Textdaten
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Titel: Genie und Irrsinn
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[879] Genie und Irrsinn. Unter diesem Titel hat ein italienischer Professor C. Lambroso eine Schrift verfaßt,[1] in welcher er die Verwandtschaft des ersteren mit dem Wahnsinn untersucht und die Beziehung beider zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte aus einander setzt. Es wird viele Leser ganz sonderbar gemahnen, wenn sie die höchste Begabung des Menschengeistes mit seinen größten Verirrungen zusammengestellt sehen: und doch ist dies nicht etwas so Neues, daß es Befremden erregen könnte; man denke nur an das Wort des großen Shakespeare:

„Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn rollend.“

Schon der Vater aller Denker, Aristoteles, meinte, daß viele Menschen in Folge heftigen Zuströmens des Blutes nach dem Kopfe zu Dichtern, Propheten und Sibyllen werden, wie Markus von Syrakus, der in Anfällen des Wahnsinns schöne Verse verfaßte, bei ruhigem Geiste aber ohne jede dichterische Begabung war. Platen nennt das in einem reinen und kindlichen Gemüth entzündete Feuer, „in schöner Dichtung die Thaten der Helden zu besingen“, eine Art von Irrsinn; Paskal erklärte, daß die höchste Stufe des Genies dem Wahnsinn nahe liege. In der That gaben sich mehrere hochbegabte Männer Hallucinationen hin und verfielen auf lange Zeit dem Wahnsinn. Neuere Gelehrte suchten darzuthun, daß der Genius ein Nervenzustand sei, der nicht selten mit demjenigen der Irrsinnigen übereinstimme. Verschiedene geniale Menschen, die durch fortgesetzte Selbstbeobachtung bestrebt waren, ihr Inneres zu erforschen, haben die dichterische Begeisterung als ein sanftes Fieber beschrieben, dem unwillkürlich und schnell die Gedanken entspringen, von dem die Funken sprühen, wie von einem brennenden Holzscheite, das man schüttelt.

Ueberaus zahlreich sind die Sonderbarkeiten, die geniale Menschen dann, wenn sie mitten in ihrer schöpferischen Thätigkeit waren, an den Tag legten. Viele haben im Traume gedichtet, Entwürfe abgefaßt, Verse gemacht. „Alle Handlungen des Genies,“ sagt Voltaire, „sind Werke des Instinkts.“ Corneille schrieb die Scene der Horatier „wie ein Vogel sein Nest baut.“ Tasso glich einem Besessenen, wenn er dichtete; Milton vergrub sein Haupt in die Sofakissen; Bossuet pflegte sich in ein kaltes Zimmer zurückzuziehen, nachdem er sich den Kopf mit warmen Tüchern umwickelt hatte; Rossini komponirte im Bette, Rousseau ordnete seine Gedanken, wenn er unbedeckten Hauptes in der heißen Mittagssonne spazieren ging.

Die Leidenschaften aller genialen Menschen sind heftig, ihre Empfindsamkeit ist oft bis zum Krankhaften gesteigert: das ist derselbe Boden, auf welchem der Irrsinn erwächst. Geniale Gelehrte sind oft einseitig: sie haben sich oft ihr Lebenlang mit einem beschränkten Zweige des menschlichen Wissens beschäftigt; eine Aehnlichkeit mit der „Monomanie“, den Irren, die ganz von einer fixen Idee beherrscht werden. Darum fällt es gleich schwer, Geisteskranke wie hochbegabte Männer von einmal gefaßten Vorsätzen oder Anschauungen abzubringen.

Eine andere sonderbare, aber nichts desto weniger feststehende Thatsache ist diejenige, daß viele Wahnsinnige in verwandtschaftlichen Beziehungen zu genialen Menschen stehen und daß umgekehrt viele hochbegabte Männer Verwandte und Kinder hatten, die an Fallsucht, Blödsinn und Irrsinn litten. Richelieu’s Schwester bildete sich ein, ihr Rücken sei von Krystall, und die Schwester Hegel’s glaubte sich in ein Postpacket verwandelt. Die Schwester Niccolini’s glaubte, wegen der Ketzereien ihres Bruders das eigene Seelenheil verlieren zu müssen und machte wiederholt den Versuch, ihn, der ihr eingebildetes Seelenunglück verschuldet habe, zu tödten. Die Schwester Lamb’s tödtete in einem Anfalle von Wahnsinn ihre eigene Mutter; die Mutter Karl’s V. war Johanna die Wahnsinnige. Beethoven’s Vater war ein Trinker; Byron’s Mutter geistesschwach. Sein Vater führte ein ausschweifendes Leben und hatte einen frechen, schamlosen Charakter; auch sagte Byron von sich selbst: „Wenn es einen Fall giebt, in welchem ein excentrischer Charakter zu entschuldigen ist, so trifft dieser Fall bei mir ein, der ich von einer Familie abstamme, deren Charakterbeschaffenheit mich zu allem Anderen, nur nicht zur Harmonie des Gemüths führen und zum häuslichen Frieden befähigen konnte.“ Der Vater Schopenhauer’s war ein Mann von absonderlichem Charakter und endete durch Selbstmord; eine Tante und ein Großvater des Philosophen waren wahnsinnig. Die Kinder Mercadante’s, Donizetti’s, Volta’s, Manzoni’s fielen dem Wahnsinn zum Opfer, eben so Villemain’s Vater und Bruder und Kant’s Schwester.

Zahlreich ist das Verzeichniß geisteskranker Genies, welches sich in der Schrift von Lambroso findet; man wird darunter allerdings viele Männer antreffen, deren Lebensbeschreibungen, wie sie die Konversationslexika bieten, wenig oder gar nichts von geistigen Störungen enthalten; doch ein genaues Studium ihrer Lebensläufe zeigt, daß sie in einzelnen Epochen unter der Herrschaft des Irrsinns standen und daß viele ihrer Sonderbarkeiten keine andere Erklärung zulassen, als daß sie durch geistige Störung veranlaßt wurden. Wer über höchst merkwürdige und abenteuerliche Fälle von Seelenstörung und über verschiedene Arten des Wahnsinns Näheres erfahren will, der lese die überaus stoff- und inhaltsreiche Schrift von Lambroso. Auch auf das Wesen des künstlerischen Genies läßt sie manche neue und überraschende Lichtblicke fallen. †      

  1. Mit Bewilligung des Verfassers nach der 4. Auflage des italienischen Originaltextes übersetzt von A. Courth (Leipzig, Reclam).