Neapel und seine Zustände (II.)

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Titel: Neapel und seine Zustände (II.)
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 85–87
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Neapel und seine Zustände.[1]
II.

Das Leben im jetzigen schönen Neapel ist todt und nur im Tode Leben. Wenigstens werden die üblichen, südlich-leidenschaftlichen Klagen am Sarge geliebter Todten noch nicht censirt und verboten. Es ist noch ganz die „conclamatio,“ das offizielle, oft gemiethete und bezahlte Geheul um Todte bei den alten Römern. Sobald ein Licht an Mund und Nase gehalten den Tod eines Menschen bewiesen hat (eine andere Untersuchung gibt es nicht), wird die Leiche angekleidet, mit Lichtern umstellt und das Haus für Jedermann offen gehalten, damit er theilnehmend in das allgemeine Geheul einstimmen könne. Es ist wie bei Hochzeiten, wo auch Jeder (wenigstens auf dem Lande) Zutritt hat, denn das Sprüchwort sagt: „Von einem Hochzeits- und einem Leichenfeste darfst Du Niemand abweisen.“ Auch bei Hochzeiten brennen geweihete Kerzen. So hat man die charakteristischen Ausdrücke für die Ehe: „das Leben zwischen zwei Kerzen.“ Für das Sterben hat man die alte euphemistische Umschreibung: „die Fußsohlen gegen die Thür strecken,“ wie sie schon vor Christi Geburt bei den Römern gewöhnlich war. Seit Jahrtausenden schlief dort Niemand mit den Füßen gegen die Thür, seit Jahrtausenden wurde jeder Leichnam mit den Füßen zuerst hinausgetragen.

Man findet dieselbe Sitte, deren Verletzung unbedingt einen zweiten Todesfall nach sich ziehen würde, auch noch mitten unter deutschen Bauern und Abergläubigen. Unverheirathete Personen werden mit einem Palmenblatte oder Strauße in den gefalteten Händen zur Katakombe, welche das Grab vertritt, getragen, eben so mit einem Kranze um den Kopf, verheirathete mit einem Rosenkränze zwischen den gekreuzten Händen. Auf dem Lande um Neapel sind noch kostbare Leichenprozessionen Mode. Man verkauft, versetzt und borgt so viel man kann, um Gefolge, Kerzen, Priester und Trauernde zu miethen und eine Messe zu bezahlen. So war es schon, mit Ausnahme der christlichen Zuthaten, zu Virgil’s Zeiten, der in der Aeneide eine Leichenprozession ganz eben so schildert. Aber die Beerdigung selbst ist grausenhaft. Besondere Innungen, die Confratelli, haben sie ausschließlich in ihrer Hand. Die Hinterbliebenen eines Verstorbenen schicken zu ihnen. Diese besorgen eine Stelle zum Beerdigen und lassen fragen, ob der Kopf des Todten aufbewahrt werden solle. Im üblichen Bejahungsfalle senden sie einen Karolin und eine Flasche Essig, worauf die Confratelli den Kopf abschneiden, von Haut und Gehirn reinigen, blank poliren und in der Kirche unter die Sammlung aufnehmen, numerirt und mit dem Namen beschrieben. Am „Todtenfeste“ werden einige besonders in gutem Priesterandenken stehende Schädel aus der Sammlung mitten in der Kirche mit Kerzen und Kruzifix ausgestellt und von der andächtigen Menge angestarrt. Reiche Todte werden in Grabgewölbe und sonst in Gräber aufgenommen, die Armen aber in eins der 365 tiefen Felsengrablöcher geworfen. Die arme Leiche wird an die Mündung der Höhle getragen, hier aller, oft geborgten Kleidung beraubt und nackt in eine Lage gebracht, aus der sie mit einem geschickten Stoße hinabgestürzt werden kann. In der tiefen Höhle sind an den Seiten hervorragende Felsen angebracht, welche brechen helfen müssen. Unten liegen Leichen in jeder Art von Verstümmelung und jedem Grade von Verwesung. Ein Stoß: die Leiche knattert nieder, sich im Falle die Knochen zerbrechend und unten morsche Gebeine und Schädel mit lautem, dumpfen Gekrache zerschmetternd.

Das ist eine eigenthümliche Begräbnißart, die unseres Wissens nirgend in der Welt ähnlich praktizirt wird. Andere mit Todtenkultus verbundene Gebräuche sehen menschlicher aus und kommen in verschiedenen Modifikationen auch in andern Ländern vor. Ganz menschlich und natürlich ist die neapolitanische Sitte, den Hinterbliebenen eines Verstorbenen (der nur vierundzwanzig Stunden unbegraben liegen bleiben darf) Speisen und Getränke aus der Nachbarschaft zu schicken, weil man voraussetzt, daß sie in ihrer Trauer nicht an Kochen und Braten denken können und sie auch bis zur Beerdigung nie Feuer im Hause machen. Manche setzen die Enthaltsamkeit von Feuer auch nach der Beerdigung ihrer Familienglieder fort und werden nicht selten auf vierzehn Tage mit Maccaroni, Fleisch und Früchten versehen. Diese Sitte [86] ist schön und uralt. Schon Juvenal, der alte römische Satyriker, schildert die Trauer in Verbindung mit dem Hasse des Herdfeuers und rauchlosen Schornsteinen, und das „nie ausgehende Feuer auf dem häuslichen Herde“ galt als sprüchwörtlicher Ausdruck für glückliches Familienleben.

Ueberhaupt haben sich unter den gewöhnlichen Leuten in und um Neapel trotz der vielen Priester noch viel altheidnische, römische Glaubensartikel erhalten, z. B. der, daß die Seelen der Verstorbenen während des Todtenfestes auf der Erde spazieren gehen und die Ihrigen besuchen. Viele Familien lassen deshalb Speisen und Getränke während der Nacht auf dem Tische, damit die Seelen der Geliebten sich gütlich thun können. „Wir ließen allemal einen Teller Maccaroni auf dem Tische,“ erzählte eine Frau, „und Großmutter pflegte zu sagen, daß Großvater oder Oheim vielleicht kämen, um davon zu essen. Doch obgleich die Maccaroni sehr hübsch zubereitet und mit geriebenem Parmesankäse bestreut waren, fanden wir sie am Morgen stets unberührt. Aber Großmutter meinte dann, die Geister hätten keinen Hunger gehabt und schon vorher etwas Besseres genossen.“

Wir finden dieselbe Sitte schon vor Jahrtausenden bei den alten Römern, wenn sie ihre Silicernia feierten. Was der menschlichen Natur in ihrer Einfalt und Gläubigkeit entspricht, das können alle Herrscher und Häscher nicht ausrotten, erschiene es dem Aufgeklärten auch noch so unsinnig. Der natürliche, ungebildete Mensch braucht für die Liebe der hingeschiedenen Lieben ein Band, das er, wenn er’s einmal in Glaube und Liebe gefunden, sich nicht zerreißen läßt. Sie sind damit besser daran, als die Aufgeklärten, welche mit allem Scharfsinn und aller Gelehrsamkeit keinen Ariadnefaden entdecken, der sie durch das schauerliche Labyrinth zwischen dem Diesseits und einem vom Glauben geschaffenen Jenseits zu leiten im Stande wäre.

Uebrigens können sich die Neapolitaner am wenigsten über Behinderung ihres Aberglaubens durch Aufklärung beklagen. Sie haben’s nicht einmal bis zu dem Leo’schen „Bildungsdr…“ gebracht. Zwar hat das Volk seine Literatur, seine Bibliotheken sogar, aber es kann nicht lesen, und was es liest, ist blos erbaulich, aber nicht bildend. Treten wir an eine Volksliteraturwand heran, denn an den Wänden hängt sie fast immer angekleistert. Seht, wie die braunen Massen mit ihren gelben Gesichtern aus den Lumpen in die Höhe starren und studiren! Plakate, politische Aufklärung gebend! Plakate? Ja, zwar keine 1848er, aber doch Plakate: polizeiliche Verordnungen nämlich, wie gestern, wie seit Wochen, seit Monaten, seit Jahren, etwas über eine Eisenbahn, einen neuen Sänger auf dem San Carlotheater u. s. w. Was geht dem Lumpengesindel der neue Sänger an? Sie haben ihn nie gehört, werden ihn nie hören, gehen aber nach Hause und diskutiren lebhaft über seine Tugenden und Fehler, da die Polizei hier gar nicht eingreift.

In den meisten großen Straßen finden wir Volksliteratur angeklebt und an Bindfaden aufgesteckt, gewöhnlich mit fürchterlichen Holzschnitten auf dem Titel, wie die Volksliteratur in England, mit Holzschnitten, die mit dem Texte oft in gar keinem Zusammenhange stehen und deshalb um so mysteriöser wirken: „Krieg zwischen Katz’ und Maus,“ „die Geschichte von Florindo und Chiarastella,“ „Geschichte der Mörderin Marcia Basile, enthauptet wegen höchst schauderhaft zu lesender Ermordung ihres Ehemannes zu Gunsten ihres Liebhabers.“ – So etwa sieht die Volksliteratur in Neapel aus, etwa ebenso wie just in dem gebildeten, freiesten England.

Es gibt auch Buchhändler in Neapel mit Büchern, wie: „Reime zu Ehren der heiligen Jungfrau, aus dem dreizehnten Jahrhundert“ – „Der Fall der Republik in England“ – „Der Monat Juni geweiht dem heiligen Blute unseres Herrn Jesus Christus“ – „Sammlung guter Bücher für Tugend und Wahrheit“ u. s. w. Letztere Sammlung wird von der Regierung begünstigt und zur Verbreitung empfohlen. In einem Buche für Kinder: „Prosa und Verse, nützliche Speise für die Fasttage“ kommen Rezepte gegen verschiedene Uebel und Landplagen vor, z. B. „Was ist gut gegen einen Demagogen?“ Antwort des Kindes: „Ein Galgen. Die Anwendung desselben kurirt ihn in wenig Minuten.“ – „Was ist gut gegen einen ehrgeizigen Demagogen?“ „Der Pranger mit Halseisen, weil ihn dann alle Leute ansehen.“ So geht es fort bis zum Schlusse. Der Inhalt sieht ganz so aus, als hätte Professor Leo in Halle das Buch geschrieben.

Die Neapolitaner arbeiten und leben nicht, sie gehen, wenigstens viele blos müßig und in’s Theater. Das Theater ist ihre Gesellschaft, ihr Besuchszimmer, wo man Freunden und Bekannten in den Logen seine Aufwartung macht, und so die Kostspieligkeit des Gesellschaftgebens zu Hause spart, ihr Eins und Alles. Es ist immer zum Drücken voll, zum Dampfen heiß und immerwährend der gräßlichste Spektakel, so daß man vor Bravo’s, Beifallsgebrüll und Mißfallengezisch nicht einmal das immerwährende Gesumse und Geplauder der Logen hören kann. Viele neapolitanische Familien leben in der größten Armseligkeit zu Hause, und essen sich nicht einmal in Maccaroni satt, blos um mit ihrer Equipage auf dem Corso und persönlich in einer Theaterloge zu brilliren.

Freilich auch das Theater ist neuerdings durch polizeiliche Verbote verödet und verwüstet worden, und wie die ehemals berühmten Karnevalsfreuden jetzt aussehen mögen, davon zeugt ein pikantes Erlebniß. In dem herrlichen, heiteren, berühmten San Carlotheater, dessen berühmte Sängerinnen jetzt in London, Petersburg u. s. w. zu finden sind, nur nicht im San Carlotheater, sollte ein Karnevalsball gefeiert werden. Der englische Korrespondent, dem wir die heutige Mittheilung überhaupt verdanken, bezahlte also seine drei Schillinge Entrée und ging, erstaunt über die schweigsamen Hallen und Gänge, hinein, um die berühmten neapolitanischen Karnevalslustbarkeiten zu sehen. Ringsum starrte Alles von Soldaten, Helmen und Bayonnetten, glitzernd in blendender Beleuchtung von tausend Lichtern.

„Ich zählte 110 Soldaten und Polizeibeamte inwendig, ohne die Kavallerie außerhalb, und sieben Ballgäste. Sieben in dem großen ungeheuern Gebäude! Drei in bajazzoartigem Kostüm gehen sehr ernst und schweigsam Arm in Arm. Einer steht und tritt allein umher; dort ein Fünfter im schwarzen Domino wie ein Leichenbitter. Ein Sechster, Engländer, steht am Eingange, ich bin der Siebente. Das Orchester bläst und dutet von Oben in die leeren Räume herab und ich denke eine Minute nach der andern, daß die lustigen Leute nun bald plötzlich zu Tausenden hereindrängen werden. Aber es erscheint nur manchmal ein gar pflichteifriger Polizeibeamter und mustert uns Sieben nach einander, ob er nichts zum Verbieten, Wegnehmen, Einstecken erspähen könne. Endlich kommt eine nicht polizeilich und nicht militairisch angethane Person, der Billetabnehmer, der nichts abzunehmen hat und aus Langeweile in die Leere hereintritt. Ich frage ihn:

„Ist der Ball vorüber?“

„Nein, noch nicht angegangen.“

„Wenn fängt er an?“

Der Billetabnehmer lächelt und deutet mit dem vorsichtigsten, kaum bemerkbaren Kopfnicken auf ein großes Polizeiplakat an der Wand. Dies löst das Räthsel auf einmal. Alles Salz und Gewürz zu ihrem nationalen Feste war verboten worden, so daß die Leute beschlossen hatten, anderswo oder lieber gar nicht zu soupiren. Das Polizeiplakat verbot nämlich alle möglichen Dinge, welche dem Balle die alte nationale Lustigkeit gegeben haben würden, alle Arten von Witz und Humor, wie ihn das Volk erfunden hat und den sie bis zum Wahnsinn lieben. Das Polizeiplakat enthielt außerdem eine lange Liste von Masken und Charakteren, die nicht erscheinen, eine noch längere Liste von Gegenständen, über welche die Leute nicht sprechen sollten. Nun wunderte ich mich nicht mehr über uns traurige Sieben, die sich während der ganzen Stunde, die ich aushielt, nicht vermehrten. Als Vier verschwunden waren, ließ ich zwei Eremiten zurück und ging davon. Nein, ich ward von einem Bayonnett aufgehalten und mit dem Befehle zurückgetrieben, daß ich links abgehen müsse, dies rechts hier sei der Eingang, der natürlich wegen der Menge imaginärer Hereindrängender nicht als Ausgang passabel sein dürfte. So ging ich einsam mit hohlklingendem Wiederhall meiner Schritte über die Bretter, welche die Welt Neapel bedeuten, rechts ab, voll von einer ganz neuen Wahrheit.

Nun erst habe ich eine Vorstellung von einer Regierung, so furchtsam, daß sie den Gedanken nicht ertragen kann, man spreche von ihr, seien es auch nur lustige Maskenball- und Karnevalsgäste. Ich begreife nun das südliche, leicht erregbare Volk und die entsetzlichen Eisenmassen, die man für nöthig erachtet, es niederzuhalten. Ach, diese politischen Untersuchungen, dieses Menscheneinfangen und diese Gefängnisse – sie sind furchtbar in diesem schönen Lande!

Jemand, der nach Neapel gereist war, um dort seine Gesundheit [87] von der warmen, heitern, weichen Luft herstellen zu lassen, schreibt über das Gefängniß- und Fangwesen so:

„Es ist mir nicht möglich, mit Ruhe diesen Hafen und diese Herrlichkeiten der Natur zu genießen. Neulich weidete ich mein Auge an dem herrlichen Farbenspiele des ruhigen Sonnenunterganges, und sah hinunter weit über den farbig aufglänzenden Meerbusen. Nicht lange und ein langer Transport Gefangener ward an mir vorbeigetrieben, Gefangene wegen gewöhnlicher Polizeivergehen und Gefangene wegen politischer Gesinnungen. Die Handgelenke Aller waren mit starken Stricken so fest auf dem Rücken aneinander gebunden, daß Vielen die Hände furchtbar aufgeschwollen waren. Dabei trieben die Soldaten mit ihren Gewehren bald den Einen, bald den Andern, der Ermüdung und Ermattung verrieth. Es waren lauter „Condannati“ (Verurtheilte) zu sechs bis zehn Jahren.

Da das Königreich beider Sicilien keine Kolonieen hat, kann es diese Unglücklichen nur im Lande selbst verbannen; sie werden gewöhnlich auf öden Inseln an der Küste untergebracht, wenn nicht in die furchtbare Festung auf der Insel Maretimo eingegraben. Die Gefangenen zerfallen in zwei Klassen: Schuldige und Unschuldige, oder condannati, prozessorisch Verurtheilte oder auch im Prozeß Freigesprochene, die aber dennoch wegen verdächtiger Umstände im Gefängnisse bleiben müssen; die zweite Klasse besteht aus Untersuchungsgefangenen, die von der Polizei gefangen, in deren Händen bleiben, ohne daß sie so leicht zu einer Entscheidung über ihre Lage kommen. Diese Letzteren „alla disposizione della Policia“ sind durchweg am schlimmsten dran. Die condannati wissen doch, wie lange? und ihre Natur kann sich bald gegen das Schrecklichn ihrer Lage abstumpfen, da es einen Anfang und ein Ende hat, eine Gestalt.

Aber die Unschuldigen und auf einen bloßen Verdacht, auf die Denunciation eines Feindes hin polizeilich Verhafteten können nicht einmal erfahren, in wie viel Jahren sie einmal wirklich untersucht werden, wessen sie beschuldigt sind und auf wie viele Jahre sie dann zu dulden haben. Verhaftung und Einkerkerung auf bloßen Verdacht hin kommt leider sehr oft vor, und zwar in der Regel auf den Rath von Herren, die bezahlt, und sonst in jeder Weise bevorzugt werden, damit sie überall Zutritt haben und horchen und nach Herzenslust denunciren können.

Ich sah eine Truppe Condannati bei ihrer Ankunft im Exile auf einer Insel. Der Sbirro, Polizeibeamte, präsentirte sie dem Richter der Insel, und übergab ihm deren Akten. Nachdem ihre Namen vorgelesen waren, überließ man sie ihrem Schicksale. Sie können essen, was sie bezahlen können und wohnen, wo sie wollen. Sie bekommen von der Regierung täglich etwa drei Silbergroschen. Arbeit und Verdienst gibt’s nicht auf solchen Inseln und im Ueberdrusse präsentirt sich mancher den Behörden mit der Versicherung. daß er „Enthüllungen“ machen könne. „Enthüllungen“ sind ein sehr gesuchter Artikel bei aller despotischen Polizei. Der Enthüllungskandidat wird sofort nach Neapel geschickt und dort „vernommen.“

Die Gefängnisse in und um Neapel stecken voller Verhafteter aus allen Ständen, die nur auf den bloßen Verdacht hin oft Jahre lang sitzen. Jeder Schurke, der einen Gegner seiner Lüste und Launen beseitigen will, denuncirt ihn mindestens als „liberalen Philosophen.“ Das reicht hin, um ihn mitten aus seinem Kreise zu reißen und desto länger unter Schloß und Riegel zu halten, je unbestimmter die Beschuldigung ist. Und nichts wird so grimmig verfolgt, als die heillose Furcht vor „liberalen Philosophen.“ Ein einziger Wink, daß ein unabhängiger Mann „gefährliche Meinungen“ habe, reicht hin, ihn des Nachts aus dem Bette zu zerren und einzusperren. Ein armer, halb blödsinniger Mann, der wegen solcher gefährlichen Meinungen („opinioni“) gesessen hatte, sagte kläglich, ohne das Wort nur zu kennen: „Ich bin bestraft worden wegen Pirioni und weiß nicht mal, wer Pirioni ist.“

Die Zahl Derer, die wegen Opinioni oder Pirioni oder wegen eines Verdachts hin in Gefängnissen liegen und vergessen sind, soll groß sein. Ein neuer Gefängnißdirektor fand in einem Kerker mehrere Dutzende, deren Schuld Niemand anzugeben wußte. Er schrieb deshalb an seine „Behörde“ und meinte, ob diese nicht vielleicht vergessen sein sollten. Die „Behörde“ konnte auch nichts ermitteln, so daß sie wirklich nach Jahren, die Einige im Kerker zugebracht hatten, entlassen wurden.

Unter den politischen Gefangenen ist besonders die Zahl der „crociati“ (Kreuzträger) sehr groß, Leute, die mit Kreuzen auf der Brust nach der Lombardei wallfahrteten, um gegen Oesterreich zu kämpfen. Sie wanderten hin unter Bewilligung ihrer Behörde und unter dem Beifalljauchzen aller Bürger auf ihrem langen Wege. Als Venedig gefallen war, brachte man sie nach Pescara, von da nach Ancona, von da in einem österreichischen Kriegsschiffe zurück nach Neapel. Hier wurden sie alle in Untersuchungshaft gebracht, und befinden sich noch darin, wenn sie nicht gestorben sind. Es waren oft Jungen von dreizehn bis vierzehn Jahren, als sie auszogen, jetzt sind’s Greise oder Leichen. Ich stand selbst am Todtenbette eines solchen Kreuzträgers. Er war vierzehn Jahre alt, der politische Verbrecher, und starb mit Thränen über seine Mutter, mit Thränen, wie sie nur ein nach der Mutter weinendes Kind vergießen kann. Einige Mitgefangene brachten etwas Geld zusammen, um ihrem Leidensgefährten vor dem Riesengrabloche der Armen zu retten, und ihn anständig begraben zu lassen. Dies ward ihnen als Verbrechen notirt und bestraft.

Eines Tages bemerkte ich ein elendes, zerlumptes Individuum mit dem Ausdrucke des Wahnsinns auf einem Felsen sitzend. Zwei Soldaten näherten sich ihm, um ihn zu binden. Ich fragte, was er verbrochen. „Blasphemie!“ war die Antwort. Er schimpfte in der That auf Himmel und Erde, denn er war wahnsinnig. Ich erfuhr hernach, daß es ein bekannter Mensch sei, den der Pöbel schon lange auf jede Weise verhöhnt und mit Steinen geworfen, so oft er sich sehen ließ. War er doch ein Piemonteser, ein Sardinier. Jeder glaubte daher, sich durch einen Steinwurf gegen ihn beliebt zu machen. Die Sardinier sind alle als vogelfrei in Neapel in Bausch und Bogen verfehmt. Das Entsetzlichste aber ist, daß der Wahnsinnige, geboren und unabhängig in Genua, dort als Neapolitaner denuncirt, und deshalb gewaltsam nach Neapel gebracht worden war (zu einer Zeit, als alle italienischen Regierungen ihre „Fremden“ auswiesen). Hier verrieth sich der seines Vermögens und seiner Heimath Beraubte durch seinen Dialekt als Piemonteser, und ward von dem Pöbel der ganzen Stadt mißhandelt, bis er wahnsinnig, von „Blasphemie“ überfließend, gebunden und arretirt ward. Er starb wahnsinnig unter den Händen der Polizei. Alles, was den Behörden nicht gefällt, wird als „Blasphemie“ angesehen und deshalb gepackt und eingesteckt. Es ist die größte Polizeitasche, worin alles Mögliche Platz findet. Wer etwas Unrechtes gesagt, auf etwas Verbotenes getreten, ein Königs- oder Marienbild unehrerbietig angesehen, wird wegen „Blasphemie“ eingesteckt und zwar ohne Ansehen der Person mit Spitzbuben und Mördern zusammen. Von den auf 10, 20, 25 Jahre oder auf Lebenszeit in Eisen Geschmiedeten (Alle, die wegen einer staatsgefahrlichen Handlung oder Theilnahme an einer geheimen Verschwörung verurtheilt wurden) wollen wir nicht sprechen. Was läßt sich über sie mit ruhiger Feder sagen?

Mit welchem Gefühle mögen jetzt die Neapolitaner nach der Lombardei blicken, wo ein hochherziger junger Kaiser den Regungen seines Herzens nachging und mit einem Worte eine Masse Glücklicher schuf und für sich und sein Haus die Liebe eines Landes erwarb, das bis jetzt kalt ihm gegenüber stand?



  1. Siehe Nr. I. Jahrgang 1856 Nr. 44.