, echte Baßermannsche Gestalten, deren Kleidung deutlich das häufige Logieren bei „Mutter Grün“ verräth; dort mehrere vor Ermattung und Furcht zitternde bejahrte Frauen und Männer, die beim Betteln ergriffen wurden; dann junge Burschen, einer von ihnen noch mit der Militärmütze auf dem Kopf, die wegen groben Unfugs abgefaßt wurden und auch hier in ihrem Benehmen eine grenzenlose Frechheit zur Schau tragen; neben ihnen ein armer, verhärmt ausschauender Blödsinniger, der auf der Straße gefunden [458] wurde und fortwährend leise vor sich hinspricht, dabei mit den Händen lebhaft gestikulierend; einige auf Abwegen ergriffene Mädchen, diese mit pelzbesetzter Sammetjacke und mächtigem Federhut, jene in dünnem Kattunkleidchen, ein Umschlagtuch um Kopf und Oberkörper gehüllt.

Aber auch für Humor ist gesorgt, obgleich für einen verzweifelt unfreiwilligen: welch’ merkwürdige Erscheinung klettert dort aus dem Wagen? Ein absichtlich vorgeschobener Capothut bedeckt den Kopf, zerrissen hängt der Schleier herab, ein weiter, ängstlich zusammengeraffter Radmantel läßt ein grün und weiß gestreiftes Kleid vorschimmern, und beim Heruntersteigen enthüllt sich uns ein Paar sehr kräftiger, mit starken Zugstiefeln bekleideter Füße.

„Welchen Vogel bekommen wir denn da wieder?“ sagt der Wachtmeister und betrachtet aufmerksam die Gestalt.

„Die schwarze Minna!“ meint der Schutzmann.

„Ah, ein alter Bekannter, auch ’mal wieder ertappt?“

Die Mädchen kichern verstohlen, und die Vagabunden raunen sich einige spöttische Bemerkungen zu, „die schwarze Minna“ aber scheint sich sehr ungemüthlich zu fühlen und nicht zu wissen, zu welcher der beiden bereits gesondert stehenden Gruppen sie sich gesellen soll.

„Geh man zu Deinem Geschlecht, schwarze Minna,“ sagt der Wachtmeister und zeigt auf die Strolche – denn die „schwarze Minna“ ist ein Mann, der es liebt, in weiblicher Verkleidung seine abenteuerlichen Fahrten zu unternehmen.

Doch der Wagen ist noch immer nicht geleert – der Schutzmann steigt hinauf und schiebt die Riegel der kleinen Zellen zurück, aus jeder tritt ein Mann, der erste mit den gefesselten Händen ein auf einem Einbruch ertappter, gewaltthätiger Verbrecher, während der andere, sein Gefährte, den Aufpasser machte und dabei mit ergriffen wurde. Die Schutzleute haben enger den Wagen umschlossen, die übrigen Arretierten blicken neugierig auf den Einbrecher.

„’S ist der Kellner-Justav,“ sagt einer der Pennbrüder, „det wird wohl wieder n’ paar Jahre Zuchthaus jeben.“

Der den Spitznamen „Kellner-Gustav“ führende Verbrecher kümmert sich nicht um seine Umgebung; gleichmüthig starrt er vor sich hin auf den Boden, er weiß, daß kein Leugnen möglich ist, da er auf frischer That ertappt wurde, und daß ihn auf geraume Frist die Zuchthausmauern wieder einschließen werden; höchstens sinnt er darüber nach, wie er seinen Genossen, den er natürlich gar nicht kennen will, mit dem er aber schon oft genug „gearbeitet“ hat, durch ein kunstvolles Lügengewebe befreien kann.

Die beiden stehen abseits und werden nun, nachdem der Wagen seines lebenden Inhalts entledigt ist, von mehreren Schutzleuten sofort zur Kriminalabtheilung verbracht. Die übrigen Arrestanten haben sich schon in eine männliche und eine weibliche Gruppe zusammengefunden und werden unter Bedeckung nach dem nahen Männer- oder dem Frauengewahrsam geführt, um sobald wie möglich vor den Richter gestellt und je nachdem zu kürzerer oder längerer Polizeihaft oder Strafarbeit verurtheilt zu werden. Daß es sich hier nie um lange Untersuchungen der Vergehen und Gesetzesübertretungen handeln kann, liegt auf der Hand. Zumeist nehmen die Schuldigen auch ruhig ihr Strafmaß entgegen, nur bei den Frauen und Mädchen kommt es häufiger zu erregten Auftritten; viele von ihnen verstehen das Schauspielern vorzüglich und betheuern mit bühnengerechter Lebhaftigkeit ihre Schuldlosigkeit, andere bereuen auch wohl wirklich tief den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn und möchten gern zurück auf den verlassenen Pfad des Rechten.

Während des Tages beherbergen also diese Polizeigewahrsame nur vorübergehende Gäste; die eigentlichen „Logisnehmer“ und „Logisnehmerinnen“ werden während des Abends und der Nacht eingeliefert; Wagen auf Wagen rollt dann in den einsamen Polizeihof, und eine Schaar nach der andern wird den hallenden Flur entlang geführt und verschwindet hinter der von einem Schutzmannsposten besetzten starken, eisenbeschlagenen Thür, neben der ein Signalwerk angebracht ist, sodaß bei einem Krawall sogleich Hilfe von der nahen Schutzmannswache zur Stelle ist. Aber fast nie ist es nöthig: diese Pennbrüder und Landstreicher, diese Betrunkenen und Herumtreiberinnen verhalten sich meist ruhig. Und ist einer oder eine von ihnen einmal ungebärdig und befolgt nicht die Anordnungen des wachehabenden Schutzmannes, so sind die Isolierzellen nahe, und es gehört nicht zu den Annehmlichkeiten selbst des Strolchenlebens, die Nacht in einem solchen kalten, engen, finsteren Viereck auf hartem Steinboden zu verbringen. Dagegen ist ja dieser Polizeigewahrsam beinahe noch als gemüthlich zu bezeichnen; der große, gewölbeartig gebaute Raum ist geheizt und durch mehrere Gasflammen erhellt; hinter dem hölzernen Gatter, welches den Aufenthaltsort des Schutzmannes von dem der Eingelieferten abschließt, steht eine Anzahl hölzerner Bänke, die im Winter häufig sämmtlich besetzt sind. Ein trauriger, herzbewegender Anblick, diese Verkommenen hier zu beobachten, zumal in ihrem stumpfen Gleichmuthe, der bei der Mehrzahl in jeder Handlung und Bewegung zur Schau tritt – ob sie nun, wenige Worte wechselnd, nebeneinander sitzen oder stundenlang gleichgültig vor sich niederstarren, ob sie sich ihr „Lager“ zurechtmachen, indem sie die zusammengerollte Jacke als Kopfkissen benutzen, oder sich auch auf dem bloßen Boden ausstrecken – fast alle tragen den Stempel der grenzenlosesten Unempfindlichkeit gegen die Eindrücke der äußeren Welt auf ihren Zügen, und doch ist diese Welt wohl manchem einstmals in besserem und freundlicherem Licht erschienen und hat ihm eine andere Zukunft vorgegaukelt als diese trübe Gegenwart. Und dabei möchte man die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich der eine oder andere, unterstützt von einem glücklichen Zufall, wieder zu einem menschenwürdigeren Dasein emporschwingen und später mit Entsetzen jener Nacht im Polizeigewahrsam gedenken werde, jener Nacht, die ihn leicht für immer dem Verderben überliefert hätte.

Sehen wir uns nun einmal wieder nach jenen um, die unter starker Schutzmannsbedeckung unmittelbar vom „Grünen Wagen“ der Kriminalpolizei überliefert wurden; ihr nächster Aufenthalt ist, nachdem ihnen Messer, Papiere, Geld etc. abgenommen wurden, das Wachtzimmer; hier arbeiten mehrere Wachtmeister, welche die Transportscheine der Verhafteten erhalten und deren Personalien feststellen. – Ist dies gethan, so werden die Eingelieferten in das Sistierzimmer gebracht, dessen wesentlichste Ausstattung in einer sich an den Wänden entlangziehenden hölzernen Bank, einem mit Wasser gefüllten Blechkruge und einem Becher zum Trinken besteht. Gewöhnlich sind dort schon „Gäste“ vorhanden, denen natürlich jede Verständigung oder Unterhaltung, sei es durch Worte oder durch Gebärden, aufs strengste verboten ist; und daß diese Verordnung eingehalten wird, dafür bürgt der hier aufgestellte herkulisch gebaute Schutzmann, welcher die Inhaftierten scharf beobachtet. Unterdessen sind deren Personalien in die Registratur gelangt, wo in riesenhohen Ständern die Akten über jeden Berliner Einwohner aufbewahrt werden. Nach wenigen Minuten sind die zugehörigen Aktenbündel, die neben den Angaben über Geburt, Verheirathung etc. auch die etwaigen Vorstrafen enthalten, herausgesucht und wandern nun zu jenem Kriminalkommissar, dem die betreffende Angelegenheit zur Untersuchung überwiesen ist. Nachdem dieser sich über den Verhafteten und dessen That genau unterrichtet hat, läßt er ihn vorführen, und das Verhör beginnt.

Der Ton hierbei ist zumeist ein ganz jovialer, fast immer kennen sich Kommissar und Verbrecher bereits aus früheren Verhandlungen, und während ersterer die „Spezialitäten“ des Thäters, seine Schliche und Lügengewebe weiß, fürchtet letzterer mehr oder weniger die „Findigkeit“ und den Scharfsinn des Beamten und richtet hiernach sein Leugnen ein. Denn geleugnet wird stets, wenn die Sache nicht ganz klar und ein „Herausreden“ deshalb nicht unmöglich ist; die wunderlichsten Behauptungen werden vorgebracht, wobei die geheimnißvolle Person des „Unbekannten“ eine große Rolle spielt, namentlich wenn es sich um den Verkauf eines gestohlenen Gegenstandes handelt.

„Ein fremder Mann gab mir das Packet und bat mich, es zum Versatzamt zu bringen“ – oder: „Getroffen hatte ich ihn schon ’mal, den Mann, der mir die Uhr zum Kaufe anbot, die ich denn bald wieder losschlug; wir hatten ’mal ein Glas Bier zusammen getrunken, seinen Namen weiß ich aber nicht!“

Wie weit die Frechheit des Lügens geht, zeigt folgender Fall. Ein alter, innerhalb der Gefängnißmauern grau gewordener Verbrecher war um Mitternacht in einer fremden Wohnung ergriffen worden, in die er durch das Parterrefenster eingestiegen war. Und was führte er als Grund seines gewaltthätigen Eindringens an? Er habe zufällig gehört, daß der Inhaber der Wohnung seinen Hund verkaufen wolle, den hätte er sich gern angesehen. – [459] Und als ihm erwidert wurde, daß der Inhaber jener Wohnung überhaupt keinen Hund besitze, gab er unbedenklich zurück: dann müsse er sich eben in der Hausnummer geirrt haben.

Das Sistierzimmer

Natürlich sind all diese Ausreden gänzlich nutzlos, können aber das Verhör unnöthig ausdehnen und das darüber geführte Protokoll, welches der Vernommene zu unterschreiben hat, sehr in die Länge ziehen. So redet denn häufig der Kriminalkommissar dem Verhafteten „in Güte“ zu: „Na, Schulze, gesteht es doch ein, daß Ihr auch an dem Einbruch betheiligt waret – wir haben doch die Sachen beim Hehler gefunden, und der hat Euch angegeben, also warum denn die Lügenmätzchen?“

„Herr Kommissar, ich habe mit der ganzen Sache nichts zu thun!“

„Na, da woll’n wir ’mal den Hehler kommen lassen, der ist ja hier und wird’s Euch ins Gesicht sagen.“

Der Verbrecher scheint auf einen Augenblick unruhig zu werden, blickt dann aber sofort wieder gefaßt zu Boden und bewahrt seine Gleichgültigkeit auch, als der Hehler, ein kleines zusammengeschrumpftes Männchen mit stechenden Zügen, von einem Schutzmanne hereingeführt wird.

„Kommen Sie einmal her, Zimmermann!“ ruft der Kommissar dem Hehler zu, „Sie haben doch gesagt, daß der Schulze hier Ihnen die silbernen Leuchter gebracht hat, wie steht’s damit?“

Der Hehler wirft einen ängstlichen Blick auf den Einbrecher, welcher den Eingetretenen gar nicht beachtet, dann antwortet er zögernd:

„Nein, Herr Kommissar, der Mann ist’s doch nicht; der Mann, der die Leuchter gebracht hat, war größer, er hatte auch einen anderen Bart.“

„So,“ räuspert sich der Kommissar, „von Euch beiden schwindelt ja einer immer netter als der andere, namentlich der Schulze, der sollte doch von früher her wissen, daß er bei uns damit nicht durchdringt. Schulze, seht einmal, was ist denn das hier?“

Der Verbrecher blickt auf, und eine leichte Röthe bedeckt sein Gesicht – eine kleine goldene Damenuhr leuchtet ihm entgegen, die aus demselben Einbruch stammt und die er seiner Geliebten geschenkt hat; das hat er nicht für möglich gehalten, daß die Polizei von letzterer bereits etwas wisse, da die beiderseitigen Beziehungen erst seit kurzer Frist angeknüpft sind. Allein schnell setzt er ein neues Lügensystem zusammen: „Ja, die Uhr –“ er faßt sie näher ins Auge – „was soll ich denn mit der Uhr?“

„So, diese Uhr kennt Ihr also nicht, alter Junge? Da will ich Eurem Gedächtniß aufhelfen. Ihr habt sie in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag in dem Brandtschen Schanklokal der Klara Elsner geschenkt.“

„Ach, jetzt besinne ich mich, ja, ja, das stimmt,“ meint der Verbrecher, „die Uhr hatte ich von einem Freunde für eine Schuld erhalten.“

„Von einem Freunde also?“ lacht der Beamte. „Auch gut, übrigens hat’s mit der Uhr nicht viel auf sich, es handelt sich zunächst um die Leuchter – und nun, Schulze, habe ich hier ein Blättchen Papier, das ist bei der Elsner gefunden worden, und da steht drauf, notabene, von Eurer Hand geschrieben: ‚Die Leuchter bin ich glücklich bei Z. losgeworden, jetzt ist von dem ganzen Kitt nichts mehr übrig; zugleich hier die erbetenen dreißig Mk.‘ – Und, Schulze, damit Ihr nicht nochmals lügt, hier ist Euer Notizbuch und hier habt Ihr jene Seite herausgerissen, seht her, wie hübsch die Stücke zusammenpassen. Ich habe die Elsner noch nicht verhaften lassen, mir scheint aber, daß sie mit Euch unter einer Decke steckt und –“

„Nein, nein, Herr Kommissar, das ist nicht der Fall, die Klara hat damit gar nichts zu thun, sie ist wahrhaftig unschuldig.“

„Gut, so gesteht doch endlich selbst –“

„Na, Herr Kommissar, ja, ich habe die Sachen gestohlen! Aber die Klara –“

„Laßt doch die Klara jetzt sein, sie soll in die Geschichte nicht verwickelt werden; hier, unterschreibt! Und das nächste Mal – es wird wohl ein paar Jährchen dauern, bis wir uns wiedersehen – da seid mit Eurem Zettelschreiben vorsichtiger!“

„Adjes, Herr Kommissar!“

„Adieu, Schulze!“ und zu dem Hehler: „Zimmermann, jetzt tretet einmal näher, nun wollen wir noch ein Hühnchen zusammen rupfen!“ Und ein neues Verhör beginnt, dem sich sofort weitere anschließen, da die Sache jedes Verhafteten binnen vierundzwanzig Stunden nach seiner Einlieferung so weit gefördert sein muß, daß sie dem Untersuchungsrichter übergeben werden kann – eine Bestimmung, die trotz ihrer guten Seiten manchen Nachtheil in sich schließt.

Nicht immer geht es mit den Verhören so glatt ab, wie wir es eben zu schildern versucht haben. Ist das Verdachtsmaterial kein zwingendes und trifft es nicht genau zu, so müssen oft Hunderte seiner Maschen geknüpft werden, um den Verbrecher im Netz zu fangen. Häufig weigern sich auch die als verdächtig eingezogenen Personen aufs hartnäckigste, ihren richtigen Namen zu nennen, verstellen sich mit Körperschäden – wie Hinken, Schielen, nervösem Gesichtszucken – um die Polizei auf falsche Fährten zu leiten, zumal wenn sie auswärts schon bestraft sind und nicht wünschen, daß dies die Berliner Polizei erfährt, oder wenn sie noch anderweitig über sie verhängte Strafen verbüßen müssen. Vor allem aber muß man erst den Verbrecher haben, um ihn der That überführen und bestrafen zu können. „Geübte“ Verbrecher verstehen es häufig so gut, ihre Spuren zu verwischen, daß selbst der gewiegteste Kriminalist an einer Ergreifung verzweifelt, bis meist eine ganz geringfügige Kleinigkeit ihn auf die Fährte bringt und nun die Jagd auf den Thäter ihren Anfang nehmen kann.