Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Stadt“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 211215
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Stadt. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 211–215. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Stadt (Version vom 07.12.2024)

[211] Stadt (Stadtgemeinde), größere Gemeinde mit selbständiger Organisation und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten. Verschiedene Merkmale, welche früher für den Unterschied zwischen S. und Dorf oder zwischen Stadt- und Landgemeinde von Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wie die alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welche früher einem Ort im Gegensatz zum platten Lande den städtischen Charakter verliehen, so hat sich auch der Unterschied zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung des städtischen Bürgers und des Landmanns mehr und mehr verwischt. Die Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehr schlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sind heutzutage volkreicher als kleine Landstädtchen mit vorwiegend landwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger. Beseitigt sind ferner durch die moderne Gesetzgebung die einstige Ausschließlichkeit des zunftmäßigen Gewerbebetriebs innerhalb des städtischen Weichbildes und das Recht der Stadtgemeinde, innerhalb der städtischen Bannmeile jeden für den städtischen Verkehr nachteiligen Gewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst den städtischen Gemeinden ausschließlich zukam, ist jetzt auch größern Landgemeinden (Marktflecken) zugestanden. Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet des Handels und der Industrie findet sich nicht mehr ausschließlich und in manchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in den Städten. Dagegen besteht noch in verschiedenen Staaten in Ansehung der Gemeindeverfassung ein [212] erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); doch auch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr oder weniger beseitigt.

Die Entwickelung des Städtewesens.

Die ersten Städte wurden unter den mildern Himmelsstrichen Asiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens gegründet. In Griechenland erhielten sie sich meist ihre volle Selbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten. Bei den Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als feste Plätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Bei den Etruskern und Latinern gab es schon früh städtische Niederlassungen, zunächst mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet und durch Bündnisse geeint, bis sich Rom zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzen zivilisierten Welt machte und unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reich zu führen wußte. Während bei den Kelten, ja auch bei den Slawen die Sitte des städtischen Zusammenwohnens von Anbeginn wohlbekannt war, fehlte den alten Germanen jede Neigung zum Stadtleben. Die ersten Städte in Deutschland verdankten vielmehr den Römern ihre Entstehung; sie erwuchsen meist aus den am Rhein und an der Donau angelegten Lagern und Kastellen. So entstanden: Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Bingen, Koblenz, Remagen, Bonn, Köln, Xanten, Utrecht, Leiden im Rheinthal; im Gebiet der Donau: Augsburg, Regensburg, Passau, Salzburg und Wien.

Später ging mit der Ausdehnung des Deutschen Reichs über den slawischen Osten die Entwickelung des Städtewesens Hand in Hand. Um die zum Schutz der deutschen Landschaft angelegten Burgen entstanden städtische Niederlassungen, wie sie zuerst Heinrich I., den man den Städtegründer genannt hat, begründete; ihm verdanken Quedlinburg, Merseburg und Goslar ihren Ursprung. Seinem Beispiel folgten die Markgrafen der östlichen Gebiete. Als Beamte erscheinen in größern Orten Burggrafen, in kleinern Schultheißen, in bischöflichen Vögte. In Orten, wo sich eine altfreie Einwohnerschaft erhalten hatte, erlangte diese in der Folgezeit das Übergewicht in der städtischen Verwaltung. Hier übten Schöffen die Rechtspflege aus; es gab einen Rat mit einem Schultheißen oder, wie in Köln, mit zwei Bürgermeistern an der Spitze. Die Rechte des Reichs nahm daneben ein Burggraf wahr, wozu in Bischofstädten noch der Vogt trat. Die glänzendste Entwickelung aber haben die königlichen Pfalzstädte genommen, aus deren bevorrechteter Stellung allmählich die Reichsfreiheit erblühte (s. Reichsstädte). Dagegen blieben die fürstlichen Städte, welche meist von den Fürsten selbst gegründet waren, noch lange und viele für immer unter der Territorialhoheit derselben. Doch auch hier besteht wenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihren Schultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo dann die herzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben und Sachsen, haben sich die fürstlichen Städte zur Reichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängiger die Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb des Reichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei der Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, so war die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge. Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen und schwäbischen Städte und besonders die Hansa, welche sogar den Norden Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehen vermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne Klassen durch Handel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern ab und suchten möglichst allein die Leitung der städtischen Angelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge, daß die Handwerker sich in Zünfte organisierten und um Beteiligung am Stadtregiment sich bemühten. Sie erhielten denn auch meist einige Stellen oder eine besondere Bank im Rat. An den deutschen Reichstagen nehmen die Reichsstädte vereinzelt schon seit Wilhelm von Holland teil; Ludwig der Bayer hat sie mehr herangezogen, doch wird ihre Beteiligung an jenen Versammlungen erst seit 1474 regelmäßig. Seit dem 16. Jahrh. bilden die Reichsstädte neben den Kurfürsten und Fürsten eine besondere Körperschaft auf den Reichstagen. Die Auffindung des Seewegs nach Ostindien und die Entdeckung Amerikas haben den deutschen Handel schwer geschädigt und den Mittelpunkt der merkantilen Interessen nach dem Westen, nach Spanien, Holland und England, verlegt. Verheerend schritt dann der Dreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, und unter seiner blutigen Geißel erstarb die Blüte der einst so mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verloren ihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte der Fürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergang entgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen Revolution gab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nach der Auflösung des Deutschen Reichs bis auf vier, 1866 bis auf drei, Hamburg, Bremen und Lübeck, welche noch jetzt selbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren. Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte der Fürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller und glänzender entwickelte, je entschiedener die Fürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland wurde. Im 19. Jahrh. aber hat nicht nur der Bau von Eisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau, in der Fabrikthätigkeit und im Handel dem Städtewesen in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte, welche im Mittelpunkt wichtiger Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau- und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung bisweilen verzehnfacht.

Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesen frühzeitig in Italien genommen. Die einzelnen Einwohnerklassen traten in Vereinigungen zusammen, so in Mailand die vornehmen Lehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben zu Ende des 11. Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung und Gerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte den Anspruch erhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zu ernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 das Wahlrecht der Konsuln zugestehen. Diese wurden dann vom König oder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit den Regalien belehnt. Neben jenen Beamten finden sich häufig ein Rat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeine Bürgerversammlung (parlamentum). Seit dem 13. Jahrh. wurde es Sitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter dem Titel „Podestà“ die militärische und richterliche Gewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien, ein Großer und ein Kleiner Rat, fungierten. Auch die Handwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten, bildeten Innungen und organisierten sich unter Consules oder einem eignen Podestà oder Capitano del popolo als besondere Gemeinde neben den Adelsgeschlechtern. Diese Rivalität unter den einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impuls durch die Parteiungen der Guelfen und Ghibellinen. [213] In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtische Freiheit verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen in Italien wiederum einen erfreulichen Aufschwung.

In Südfrankreich findet anfangs eine ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibt es Consules, Ratskollegien und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auch die erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter sind die Baillis, denen die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In den bischöflichen Städten von Nordfrankreich traten die untern Stände zu Vereinigungen (Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfe auf und fanden dabei bei den Königen lebhafte Unterstützung. Diese vertraten den wohlwollenden Grundsatz, daß jede „Kommune“ unter dem König stehe, obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (des alten Francien) nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte finden sich in diesen Städten: ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Als die Macht des Königtums wuchs, wurde die städtische Selbstverwaltung mehr und mehr eingeschränkt.

In England sind die Städte teils auf keltischen, teils auf römischen Ursprung zurückzuführen. Sie besaßen in der angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit und Selbständigkeit, berieten ihre Angelegenheiten in eigner Versammlung und standen unter Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerung haben sich schon früh Vereinigungen (Gilden) gebildet, welchen die Pflicht gegenseitiger Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hatten Statuten und eigne Vorsteher. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen wurden die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerieten in Abhängigkeit von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15. Jahrh. erhielten sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch haben sie auch schon früher bei der eigenartigen Entwickelung der englischen Verfassung Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten gewonnen. Ihnen wurden bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihre Zustimmung auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnen selbst überlassen. In der Magna Charta ist jedoch nur London und sieben andern Städten oder Häfen ein Recht der Teilnahme am Parlament zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städte bisweilen auf 200, doch hing die Berufung der städtischen Abgeordneten von der Willkür der Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam für die Vertreter der Städte die Bezeichnung „Gemeine“ (communitas totius regni Angliae) auf; sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälaten ein zweites Kollegium und erhielten einen Sprecher. Ihr Hauptrecht war die Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen, andre zwei Vertreter zur Versammlung der Gemeinen, wozu im 14. Jahrh. noch zwei Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh., besonders aber seit den Zeiten Elisabeths, hob sich mit dem wachsenden Wohlstand der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischen Städte hat jedoch erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt und Industrie einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn noch zu Ende des 17. Jahrh. gab es außer London, das damals 1/2 Mill. Einwohner zählte, nur zwei Städte (Bristol und Norwich) mit 30,000 und vier andre mit mehr als 10,000 Einw.

Bevölkerungsverhältnisse.

Naturgemäß bildet die S. vorzüglich den Standort für Handel und Gewerbe, welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinem Flächenraum nicht allein gestatten, sondern in derselben eine vorzügliche Stütze für Gedeihen und Weiterentwickelung finden, während die auf die Bebauung der Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuung der Bevölkerung über das ganze Land hin bedingt. Land und S. versorgen einander gegenseitig. Demnach können große Städte, welche stets der Zufuhr von Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.) bedürfen, nur bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für sie genügend entwickelt sind. Darum sind solche Städte früher vornehmlich an Meeresküsten und schiffbaren Strömen entstanden. Zwar hatte auch das Altertum seine Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nur verhältnismäßig klein sein. Und im Mittelalter bis zum 19. Jahrh. trat in den meisten europäischen Ländern die städtische Bevölkerung gegenüber der ländlichen erheblich zurück. Eine wesentliche Änderung wurde in dieser Beziehung durch die Fortschritte der modernen Technik und insbesondere des Verkehrswesens herbeigeführt. Die städtische Bevölkerung wächst in größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durch Zuzug als diejenige des flachen Landes. Als Folge dieses Umstandes läßt sich in den Städten eine stärkere Besetzung der Altersklassen von 15–35 Jahren wahrnehmen. So enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter 15 Jahren im Deutschen Reich 35, in einer Reihe größerer deutscher Städte nur 25; für die Alter von 20–30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, für die Alter von 30–40 Jahren: 13 u. 16, für die Alter über 40 Jahren dagegen: 25 u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallend erscheinen, wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahl verhältnismäßig hoch sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar vornehmlich, weil hier die gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl der unehelichen Geburten und der Sterbefälle in den meisten Städten relativ größer als auf dem Land.

In Orten mit über 2000 Einw. leben Prozente von der gesamten Bevölkerung: in den Niederlanden 80, Belgien 60, Großbritannien und Irland 45, Spanien und Italien 43, Portugal 41, Deutschland 40 (Sachsen 52, Rheinland 60, Posen 22), Schweiz 39, Österreich-Ungarn 37, Frankreich 30, Dänemark 22, Norwegen 15, Schweden 11, Rußland 11. Vorzüglich ist in den letzten Jahren die Bevölkerung der großen Städte und zwar am meisten die der Städte mit mehr als 100,000 Einw. gewachsen. In geringerm Grad hat die der kleinern Städte zugenommen, während in Orten von weniger als 3000 Seelen nicht selten ein Rückgang zu beobachten war. Auf der ganzen Erde gibt es zur Zeit 206 Städte mit über 100,000 Einw. Hiervon entfallen je 2/5 auf Europa und Asien. Von der gesamten Bevölkerung lebten 1881 in solchen Großstädten: in England und Wales 33 Proz., Belgien u. Niederlande 12,5, Frankreich 7,7, Deutschland 7,1, Italien 6,7, Österreich-Ungarn 3,3, Rußland 1,7 Proz. Die Art des raschen Wachstums einiger Großstädte wird durch nachstehende Zahlen verdeutlicht. Es hatten in Tausenden

Städte Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw.
London 1801 959 1851 2362 1875 3445 1886 4120 
Paris 1817 714 1856 1171 1876 1989 1886 2345 
Berlin 1801 173 1851 425 1875 967 1885 1315 
Wien 1800 231 1857 476 1875 677 1880 726¹
New York 1850 516 1875 1029 1886 1439²
Leipzig 1801 32 1852 67 1875 127 1885 170 
 ¹ Mit 35 angrenzenden Gemeinden 1888: 1,200,000.
 ² Mit Brooklyn, Jersey City und Hoboken 21/4 Mill.

[214] Sind die Städte schon infolge davon in politischer und wirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend, daß in denselben das gesamte geistige Leben und der menschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihr Einfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weiter gesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eine Reihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oder doch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und die vollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten der modernen Technik möglich wurde. So werden in unsern Millionenstädten großartige Aufwendungen gemacht im Interesse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit, für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung, Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen, Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staaten weit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: „Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten“ ganz vorzüglich von den Städten, insbesondere von Großstädten, in welchen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann.

Städteverfassungen.

In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sich gegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systeme gegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß an die preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov. 1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß die Verfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene, und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltung eingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An der Spitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in der Regel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretung der Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seite steht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat (Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem ersten Bürgermeister (Stadtschultheißen), welcher in größern Städten den Titel Oberbürgermeister führt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten und in größern Städten aus einer Anzahl von besoldeten und unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen, Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nach Bedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitglieder für einzelne Zweige der städtischen Verwaltung (Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat ist das Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch die Handhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchen größern Städten, einer staatlichen Behörde (Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. Die Vertretung der Bürgerschaft ist die Stadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischer Ausschuß, Kollegium der Bürgervorsteher, Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). Diese Körperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung ist zur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigen Akten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß von Ortsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihre Funktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch die Bürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in der Regel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teils besoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeistern in den größern Städten gilt, teils fungieren sie im Ehrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bis sechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgt sie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeit zulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat die Regierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedoch verschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischen Magistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im Osten Deutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in den östlichen Provinzen Preußens und in den Provinzen Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnung vom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischen Städte von den beengenden Fesseln einer weitgehenden staatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierte Städteordnung vom 17. März 1831, welche die Möglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungen treffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch, die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weise zu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 für die östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern und Rügen für die dortigen Städte ihre auf besondern Bestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuern Verwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungen dieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von der Städteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Eine besondere Städteordnung ist 25. März 1867 für Frankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dort aus den von der S. präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14. April 1869 überweist die Verwaltung einem aus Bürgermeister und „Ratsverwandten“ bestehenden Magistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover (Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebenso wie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialisch organisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern (Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen (revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), in Braunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe und Schaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht die Städteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung, ebenso in Mecklenburg.

Neben dem bisher erörterten System findet sich aber in Deutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich dem Einfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dies kennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen. Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte der S. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem oder mehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung ist Sache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in der Rheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in der bayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und in den reußischen und schwarzburgischen Fürstentümern vertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes System gilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier ist die Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sie nähert sich aber mehr der städtischen als der ländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand der Gemeinde noch einen Gemeinderat für die Verwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung der Bürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. In Elsaß-Lothringen besteht das französische System, doch ist seit 1887 die Änderung getroffen, daß der Bürgermeister und die Beigeordneten nicht [215] mehr notwendig dem Gemeinderat zu entnehmen sind, wie dies früher vorgeschrieben war. Auch kann jenen Gemeindebeamten, entgegen den in Frankreich geltenden Bestimmungen, kraft ministerieller Anordnung eine Besoldung gewährt werden. Eine Entschädigung für Repräsentationsaufwand war schon nach französischem Recht zulässig. In Frankreich selbst erscheinen die Städte wesentlich als Verwaltungsbezirke, und von einer eigentlichen Selbständigkeit derselben ist nicht die Rede. Dagegen hat Schweden durch Gesetz vom 3. Mai 1862 seinen Städten die Selbstverwaltung verliehen. Auch in England ist die Städteverfassung von dem Regierungseinfluß möglichst unabhängig. Für Rußland ist eine Städteordnung 16. Juni 1870 erlassen.

[Litteratur.] Vgl. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869–71, 4 Bde.); Heusler, Der Ursprung der deutschen Städteverfassung (Weim. 1872); Hüllmann, Städtewesen des Mittelalters (Bonn 1825–29, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Brülcke, Die Entwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881); „Chroniken der deutschen Städte“ (hrsg. von der Münchener Historischen Kommission 1862–89, Bd. 1–21); Lambert, Die Entwickelung der deutschen Städteverfassungen im Mittelalter (Halle 1865, 2 Bde.); v. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (Düsseld. 1888); Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende des Mittelalters etc. (Berl. 1886) und die Litteratur bei Art. Stadtrechte; ferner Steffenhagen, Preußische Städteordnung vom 30. Mai 1853 (6. Aufl., Demmin 1885); Derselbe, Handbuch der städtischen Verfassung und Verwaltung in Preußen (Berl. 1887–1888, 2 Bde.); Örtel, Städteordnung vom 30. Mai 1853 (Liegn. 1883, 2 Bde.); Kotze, Die preußischen Städteordnungen (2. Aufl., Berl. 1883); Ebert, Der Stadtverordnete im Geltungsgebiet der Städteordnung vom 30. Mai 1853 (2. Aufl., das. 1883); „Städteordnung für die Rheinprovinz“ (3. Aufl., Elberf. 1882); v. Bosse, Die sächsische Städteordnung (4. Aufl., Leipz. 1879); Schwanebach, Russische Städteordnung (St. Petersb. 1874); Gneist, Selfgovernment (3. Aufl., Berl. 1871); Kohl, Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Leipz. 1874); Sitte, Der Städtebau (geschichtlich, Wien 1889).