Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 834–835
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kaufempfehlungen für einige Prachtausgaben zu Weihnachten.
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Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.

XXII.

Der Christmarkt, verehrte Freundin ist auch ein Büchermarkt, und unter den Lichtern des Christbaums versammeln sich die Heerschaaren der schönen Literatur im Paradeanzug. Sie werden auch einige dieser eleganten Musenkinder auf Ihren Weihnachtstisch legen, und es wird von ihnen geistiges Licht und geistige Wärme ausstrahlen in den baltischen Winter, der über die frierende Ostsee seine Schneewolken jagt.

Freilich, viele dieser zierlichen, geschmackvollen und prächtig ausgestatteten Weihnachtsbücher gehören deshalb doch nicht zu den geistigen Leuchten; es giebt auch viele schön eingebundene Maculatur, und die Ritter des Geistes in bescheidener Hülle erfahren dagegen unverdiente Zurücksetzung. Das Christkind erfreut sich, wie alle Kinder, an dem äußeren Glanz und Schimmer, und wo sich dieser dem innern Werth gesellt, da werden alle Ansprüche befriedigt. Ein illustrirter Schiller ist gewiß ein schönes Weihnachtsgeschenk, und man muß es der Hallberger’schen Buchhandlung zum Verdienst anrechnen, daß sie diese Gabe dem Christkind an die Hand gegeben hat. Dasselbe gilt von dem Prachtwerk „Aegypten“, das der gelehrte und phantasievolle Georg Ebers herausgiebt. Ist es doch diesem Autor gelungen, Aegypten mit seinen Prinzessinnen und Sphinxen in Deutschland Mode zu machen – das altersgraue Aegypten und die modernen Toilettentische: wer hätte das geglaubt? Der Nilschlamm hat sich befruchtend erwiesen auch für den deutschen Buchhandel.

Ein anderes Prachtwerk: die „Germania“ von Johannes Scherr mit ihren Geschichtsbildern, mit dem Text im schlag- und schwunghaften Stil, den dieser Autor beherrscht, dann die italienischen Kunstdenkmäler, von Ernst Eckstein, einem kundigen und geschmackvollen Interpreten, herausgegeben, werden gewiß auch auf vielen Weihnachtstischen eine Stätte finden.

Daneben die Anthologien und die großen poetischen Albums! Seitdem das Düsseldorfer „Künstleralbum“ schlafen gegangen ist, haben wir nur eines, das in gleichem Stil gehalten ist, das von Albert Traeger herausgegebene „Deutsche Kunst in Bild und Lied“. Auch in diesem Jahr ist es erschienen, und Sie, verehrte Freundin, werden es mit Vergnügen durchblättern. In den Zeichnungen freilich überwiegt das Genrebild, wie dies schon im Düsseldorfer Album der Fall war. Kinder, zahme und wilde Thiere, Scenen aus dem Salon- und Volksleben: das löst sich ab in bunter Reihe; dazwischen landschaftliche Veduten und Studien, ein Schloß an der Mosel, der Golf von Neapel und ähnliche Bilder. Nur ein Schlachtbild von geschichtlichem Interesse findet sich unter ihnen, der Tod des Prinzen Louis Ferdinand, dieses genialen preußischen Prinzen, der im Treffen bei Saalfeld fiel. Moritz Blankarts, ein Künstler, der abwechselnd Pinsel und Feder führt, hat das Bild gezeichnet. Bei den poetischen Geschwadern, die unter dem Commando von Albert Traeger in’s Feld rücken, finden sich einige Veteranen, aber auch viele neu angeworbene Truppen; Sie werden unter den jüngeren Kräften manches hübsche Talent begrüßen. Die älteren Lyriker haben nicht immer ihren guten Tag; bisweilen schläft auch Homer. Hermann Lingg hat ein Gedicht: „Shakespeare“ beigesteuert, das an Unverständlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt; selbst die Verse sind unmöglich. Geibel und Bodenstedt fehlen: der letztere hat bereits transatlantischen Boden betreten. Mirza-Schaffy im Westen – es ist etwas Neues; zwei Welten sollen dem Dichter huldigen. Hamerling in unserem Album bietet ansprechende Gedichte, ebenso der Herausgeber selbst und viele Andere. Sie werden finden, daß unsere jüngste Lyrik im Ganzen keinen leidenschaftlichen Zug hat und nicht auf’s Große gerichtet ist; das stille Empfinden und der Klang und Hauch des innigen Liedes überwiegt. Die Politik wird mehr oder weniger Tabu für unsere Poeten, und in der That, sie hat den begeisternden Schwung verloren: sollen sie die Zölle und Steuern und das Reichseisenbahnwesen in Verse bringen?

Der Roman und die Novelle erscheinen in der Regel nicht „mit Goldschnitt“, in jener für den Weihnachtstisch besonders courfähigen Tracht; aber die Werke beliebter Autoren finden dennoch ein Plätzchen auf demselben. Wie viele Freytag’sche „Ahnen“ haben bereits unter den grünen Zweigen des für fromme Zwecke entwurzelten Tannenbäumchens den Enkeln gewinkt! Diesmal wird hier kein neuer Ahn gebettet: kein Ingo und Imo; auch verlieren die edlen deutschen Jünglinge von Band zu Band ihren sagenhaften Reiz. Doch auf einige Werke unserer erzählenden Literatur, verehrte Freundin, möchte ich Sie hinweisen, auf einige neu auftauchende Talente, die zum Theil unter den Fahnen der „Gartenlaube“ sich ihre Sporen verdient haben.

Zwar der phantasievollen Mutter phantasievolle Tochter, Wilhelmine von Hillern, ist Ihnen schon lange bekannt: die Lust zu fabuliren hat sie von der Mutter geerbt; nur hatte diese eine Bühnenphantasie, die Alles in Scenen und Acten, im Lichte der Prosceniumlampen vor sich sah, während die Phantasie der Tochter mehr die Illustrationen der Romancapitel im Auge hat, doch ist diese selbstschöpferisch, während sich die Mutter an andere Schöpfungen anlehnte. Die neueste Erzählung von Wilhelmine von Hillern „Und sie kommt doch“ ist ein Pendant zu dem Roman „Homo sum“ von Georg Ebers; beide behandeln den Sieg des Menschlichen über die Askese. Ich weiß, verehrte Freundin, es ist so wenig Ihr Geschmack wie der meinige – das sich peinigende Büßerthum. Und wenn das Licht unseres Jahrhunderts auf diese Scenen fällt, so erscheinen sie doppelt grell und das Gefühl beleidigend. Und doch haben wir Philosophen, deren Lehren zuletzt darauf hinauskommen, daß wir dem Beispiel des Eremiten am Sinai oder selbst demjenigen des Mönchs vom Kloster Marienberg Folge leisten sollen. Dieser Mönch ist nicht blos [835] ein Pater, der sich von der Welt zurückgezogen hat, um seinen klösterlichen Pflichten und stiller Beobachtung zu leben. So leicht hat es die Dichterin ihrem Helden nicht gemacht. Als ihn ein Schimmer der weltlichen Schönheit streift und sein Gemüth entzündet, da ist er zur schwersten Buße bereit, und als ein fanatischer Mönch ihn mahnt, selbst im Widerspruch mit den Klosterregeln, welche die Selbstverstümmelung verbieten, diese Buße an sich zu vollziehen und sich die Augen auszustechen, so folgt er dem grausamen Gebot, doch in seiner Blindheit geht ihm erst das Licht auf: das Licht der Liebe … „und sie kommt doch!“ Die Liebe zu dem Mädchen, das seine Führerin wird, erfaßt ihn mit einem unwiderstehlichen Zauber … und bis in die hohe Bergwildniß, in die er sich nach der Zerstörung des Klosters zurückzieht, folgt ihm die Geliebte, und als sie dem Fieber erlegen, stürzt der Blinde in den Abgrund, ihre Leiche im Arm.

Die Dichterin hat zu dieser Erzählung sehr eingehende Klosterstudien gemacht; doch mehr als diese Treue des Costüms interessirt der ausnehmende Reichthum der Phantasie und die Menge genialer Züge, die in der Erzählung verstreut sind. Wilhelmine von Hillern liebt die grelle Beleuchtung, aber was sie in dieselbe rückt, ist nichts grotesk Phantastisches, es ist alles von Gedanken und Empfindung durchdrungen. Die landschaftlichen Schilderungen der Malser Haide und des oberen Etschthales sowie der Alpenscenerie des Ortler Gebirgsstockes sind ebenso anschaulich wie stimmungsvoll; die Wanderung des Blinden mit dem Mädchen in allen ihren Wechselfällen ist ein Cabinetsstück der Schilderung. Die Charakterköpfe der Mönche sind gut contrastirt, von dem sanften Astronomen bis zu dem wilden Fanatiker; nur die Blendung selbst und das Erscheinen des Geblendeten im Convent der Mönche ist von der Dichterin mit einem unleugbaren Behagen an dem Gräßlichen dargestellt. Es sind nur zarte Alpenblumen der Liebe, die sie in ihren dichterischen Strauß gereiht hat; wenn hier das wild Leidenschaftliche fehlt, so entschädigt sie sich dafür durch die Grausamkeit mancher Scenen.

Keinesfalls ist Wilhelmine von Hillern eine Schablonenschriftstellerin: sie hat mehr Geist, als zum Handwerk nöthig ist, und bisweilen verleitet sie dieser Ueberschuß zu kleinen Extravaganzen.

Einen aparten Zug der Darstellungsweise hat auch E. Werber, eine Schriftstellerin, deren Erzählungen, aus der „Gartenlaube“ hervorgegangen, unter dem Titel „Feuerseelen“ gesammelt vorliegen. In einzelnen dieser Novellen erinnert sie an Jules Verne. Sie kennen, verehrte Freundin, diesen französischen Romanschriftsteller, der das naturwissenschaftlich Exacte mit dem phantastisch Unmöglichen in so befremdlicher Weise vereinigt. Seine „Reisen auf dem Mond“, „In die Tiefen des Meeres und der Erde“ sind gleichsam wissenschaftliche Märchen. Die erste Erzählung von E. Werber, „Der Aërolith“, ist ganz im Verne’schen Stil gehalten. Dieser Meteorstein wird uns mit einer Genauigkeit beschrieben, wie dies sonst nur in einer physikalischen Zeitschrift der Fall sein würde, und Alles, was sich mit ihm zuträgt, begiebt sich regelrecht nach den Gesetzen der Schwere und der mechanischen Bewegung. An diesen „Aërolithen“ aber knüpft sich in phantastischer Weise der Untergang der Heldin, und auch der Geliebte, der ihr Herz gewinnt, wird in eine Art von magischem Zusammenhang mit demselben gesetzt. E. Werber ist ein Feuerkopf; es herrscht in Allem, was sie schreibt, ein leidenschaftlicher, oft excentrischer Ton, und ihre Helden sind zum Theil wunderliche Heilige, wie dieser Bildhauer Nervol, der dem Elend der Menschen einen Riesentempel weihte, gleichsam Schopenhauer’s Philosophie in Stein hauen will. Die psychologische Entwickelung in diesen Erzählungen geht oft sprungweise vor sich; das Ende der meisten ist tragisch, der gewaltsame Tod oder das Irrenhaus.

Die verzehrende Leidenschaft, die Feuerseele, ist das Lieblingsthema unserer Novellistin. An solcher Leidenschaft geht die polnische Gräfin, die Heldin der Karpathenidylle und des Concertsalons, zu Grunde; solche Leidenschaft beseelt den genialen Maler Bodiwil, und Mariana, das dalmatische Mädchen, das, schwerverwundet vom eigenen Bruder, diesen auf ihren Armen trägt und ihn nach den Bräuchen des Landes so beschimpfte, daß er sich ihr nicht mehr nähern durfte. Der canadische Achilles ist eine Verherrlichung indianischen Heldenmuthes, sowie Pater Gregor diejenige des priesterlichen Heroismus.

Die Verfasserin sagt irgendwo zu ihrer Selbstvertheidigung, daß sie „hohe Ueberzeugungen habe und lieber auf einem einsamen Felsen sich den Hals breche, als auf der breiten Landstraße dahinschlendere“. In der That, weder Auffassung noch Darstellung dieser Erzählungen hat etwas Landläufiges; man könnte sie novellistische Oden nennen. Der Oden- und Hymnenstil ist in ihnen vorherrschend, das Mächtige, Grandiose, besonders in den Naturschilderungen, ob sie nun den Sturm im transatlantischen Urwalde oder den Felssturz darstellen, der ein Kloster unter den Trümmern begräbt. Bisweilen hat die Kraftsprache der Autorin das Hyperbolische, Ueberschwängliche, wie es die Kraftdramatiker, die Grabbes und Hebbel, lieben. Er ist ganz gewiß eine absonderliche Erscheinung, dieser Kraftstil in der Novelle. Feuergeister und Feuerseelen indeß verschmähen den gewöhnlichen Maßstab; sie können ihre Gluth nicht mäßigen; Wassergeister und Wasserseelen sind von Haus aus für die Literatur verloren. Solche Naturen, welche, wie der Salamander der Sage, im glühenden Elemente leben, haben etwas Unverwüstliches und deshalb Zukunftvolles. Ein wenig mehr Maß und Beschränkung, und die Dichterin wird immer noch für das Ungewöhnliche ihrer Novellistik Beachtung fordern können!

So herausfordernde Geberden, so titanische Gewaltthätigkeit sind den „Bunten Novellen“ von Victor Blüthgen fern: hier ist der Ton der Erzählung leichtflüssig, und es überwiegt eine feinsinnige Stimmungsmalerei, die sanftere, nicht die getragene Lyrik, wenn die Erzählung hier und dort lyrisch opalisirt. Sie werden, verehrte Freundin, diese Geschichten mit warmem Antheil lesen. Freilich, die Vorliebe für das Tragische ist auch Victor Blüthgen eigen, in seinen beiden Haupterzählungen verleugnet sie sich nicht; in „Die schwarze Kaschka“ ist es die Schlußkatastrophe, in „Der Recensent“ sind es einige Zwischenfälle der Handlung. Die schwarze Kaschka ist ein mährisches Mädchen, welches einem preußischen Soldaten, der es im Feldzuge von 1866 kennen gelernt, an’s baltische Gestade nachzieht mit ihrem und seinem Kinde. Der Bauernstolz des Vaters, der Trotz des Sohnes, der, auf sein Erbe verzichtend, das Mädchen freit, seine Eifersucht, die zuletzt zur Gewaltthat führt: das ist alles in ungezwungener und spannender Weise erzählt. Stimmungsvoll ist besonders der Contrast zwischen der südlichen, feurigen Tochter Mährens und den nordisch kaltblütigen Bewohnern des Fischerdorfes gehalten und ihre Vereinsamung geschildert.

In der Erzählung: „Der Recensent“ weht Theaterluft: viele Scenen darin sind fesselnd, und ihre Darstellung verdient volles Lob wegen ihrer Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit, aber die Heldin selbst, eine jener Sphinxe, wie sie in den Bühnentempeln zu finden sind, erregt doch nur geringe Sympathie, und man freut sich nicht der glücklichen Schlußwendung, die sie in die Arme des Geliebten führt. Mehr ein Lustspielmotiv liegt der Novelle: „Die Locke der Loreley“ zu Grunde; auch diese Loreley, die auf dem romantischen Felsen Wache hält, ist eine etwas excentrische Kunstjüngerin, die sich sogar von einem Fremden eine Locke von ihrem Haar losschneiden läßt. Die magische Gewalt dieser Locke zerstört ein nüchternes Liebesverhältniß und führt den Gefangenen zuletzt in die Gewalt der sieghaften Nixe. Die Erzählung ist ein romantisches Capriccio, die rheinische Scenerie von lebendigem Colorit. Lesen Sie, verehrte Freundin, die anderen Erzählungen E. Werber’s und Victor Blüthgen’s! Ich will Ihnen nicht jede Ueberraschung durch Angabe ihres Inhaltes rauben. Sie werden in allen Anregendes und Fesselndes finden.

Sie sehen, die Talente sterben nicht aus; wo ein Zweig vertrocknet, setzt bald ein anderer an. Jean Paul, ein uneigennütziger Prophet, der sich nicht, wie mancher Platenide, mit der eigenen Unsterblichkeit brüstete, sprach es irgendwo aus, daß er bereits hundert dichterische Genien der Zukunft mit ihren Blumen- und Fruchtkörben sehe; er glaubte an die Unerschöpflichkeit der deutschen Dichtung. Wir theilen diesen Glauben, verehrte Freundin; Bleibendes und Vergängliches jetzt schon sondern zu wollen, wäre vergebliches Streben: das ist die Sache der Zukunft, und sie wird gewiß diejenigen am wenigsten respectiren, die sich am meisten mit ihrer eigenen Unsterblichkeit beschäftigen.

Freuen wir uns darüber, verehrte Freundin, daß auch der Christbaum unserer Dichtung in einem Lichterglanze strahlt, der jedes Jahr sich erneuert – mögen auch manche seiner von Goldschaum glänzenden Aepfel etwas sauer sein!


WS-Anmerkung:

Dieser Beitrag erschien als Nr. XXII in der Serie Literaturbriefe an eine Dame