Morphium und Cocainsucht

Textdaten
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Autor: Dr. H. Otto.
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Titel: Morphium und Cocainsucht
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Morphium- und Cocainsucht.

Es ist im Leben häßlich eingerichtet, daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn“, möchte man mit dem Dichter ausrufen, wenn man immer und immer wieder die Beweise vor sich sieht, daß ein so recht zum Wohl der leidenden Menschheit bestimmtes und für viele Schmerzen und Krankheiten geradezu unentbehrliches Mittel durch ungeeigneten Gebrauch zum Fluche für den einzelnen, für seine eigene Gesundheit und für das Glück seiner Familie, werden kann. Wenige Giftstoffe, wenn man von dem bösen Feinde so vieler Tausende, dem gepriesenen Sorgenbrecher Alkohol, absieht, haben in der Welt soviel Unheil gestiftet wie das Opium und das daraus bereitete Morphium, und während überall die Warnungen vor diesen heimtückischen Giften in der Oeffentlichkeit erschallen, hat sich ihnen ein neues, das Heroin, zugesellt, das unter dem Vorgeben, ein Heilmittel zu sein, fast noch verderblichere Wirkungen auf Geist und Körper ausübt.

Unheimliche Gäste sind es, die oft den Menschelt nach kurzer Bekanntschaft so ganz sich zu eigen machen, daß all sein Deuten ihnen untertan wird, und daß keine Warnung, keine Mahnung der Pflicht und der Ehre, kein Aufblitzen der Vernunft ihren Einfluß brechen kann. Ihre Macht ist um so größer, weil sie nicht wie bei anderen Genußmitteln aus den durch sie verschafften Annehmlichkeiten beruht, sondern aus den unerträglichen Qualen, welche die Unterbrechung der Gewöhnung nach sich zieht. Die Aerzte der zahlreichen Anstalten, die sich mit der Kur von Morphiumsüchtigen befassen, wissen schreckliche Dinge davon zu berichten, wie weit sich hochachtbare Männer und Frauen vergessen, wenn die Schrecken der Entziehung sie packen und keinen anderen Gedanken in ihnen aufkommen lassen als den, um jeden Preis wenigstens noch einmal das gewohnte Mittel zu erlangen. Nicht wenig zahlreich sind die Fälle, in denen der Morphinist zum Verbrechen, zum Diebstahl, zur Fälschung von Unterschriften schritt, um sich Morphium zu verschaffen. Wir kannten die Frau eines angesehenen Arztes, die unter dem Einfluß einer bloßen leichtsinnigen Neugier die Wirkung des ihr zugänglichen Stoffes erprobt hatte und bald ganz unter seine Herrschaft gerochen war. Ihr Gemahl, den seine Berufsgeschäfte sehr in Anspruch nahmen. bemerkte erst nach einigen Wochen das Unheil und hielt es für das Beste, seine Frau an einem fremden Orte der Behandlung eines Kollegen zu übergeben, der ihr allmählich geringere Mengen verabfolgen sollte. Der Erfolg war anscheinend vorzüglich – nach einigen Wochen verzichtete die Dame auf jede Verordnung. Nach weiteren Wochen stellte sich heraus, daß sie einem anderen Arzte desselben Ortes einen gefälschten Brief ihres Mannes übergeben hatte, worin dieser den Wunsch aussprach, der Kollege möge der von schweren Nervenschmerzen gepeinigten Kranken Morphium in nötigenfalls steigenden Gaben verschreiben. Als der Betrug an den Tag kam, waren die Folgen bereits derartig, daß nur mit großen Mühen und Kosten und nach langer Zeitdauer eine schwache Besserung zu erzielen war. Dabei handelte es sich um eine Frau, die in jeder anderen Beziehung das größte Vertrauen mit Recht genoß und der jede, auch die leiseste Unrechtlichkeit auf anderen Gebieten des Lebens vollkommen fern lag.

Einen anderen Fall, wo der Morphinismus zum Verbrechen trieb, erzählt Dr. Albrecht Erlenmeyer in seinem Buche „Die Morphiumsucht und ihre Behandlung“. Die Tochter eines verstorbenen Strafanstaltsdirekors hatte sich von einem Arzte wiederholt Morphium zu Einspritzungen verschreiben lassen. Als sie eines Tages ein Rezept erhielt, auf dem 1,2 Gramm Morphium in Lösung verschrieben waren, änderte sie diese Zahl in 6,2 um. Die Veränderung wurde erkannt, als Urkundenfälschung erachtet und die Fälscherin zu einer zehntägigen Gefängnißstrafe verurteilt. Trotz des Zwanges, unter dem Morphiumsüchtige in solchen Zuständen handeln, genügt der Nachweis des bestehenden Morphinismus allein nicht, um den Ausschluß der freien Willensbestimmung zu beweisen, bei dem das Strafgesetz das Nichtvorhandensein einer strafbaren Handlung ausspricht.

In den meisten Fällen wird der Anlaß zum Gebrauch der Morphiumspritze durch schmerzhafte Krankheiten oder durch nervöse Leiden von unbestimmtem, peinigendem Charakter gegeben. Der englische Schriftsteller Thomas de Quincey, der Verfasser der „Bekenntnisse eines Opiumessers“, berichtet, daß ein höchst schmerzhaftes Magenübel, die Folge früherer Entbehrungen, ihn zur Anwendung. des Opiums gebracht habe, während zwei Leidensgenossen ihre Gewohnheit auf ein Gefühl zurückführten, „wie wenn [192] Ratten ihre Magenwände zernagten“; nicht selten handelt es sich, namentlich bei Aerzten, denen ja ihr Beruf die gefährliche, Waffe in die Hand giebt, um den Wunsch, die aus Ueberarbeitung hervorgehende Abspannung und Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Es scheint, als ab gerade solche Menschen, bei denen eine angeborene geringere Widerstandsfähigkeit des Nervensystems eine Neigung zu nervösen Zuständen und Krankheiten schufst, zur Gewöhnung an das Morphium besonders veranlagt wären. Viele Menschen können wochenlang Morphiumeinspritzungen erhalten ohne beim Abschluß der Behandlung irgendwie das Bedürfniß zur Fortsetzung zu empfinden, während andere nach wenigen Anwendungen dem traurigen Banne des Giftes verfallen sind, und diese Verschiedenheit erklärt sich nach manchen Beobachtungen vorzugsweise durch ererbte nervöse Anlage?. Aehnliches beobachtet man ja nicht selten beim Alkohol. Ist dann noch, wie so häufig in diesen Fällen, eine gewisse Charakterschwäche vorhanden, so schreitet das Uebel besonders reißend fort und zieht wohl auch theure Angehörige des Opfers mit ins Verderben.

Ein uns bekannter junger Arzt, den Nervenschmerzen an den Gebrauch der Morphiumspritze gewöhnt hatten, kannte dem Triebe nicht widerstehen, auch seine Braut mit den Geheimnissen dessen, was ihm bald als sein Lebenselexir erschien, vertraut zu machen, obwohl er aus seinem Beruf die ganze Summe der damit verbundenen Gefahren kennen mußte. Als das Band der Ehe, zwischen ihnen gefügt ward, waren sie beide mit Leib und Seele dem Morphium verfallen, und als nun das Leben erhöhte Anforderungen an sie stellte, konnte es ihnen nicht lange verborgen bleiben, daß es so nicht weiter gehen könne. Es war gerade zu der Zeit, wo das Cocaïn als Hilfsmittel bei der Morphiumentziehungskur angepriesen wurde, weil es den Anschein hatte, als könne malt damit die Qualen der Entbehrungszeit unterdrücken. Der angestellte Versuch gelang – das Morphium war entbehrlich, geworden – aber binnen kurzem traten die nach weit schlimmeren Anzeichen der chronischen Cocaïnvergiftung hervor, die eine gewisse Aehnlichkeit mit den Erscheinungen des Säuferwahnsinns haben. Halluzinationen in verschiedenen Sinnesgebieten, das täuschende Gefühl, als ob Tausende von kleinen Thieren auf der Haut umherwimmelten, die Wahrnehmung entsetzenerregender Gestalten, scheinbare Verkleinerung und unablässige Hinundherbewegungen der Gegenstände der Umgebung, die wahnhafte Ausdeutung aller dieser Eindrücke durch das umdämmerte Bewusstsein schufen einen ebenso quälenden als gefahrvollen Zustand, so daß die Ueberführung des unglücklichen Paares in eine Heilanstalt erforderlich wurde. Wahl war das Ergebniß der langwierigen Behandlung dank dem strengen Bann der Anstalt ein günstiges; aber wird es so bleiben? In jedem Falle besteht die Gefahr, daß die beschränkteste, vielleicht durch ein vorübergehendes Uebelbefinden veranlaßte Wiederbenutzung des Mittels das ganze Unheil wieder wachrufe. Wie schwer es ist, gegen dieselbe anzukämpfen, zeigt zur Genüge die große Zahl der bedeutenden Männer, die ihr Leben lang Sklaven des Morphinismus waren und die ihm schließlich zum Opfer fielen. De Quincey nennt von hervorragenden Engländern als Beispiele Wilberforce, Milner, Coleridge und andere; von Deutschen könnte leicht eine Reihe von glänzenden Namen hinzugefügt werden, darunter mehrere der hervorragendsten Aerzte. Daß sie trotz ihres Uebels jahre-, und jahrzehntelang ihrem Ruhmeskranze noch neue Blätter hinzugefügt haben, will nichts gegenüber ihrem eigenen Elend bedeuten, von dem die ihnen Nahestehenden die traurigsten Bilder gewonnen haben.

Unter zahlreichen erschütternden Krankengeschichten theilt das erwähnte Erlenmeyersche Buch auch die folgenden mit, denen wir einige Hauptzüge entnehmen. Ein adliger Gutsbesitzer, der durch Gallensteinkoliken zum Morphiumgebrauch gekommen war, hatte sich mehrmals durch Entziehungskuren des Mittels entwöhnt. war aber immer wieder rückfällig geworden. Auf ärztlichen Rath beginnt er schließlich, neben dem Morphium Cocaïn einzuspritzen. Anfangs empfindet er danach einen sehr angenehmen Sinnenrausch und ein behagliches Wärmegefühl, bald aber sieht er sich genöthigt, die Morphiumnenge zu steigern, da die Wirkung nachläßt. Der früher willensstarke Mann, an dessen Geistesfrische und Thatkraft die bisherige geringe Morphiumgabe ebenso wenig genagt hatte wie an seiner körperlichen Rüstigkeit und seinem gemüthvollen Humor, geräth schnell in leiblichen Verfall, sieht elend und verändert aus, verliert seine Energie, wird gleichgültig gegen die Seinigen und gegen feine bisherigen Interessen; sein Gang wird schleppend, seine Sprache schwach, sein Gedächtniß nimmt ab. Im Gegensatz zu früher widersetzt er sich dem Vorschlag der Entziehungskur; als er in eine Privatklinik kommt, verschafft er sich hinter dem Rücken des Arztes zweimal seine alte Morphium-Cocaïnlösung; in der Erlenmeyerschen Anstalt verschweigt er diese Thatsache, giebt sein Ehrenwart, weder Spritze nach Morphium noch Cocaïn bei sich zu haben, wird aber nach wenigen Tagen überrascht, als er sich aus einer Eau de Cologneflasche, die er mit Morphiumlösung gefüllt, aber mit jenem Parfüm zur Herstellung des Geruchs bestrichen hat, eine Einspritzung macht; nach weiteren fünf Tagen verläßt er die Anstalt, weil ihm die Gifte vorenthalten werden.

In einem anderen Falle handelte es sich um eine zweiunddreißigjährige Offiziersgattin, die durch ein schmerzhaftes Leiden Morphinistin und nach einer Entziehungskur Cocaïnistin geworden war. Sie bricht das ihrem Gemahl gegebene Versprechen, daß sie die Einspritzungen unterlassen wolle, wird energielos, gleichgültig, menschenscheu und mißtrauisch, hört eingebildetes Trommelwirbeln und Trompetenblasen, meint, daß ihr im Manöver befindlicher Mann ein Duell mit ihrem früheren Arzte habe, glaubt beide getödtet, legt Trauerkleidung an, verschließt vor dem zurückgekehrten Gatten die Thür, veranlaßt ihre Kinder, gegen den Vater mit ihr in Bund zu treten, spritzt auch ihnen Cocaïn ein und bemerk danach bei ihnen wie bei sich selbst bedeutungsvolle Buchstaben auf dem Arm, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Das gewaltsame Oeffnen der Thür verhindert sie durch die Drohung, sich dann sofort aus dem Fenster zu stürzen. Erst nach langen Bemühungen gelingt es, durch List bei ihr einzudringen; sie ist vollkommen geistesgestört und wird auch durch eine längere Anstaltskur nicht ganz wiederhergestellt.

Der beste Schutz gegen die Morphium- und Cocaïnsucht besteht darin, daß man den Anfängen widerstehe. Gewissenhafte Aerzte, an denen Deutschland so reich ist, werden nur unter sorgfältiger Erwägung der Gefahren das für viele Kranke unentbehrliche Gift in Anwendung bringen, und die staatliche Ueberwachung des Verkaufes wird dem Mißbrauch mehr und mehr die Möglichkeit entziehen. Möge auch die Kenntniß der Gefahr recht viele vor dem Uebel bewahren! Möge immer und immer wieder vor dieser Gefahr gewarnt werden Dr. H. Otto.     


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