Pariser Bilder und Geschichten/Die unbekannten Gewerbe (2)

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Titel: Die unbekannten Gewerbe (2)
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 50–52
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Seltsame Gewerbe in Paris
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Pariser Bilder und Geschichten.
Die unbekannten Gewerbe.
Lecoq der Hahnenkammfabrikant. – Er verkauft Buschaale. – Madame Badeuil, die Blutegelleiherin. – Die Familie Verdurst.

Heute will ich Ihnen einen Mann vorführen, den alten Lecoq, der sich nicht scheut, der Natur den Handschuh vorzuwerfen. Und das geschieht noch dazu aus Bescheidenheit, daß er sich einen Nebenbuhler der Natur nennt; er will diese gute alte Mutter Natur nicht beschämen, im Grunde genommen aber arbeitet sie lange nicht so proper, so nett und appetitlich als er. Ihre Werke sind voll Unvollkommenheiten, während die seinigen – „ich bin ein Künstler!“ ruft der alte Lecoq aus, „und die Kunst ist die Natur, aber wie sie vom menschlichen Genie vervollkommt wird. Die Natur schafft den Marmor, der Mensch die Statue; die Natur bringt das Weib zu Stande, der Mensch aber eine Venus von Milo, ein Ideal, das gar nicht existirt. Gehen Sie in alle Meierhöfe des Anjou und der Marne; schauen Sie sich alle Hähne an, prüfen Sie alle Kämme derselben; keiner sieht dem andern gleich; alle sind sie mehr oder weniger von einer Menge Mängel behaftet und einen Künstler, der solche gemacht hätte, würde man ganz gewiß auslachen. Da sehen Sie einmal die meinigen an; wenn ein Hahn dazu käme, sie zu bewundern, ich glaube, der Kerl stürbe vor Aerger, keinen so schönen zu tragen. Sehen Sie einmal, wie das ausgezackt, zugeschnitten, hergerichtet und ausgerechnet ist! Ist das eine Pracht!" Der alte Lecoq fabricirt nämlich Hahnenkämme.

Der alte Lecoq (diesen Spitznamen hat er selber angenommen) bewohnt ein Haus, das ganz für seine Profession geschaffen zu sein scheint. Wer da hineinschaut, weiß nicht, wer von beiden ein größeres Original ist, der alte Lecoq oder sein Nest. Es ist eigentlich eine kleine Stadt, wie man ihrer in den industriellen Stadttheilen antrifft, und die man einen Hof heißt. In der Vorstadt du Temple existiren deren noch einige fünfzehn. So ein Hof schließt eine ganze Bevölkerung in sich, man könnte sagen, einen vollständigen Bienenstock menschlicher Wesen. Der Hof, den sich Lecoq ausgesucht hat, ist einer der kuriosesten. Der Hausherr, welcher ein großer Fabrikant ist, hat daselbst eine Dampfmaschine für seine Fabrik angelegt; weil er aber kleine Fabrikanten hinziehen wollte, so hat er das ganze Erdgeschoß von 350 Fuß Länge von der Hauptwalze seiner Maschine durchziehen lassen, so daß er jedem seiner Miethsparteien nebst der Wohnung einen Radriemen vermiethet, an dem sie dann ihre kleinen Maschinen anbringen können. Lecoq besitzt nun auch einen solchen Riemen als Miether; den Mechanismus hat er uns so explizirt:

„Ich war dreißig Jahre alt und kam von meinen Reisen in den Cordilleren zurück, ich war in China und in Japan gewesen und hatte so ziemlich von Allem gegessen. was ein Mensch essen kann. Als ich nach Frankreich zurückkam, fühlte ich eine Art Scham beim Anblicke der Armuth unserer Küche im Vergleich mit der jener Länder, die wir stolzermaßen barbarisch nennen. Wirklich, wenn Sie unser ohnehin sehr seltenes Wildpret, unsere geschmacklosen Flussfische abrechnen, so bleibt Ihnen das Wunder unserer Gemüse und Eier, eine wahre Nonnenkost.

„Was sind unsere verschwenderischsten Tafeln neben einem chinesischen, japanischen oder indischen Gastmahle, wo man die ganze zoologische Leiter des Herrn Blumenbach’s neben einander figuriren sieht; von den Elephantenhufen bis zu den Eiern der Fliegenvögel, von …? Können wir unsere Kochkunst auch nur mit der der alten Römer vergleichen, wo man 10,000 Hähnchen nahm, um einen anständigen vol-au-vent für 50 Patrizier zu bereiten? Dazu nahm man nur die Kämme, mit dem Reste fütterte man die Sklaven feist und fett, bis man diese in die Fischweiher warf, um die Karpfen zu mästen. Apicius, Lucullus! Ah, das waren Männer, die wenigstens zu essen verstanden! Ah, wenn ich daran denke! Ein Ragout von Pfauenhirn! …

„Ich nahm mir also vor, meinen Landsleuten alle dieses Sachen aufzutragen, deren Beschreibung uns heut zu Tage fabelhaft erscheint. Ich dachte also nach. Eine halbe Stunde darauf konnte ich ausrufen wie Archimedes: Eureka! Ich hab’s!

„Ich ließ mir eine Maschine bauen, ich selber zeichnete meine Grabstichel und zwei Tage darauf war ich etablirt, wie Sie mich hier sehen. Seitedem sind dreißig Jahre vergangen, mein Glück ist gemacht und ich brauche mir nichts mehr zu wünschen; jetzt könnte ich wie Andere dick thun! Ich könnte mir jetzt Diners machen lassen, wie ich welche Andern servirt habe. Aber nein, ich habe meine Existenz dem Wohle meiner Mitbürger gewidmet und ich will mein Ziel bis zum Ende verfolgen.“

So sprach Lecoq. Nun aber hören Sie, wie er das Glück seiner Mitbürger versteht. Er rechnete nach und fand, daß jeden Morgen in Paris nicht mehr als 25-30,000 Hähnchen eingeführt werden. Etwa 10,000 dieser armen Opfer kommen auf bürgerliche Tafeln, die andern 15,000 gerathen in die Hände der Restauranten etc. Von diesen werden etwa 12,000 Hahnenkämme auf Ragouts verwendet. Einem Hähnchen, das man auf Familienschmäußen aufsetzt, lässt man diese natürliche Zierde – aber verlangen Sie einmal einen vol-au-vent, oder ein Gericht Hahnenkämme, wo Sie nur immer wollen, und Sie werden bedient sein! Wie ist das möglich!? Und wenn Sie auch annehmen würden, daß man gleich beim Eintritte in Paris diesen Thieren den Hahnenkamm abschnitte, so würde das Alles nicht hinreichen, um die Verzehrung dieses Artikels in Paris zu erklären. –

Nun sehen Sie, das ist das Geheimniß von Lecoq, da fängt seine Rolle als Wohlthäter des menschlichen Geschlechtes an.

Er hat den Hahnenkamm und den haricot de coq erfunden – den künstlichen nämlich.

Er nimmt einen Ochsengaumen, einen Schöpsen- oder einen Kalbsgaumen, lieber aber einen Ochsengaumen, bleicht ihn in siedendem Wasser, zerkocht ihn dann während achtundvierzig Stunden, dann nimmt er die Haut vom Gaumen, so daß er ihn hübsch ganz erhält. Auf einem Ambos schlägt er dann mittelst eines Hohlstichels die Stücke aus, und das sind dann Hahnenkämme, vollkommener als die natürlichen. Die Kenner selbst täuschen sich über die Meisterwerke Lecoq’s und gleichwohl giebt es ein Mittel, sie zu erkennen. Der wirkliche Hahnenkamm, der schlechte, trägt auf beiden Seiten Wärzchen, während die schönen, künstlichen, kurz die von Lecoq nur auf der einen Seite welche zeigen.

Die Patissiers, die Restauranten, Unterhändler kaufen sie um drei Sous das Dutzend und verkaufen sie um fünf Sous an bürgerliche Häuser.

Was man den haricot de coq nennt, das macht er ebenfalls mit dem Hohlstichel. Kalbs- und Schöpsenhirn dienen ihm dabei als Rohstoffe.

Herr Lecoq wunderte sich, daß man ihm noch keine Statue errichtet hat und nur meine Bemerkung schien ihm einigen Trost zu [51] leihen, daß die wirklichen[WS 1] genialen Erfinder erst nach dem Tode anerkannt werden. –

Einen andern kuriosen Kauz, dessen Fach Sie gewiß nicht in Paris vertreten wähnen, muß ich Ihnen in der Gestalt eines Herrn Deshaies vorstellen. Er ist ein sterbliches pariser Kind und kam wie Kant nie aus der Stadt hinaus, die er sich zur Residenz gewählt hatte; aber er kann, was man so nennt, Schlangen bezaubern, ganz so wie ein Birmane, ein Malaye oder ein schwarzer Kerl von der Küste von Mozambique. Wenn man ihn fragt, wie er zu diesem Talente gekommen ist, so versetzt er bescheiden: „durch die Bücher.“

Der alte Deshaies hat eine vollständige Sammlung aller kriechenden Thiere der Wälder Frankreichs; er schließt Freundschaften mit ihnen, nährt sie, pflegt sie, liebkoset und hätschelt sie; er hat ihnen kleine, hübsch warme Nester gemacht, worin sie es ganz bequem und behaglich haben. Darin besteht nun seine Industrie. Er verkauft den Garköchen Buschaale, wie die Leute sagen, und diese machen daraus prächtigen Backfisch.

„Wenn man ihm einmal die Haut heruntergezogen hat, so kommt meinem Buschaale kein Flußfisch gleich.“

Der alte Deshaies läuft daher die ganze schöne Jahreszeit in den Wäldern herum, wie ein Waldheger. Ueberhaupt sieht er aus wie eine Figur aus Cooper’s Romanen und benimmt sich auch so. Wenn er lacht, so geschieht das ganz leise; er spricht leise und tritt leise auf, als wenn er Furcht hätte, seine Beute zu verscheuchen. Sein Gang ist leicht wie der einer Gazelle, seine Arme breitet er immer aus, als suche er beständig die Baumäste auseinander zu thun; er hat ein feines, leuchtendes und durchdringendes Auge. Alle seine Sinne sind außerordentlich ausgebildet; sein Geruch und sein Gehör sind wunderbar; er erräth instinktmäßig die Nähe einer Blindschleiche; selbst seinen Anzug hat er nach dem amerikanischen Romandichter copirt.. Er trägt hohe Kamaschen von Leder, eine kurze flaschengrüne sammetne Hose, eine Art Latz von Rehleder, und auf seinem kleinen Fuchsschädel sitzt ein breitkrämpiger Hut, am Gürtel hängt seine einzige Waffe, ein kleines sichelartiges Messer.

„Ihr Handwerk muß Sie sehr anstrengen,“ bemerkte ich einmal.

„Ah, nicht mehr als die Jagd, und diese amüsirt manche Leute,“ versetzte er. Was mich betrifft, so freut mich der Betrieb meiner Profession. Ich war dazu geboren; in meinem Körper hat sich eigentlich eine Ogibewas-Seele verirrt; ich weiß selbst nicht, wie sie nach Paris gekommen ist. Ich habe die Gehölze, die Einsamkeit sehr gern, meine Nächte bringe ich eben so bequem am Fuße einer Eiche zu, als im besten Bette von der Welt.“

„Und damit verdienen Sie viel?“

„In Paris giebt es 500 Händler mit Flußaalen, die alle ziemlich gut fortkommen, mit meinen Waldfischen mache ich ihnen Concurrenz; ich bin mit der Vorsehung zufrieden, Schlangen hat es immer genug gegeben, und wird ihrer auch immer genug geben.“

„Das ist gerade nicht sehr tröstlich für Feinschmecker.“

„Mein Gott! wenn sie nicht betrogen werden wollen, müssen Sie sich mit Ergebenheit entschließen, von Schöpsenschlegeln zu leben. Zwei Ihrer großen Gelehrten, die Herren Payen und Chevalier haben dicke Bücher über die Fälschung der Nahrungsmittel veröffentlicht, und doch haben sie nur die Hälfte der Wahrheit gesagt.“ – –

Früher habe ich Ihnen einmal von dem Fabrikanten von Lebkuchen erzählt, der vor allen Gelehrten einen Zucker erfunden hat, mit dem er seine Pfefferkuchen versüßt, ohne daß die Runkelrübe oder das Zuckerrohr nur im Geringsten deswegen belästigt werden. Heute bin ich bei Madame Badeuil gewesen, die ebenfalls um zwanzig Jahre der Wissenschaft vorausgeeilt ist. Während die Verwaltung der öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten Wasserbecken baut, worin die Blutegel ihr Blut wieder hergeben können; während man von allen Seiten mehr oder weniger lesbare Memoiren darüber druckt, hat diese Frau Badeuil, eine ganz simple Krankenwärterin, eine wirklich sehr einträgliche Industrie daraus gemacht.

Sie leiht Blutegel aus.

Madame Badeuil hat ein empfindsames Herz, sie hat die kleinen Viecher und die Leute gern; sie ist die wahre Vorsehung verlaufener Hunde und kranker Leute. Sie kann kein lebendiges Wesen leiden sehen. Daher hat sie etwas für die Blutegel gethan, diese armen kleinen Dinger, die so viel Gutes leisten und die der Mensch so schlecht belohnt!

„Herr,“ sagte sie, „wenn die Blutegel den reichen Leuten Gutes thun, so können sie den Armen nicht schaden; ich setze nämlich den Fall, daß die Reichen sich nicht etwa aus Luxus und zur puren Unterhaltung Blutegel ansetzen. Ich habe mir also oft gedacht, daß eigentlich jeder Mensch Blutegel haben sollte. Anstatt daher diejenigen Blutegel in den Abzug zu werfen, die ich meinen Kranken gesetzt hatte, habe ich sie heimlich aufbewahrt, sie gepflegt und sie das Blut wieder hergeben lassen. Jetzt habe ich ihrer sehr viele und leihe sie aus; Niemandem thun sie also weh, wie Sie sehen.“

„Freilich. Aber wie machen Sie es, daß sie sich wieder entleeren, damit sie nicht ungesund werden?“

„Das ist mein Geheimniß. Aber ich will es Ihnen schon sagen. Ich nehme eine gute Hand voll Küchensalz und werfe es ihnen auf den Rücken; dann lasse ich sie darin Etwas ausputzen, sie entleeren sich; dann gebe ich sie in eine Schüssel, die am Grunde ein kleines Loch hat, und über die ich ein Sieb lege. Das stelle ich nun unter einen Wasserbehälter und lasse aus dem Hahne desselben eine Stunde lang Wasser laufen, bis sie kein Wasser mehr hergeben. Aber jetzt kommt der eigentliche Moment: ich nehme lauwarme Holzasche, wickle sie zwischen doppelter Leinewand darin einige Male herum, bis sie keinen Flecken mehr machen und fange das Bad mit fließendem Wasser wieder an. Und das ist Alles! Ich bin fest überzeugt, daß sie wieder nüchtern sind, wenn ich sie eine Stunde später wieder in’s Glas thue.“

„Und Sie gebrauchen sie gleich den andern Tag?“

„O, nein! Sie müssen erst noch gehörig behandelt werden. Drei Tage darauf nehme ich ein Stück Thonerde, knete es gut durch, mache eine hohle Kugel daraus und sperre die Thierchen hinein. Zur Vorsicht mache ich einige kleine Löcher darein und umwickle das Ganze mit einer feuchten Leinewand, damit die Erde nicht hart werde. Meine Blutegel sehen Licht hereinbrechen, sie kriechen darauf los, sie strengem sich an, strecken sich aus, um durch die engen Oeffnungen zu gelangen und entleeren sich somit gänzlich. Wenn sie dann wieder auf meiner Leinewand liegen, so sind sie gesund und frisch als ob sie eben erst auf die Welt kamen. So kann man sie bei jedem Menschen ohne die geringste Gefahr anwenden. Ich aber will sie nicht ermüden. Daher gebe ich sie immer in verschiedene Gläser, klebe einen Zettel darauf und schreibe den Tag gehörig daran, so daß sie der Reihe nach an die Arbeit kommen; bei mir giebt’s keinen Vorrang. Sehen Sie, ich habe ihrer mehr als zweitausend; einige sind länger als zehn Jahre in meinen Diensten und doch so gut als am Anfang. Diese gebrauchten Blutegel sind eben so gut als ganz neue.“

„Wie viel zahlt man Ihnen für’s Ausleihen?“

„Fast Nichts; ich verlange nur 30 Sous für funfzehn Blutegel und für’s Ansetzen. Sie begreifen, daß ich sie Niemandem anvertraue. Diese armen kleinen Thiere gehen nie ohne ihre Herrin aus dem Hause.“

Es scheint also, daß die Erfahrung den Gelehrten Recht giebt, die behaupten, daß man die Blutegel entleeren könne. Die Verwaltung der Spitäler hat die prächtigen Maulbeerbäume des Gartens der Miramionnes umhauen lassen, um daselbst Wasserbehälter anzulegen. Wir haben fünf bis sechs Berichte über diesen Gegenstand gelesen, wir wissen aber nicht, welches System man daselbst angewendet hat. Jedenfalls empfehlen wir das der Madame Badeuil, das uns gut vorkommt und einige Aufmerksamkeit verdient, wenn nämlich eine 29jährige Erfahrung in den Augen von Gelehrten einen Werth haben kann. – –

Schließlich muß ich Sie mit einigen Worten vor der letzten Menschwerdung des Frackes, der Seidenweste und des Glanzschuhes aufhalten. Im Quartier du Temple gelangen diese Kleidungsstoffe allmälig in’s „finstere Land des Unbekannten,“ wohin endlich Alles geräth.

Wenn ein Kleid über alle Stufen der Toilette heruntergekommen ist, vom Schneider zum Kunden, dann zu dessen Bedienten oder Hausmeister, dann zum Alt-Kleiderhändler, zum Trödler, dann zu irgend einem Barriere-Stutzer, so kommt es endlich in den Temple, in diese Metropole, in diese Todtenstadt der Kleidungsstücke. Hier nun wird es gewendet, geflickt, wieder hergestellt; nur eine Phase, eine Periode muß es noch durchmachen, bevor es zum Wollenfabrikanten kommt, eigentlich zum Fabrikanten, der die Wolle damit [52] sättigt. Diese Periode muß ein Kleidungsstück bei der Familie Verdurst durchmachen. Der Name Verdurst ist nicht etwa von einem Pariser erfunden worden, der begreiflicherweise Meurt-de-Soif spricht – sondern diese Familie und ihr Name existirt wirklich; sie wohnt im sechsten Arrondissement; sie beschäftigt sich ausschließlich mit dem Aufkaufe alter Kleider nach ganzen Hunderten, nach Centnern; flickt sie aus und verkauft sie wieder an den Barrieren.

Du lieber Himmel, was wissen Sie von wohlfeilen Sachen! Die Gebrüder Verdurst verkaufen ihre Kleider Abends beim Fackelschein, licitando an den ersten besten Meistbietenden … „mit Verlust,“ wie sie sagen. Da können Sie einen vollständigen Anzug aus Human’s, Blanc’s oder Morbach’s Werkstatt um 3 Francs bekommen und haben überdies noch Gelegenheit, einige Proben von Geist, Witz und Gelehrsamkeit der Gebrüder Verdurst in den Kauf zu nehmen. Es giebt nichts Komischeres als ihre Anpreisungen; ich kann Ihnen ein Muster davon geben:

„Sehen Sie, meine Herrn! Dieser Frack gehörte einem russischen Fürsten, der darin die Eroberung einer Tänzerin der Grande-Chaumière gemacht hat. Später war er der Gegenstand der Bewunderung aller Stammgäste der Closerie-des-lilas auf dem Rücken eines sehr berühmten Hühneraugen-Doctors. Mit demselben Fracke hat später der Kammerdiener eines Mylord eine Statistin der Delassements entführt, weil sie ihn darin für seinen Herrn hielt. Der Frack kam in unsere Hände, weil der Kammerdiener sich zu Grunde richtete dadurch, daß er seiner Geliebten zu oft eingemachte Pflaumen kaufte. Nun sehen Sie! Trotz aller dieser glorreichen Andenken, trotz aller der darin gemachten Eroberungen, gebe ich Ihnen diesen meisterhaften Frack für 3 Francs. Die Herren, welche ihr gutes Glück gern versuchen, mögen es sich gesagt sein lassen.“

Der Frack wird mit 3 Francs ausgerufen; nach und nach fällt er auf 30 Sous herunter. Die Hose wird zu einem Frank losgeschlagen und die Weste für 10 Sous. Uebrigens sind die Gebrüder Verdurst eben so oft die Käufer als Verkäufer eines Kleidungsstückes. Wenn man sich diese Fetzen ankauft, so geschieht es nur auf wenige Tage. Am Montage verkauft man oft wieder, was man am Samstage gekauft hat. So kommt ein Kleid wohl 20 Mal zu den Verdurst’s zurück, die sich immer wieder ein kleines Geschäftchen und einen Profit daraus machen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: weiblichen