Natürlichkeit und Affektation

Textdaten
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Autor: C. Michael
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Titel: Natürlichkeit und Affektation
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 423-424
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Natürlichkeit und Affektation.

Sei doch nicht so affektirt, benimm Dich ganz einfach, natürlich!“

Wie oft hört man das als Ermahnung oder mit seufzendem Tadel rufen! Aber liebe Mutter, Tante oder Erzieherin, weißt du auch, welche unerfüllbare Forderung du mit diesem Wort an das arme junge Geschöpf stellst? Es wird sich freilich jetzt aus Leibeskräften bemühen, „natürlich“ zu sein, dabei aber sicherlich nichts erreichen, als einen noch höheren Grad der Geziertheit.

Natürlich, unbefangen natürlich in jeder Lage des Lebens und den verschiedensten Personen gegenüber, kann nur eine ausgebildete Natur, ein fertiger Charakter sein. So lange aber das junge Wesen sich beständig beobachtet, ermahnt oder getadelt weiß, wird es niemals frei aus sich heraus gehen und sich so geben, wie es wirklich ist. Die jedem jungen Mädchen eigene Befangenheit wird sich stets in gezwungenen Manieren äußern, wenn sie nicht, in einer Art von Verzweiflungsparoxysmus, zum andern Extrem überspringt und, in völlig unnatürlicher Ungezwungenheit, tolle Lustigkeit heuchelt. Das eine wie das andere tadeln wir dann als „Affektation“.

Eine alte Gouvernante sagte mir einst, die höchste Stufe der Erziehungskunst sei, ein – natürliches Benehmen bei der Jugend zu erreichen, und dieser Ausspruch hat mir damals viel zu denken gegeben. Ich prüfte darauf hin jene jungen Damen, deren heiter natürliches Plaudern man so reizend fand, deren naiv kindliche Bemerkungen für so entzückend galten, und siehe da, ich kam richtig dahinter, daß der ganze Zauber dieser sogenannten „Natur“ nichts weiter war, als die höchste Vollendung der „Kunst“. Eines jener Mädchen, dessen schelmisches Lächeln, dessen gesellige Anmuth und Liebenswürdigkeit als unerreichbare Muster galten, entpuppte sich gar bald daheim, im unbeobachteten Zustande, als das launischste, unerträglichste Geschöpf, welches Mutter, Schwestern und Dienstleute in gleich schonungsloser Art tyrannisirte und nie eine freundliche Miene oder gar eine Gefälligkeit für einen der Hausgenossen hatte. All ihre bezaubernden Eigenschaften waren nichts als ein Gesellschaftsputz, den sie mit dem andern bunten Flitter daheim wieder ablegte und im Kasten aufbewahrte bis zur nächsten Einladung.

Es scheint also in Wahrheit möglich zu sein, auch diese reizende „Natürlichkeit“ zu erlernen und einzuüben, wie etwa ein Klavierstück, um damit bei passenden Gelegenheiten zu prunken. Seit ich dies weiß, bin ich etwas mißtrauisch geworden jenen „Backfischchen“ gegenüber, die ein gar zu festes unbefangenes Auftreten haben. Nur in den seltensten Fällen wird dieses Wesen der ungekünstelten Natur entspringen, nur sehr wenige junge Mädchen können schon so früh jene Reife des Gefühles und Verstandes besitzen, die ein solches Benehmen bedingt, und gar oft sind die gerühmten „natürlichen“ Mädchen eben nur fein dressirte. Die „unschuldigen“ Blicke, das schüchterne Niederschlagen der Augen, das naive Erschrecken, das bescheidene Schweigen im rechten Moment, das aufmerksam gespannte Anhören von langweiligen Gesprächen, dies Alles ist dann sorgsam studirt, und nicht ein Funke von „Natur“ wagt es, durch die dicke Schminke der Dressur hindurch zu blitzen.

Viel mehr in der eigenthümlichen Natur des Weibes begründet ist jene anscheinende „Geziertheit“ oder „Affektation“, die man in einem gewissen Alter bei so vielen jungen Mädchen auftreten sieht. Sie kommt ganz von selbst, wie Masern oder Keuchhusten, und muß eben so ruhig ausgehalten und abgewartet werden, wie andere Kinderkrankheiten. Bei dem einen Mädchen [424]