Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelmine Heimburg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein armes Mädchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 2–6
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Nummern 1–17
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[2]

Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.


Leise wurden beide Fenster geöffnet, und nun zog schmeichelnd feuchtwarme Frühlingsluft in das Gemach und spielte um ein blutjunges Frauenantlitz, das seltsam blaß und still in den weißen Kissen des Lagers ruhte; der Luftzug hob wie gespenstisch die volle blonde Haarlocke auf der bleichen Stirn und bewegte die Vorhänge einer blau verhangenen Wiege, die man, als sei sie überall im Wege, in den hintersten Winkel des Zimmers geschoben hatte.

„Stehen Sie auf, Hegebach,“ sagte eine tiefe Frauenstimme, „Gott kann geben und nehmen, und wir müssen es geduldig tragen.“

Es war eine hohe volle Frauengestalt in den vierziger Jahren, die mit diesen Worten zu dem Manne trat, der bewegungslos vor dem Bette lag und seine Arme wie in wildem Schmerz über die Todte geworfen hatte. Er rührte sich auch jetzt nicht, und die Sprecherin wischte sich hastig ein paar Thränen aus den hellen klugen Augen.

„Hegebach, es geht nicht, Sie dürfen nicht den ganzen Tag hier liegen ohne Speise und Trank! Kommen Sie,“ fuhr sie fort, aus dem ermahnenden Tone in ein halb ersticktes Schluchzen übergehend, „kommen Sie, Hegebach, Sie haben noch Pflichten, denken Sie an das Kind!“

Er stöhnte dumpf auf und erhob sich. Er war kein junger Mann mehr, und der Schmerz ließ das bärtige Gesicht mit dem unverkennbar militärischen Haarschnitt noch viel älter erscheinen; fast unheimlich starr blickten die Augen auf das friedliche süße Antlitz, das dort so ruhig schlummerte. Dann sich jäh umwendend, verließ er sporenklirrend das Zimmer, nicht mehr ein Trauernder, sondern wie ein zürnender, ein schwer Beleidigter. – Die zurückbleibende zog still die Falten des weißen Tuches zurecht über der Todten und strich wie liebkosend über das kindliche Gesichtchen, dann holte sie die Wiege aus dem Winkel und trug sie hinaus.

Im gegenüber liegenden Zimmer schrie Etwas; sie öffnete hastig die Thür und trat in ein kleines einfensteriges Gemach, offenbar das der Verstorbenen; unendlich zierlich, wenngleich fast zu einfach für eine Dame von Stand, mit feinen weißen Vorhängen und dem Nähtisch am Fenster, durch welches man im Garten draußen die jungen zartgrünen Zweige der Linde im Frühlingswehen schwanken sah. Niemand hier innen, nur auf dem Sopha ein weißes Bündelchen, daraus ein paar winzige rothe Händchen sich reckten und ein schier hülfloses Weinen erklang.

Die große stattliche Frau lag plötzlich auf den Knieen vor dem Sopha und barg, aufweinend, ihr Gesicht in den kleinen Kissen. „Ja, ja,“ flüsterte sie, „Dir lacht’s nicht in der Welt, Du armes Ding! Keine Mutter, keine Mutter! Und Dein Vater thut, als hätte ihn Gott schwer beleidigt, daß er Dich eine arme Deern werden ließ. Warum bist Du dummes kleines Gör nicht ein Junge? Und Alles fort, natürlich! Sie lassen Dich hier schreien, und hungrig bist Du auch.“

Sie schwieg und sah einen Moment wie überlegend auf das kleine rothe Gesichtchen, das sich, kaum beruhigt, eben wieder zum Weinen verzog. „Wart nur, wart,“ sagte sie, rasch das Kind emporhebend, „ich nehme Dich mit auf die Burg; was soll er auch mit so einem Wickelkind!“

Zwei Tage später ward die junge Frau Rittmeisterin von Hegebach begraben. Ihr kurzer Lebenslauf war das Tagesgespräch im ganzen Städtchen, und wer ihn noch nicht kannte, der erfuhr gar bald, daß sie ein blutarmes Fräulein gewesen und den viel älteren, ebenfalls unbemittelten Mann nur genommen, um versorgt zu sein. Von ihm hatte Niemand mehr geglaubt, daß er noch freien würde, war er ja doch schon ein alter Knabe, und mürrisch und verdrießlich dazu. Nun war es just ein Jahr, daß er sich diesen Sonnenstrahl in sein Haus geholt – welch ein kurzes Glück!

„Wenn es überhaupt eins gewesen,“ sagten auch Manche. Der Rittmeister von Selchow versicherte indessen einigen jüngeren Cameraden auf dem Wege zum Trauerhause, er wisse aus authentischer Quelle, Hegebach’s Verheirathung sei ein coup de désespoir gewesen. Er, Hegebach, habe nämlich vor ohngefähr fünfviertel Jahren von seinem alten Erbonkel, dem Bennewitzer, einen Brief bekommen, der ihm kurz und bündig erklärte, der Onkel verspüre keine Lust, sein Vermögen einem Paar alter Junggesellen, wie seine beiden Neffen ja leider seien, zu vermachen, er wolle wissen, für Wen er gespart und gesorgt haoe. Wer von den beiden Herren ihm zuerst die Geburt eines legitimen Sohnes melde, sei der Bevorzugte. Töchter würden nicht in Frage kommen. – Hegebach’s Vetter, der von den fünften Dragonern, habe nicht geantwortet auf dies Schreiben, man munkelte von einem Verhältniß, das er nicht sogleich lösen könne. „Unser Rittmeister antwortete aber acht Tage später sehr präcise mit einer Verlobungskarte. Voilà tout! Das Weitere wissen die Herren; wir wohnen heute dem traurigen Schlusse dieser Angelegenheit bei. – War ein reizendes Weib, die kleine Hegebach; – jammervoll!“ schloß er pathetisch.

Frau von Ratenow aus der Burg hatte die junge Mutter gepflegt und auch die Honneurs im Trauerhause gemacht; es war eine entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen. Eltern hatte die Verstorbene nicht mehr gehabt, aber der Vormund war heute früh zur Beerdigung gekommen, die Cameraden waren erschienen und die Spitzen der Behörden, und die Regimentscapelle schritt vor dem blumengeschmückten Sarge durch die winkeligen Gassen und spielte „Jesus meine Zuversicht“. Im vollsten Waffenschmuck folgte der Wittwer dem Leichenwagen; es lag auf seinem starren Gesicht nichts von Trauer, wohl aber ein Ausdruck von Weltverachtung; es war, als schürzten sich die Lippen unter dem bereits grau melirten Vollbart zu fast hohnvollem Lächeln.

Dann war auch das vorbei. Die Leute waren gegangen; auf dem Kirchhofe wölbte sich ein frischer Hügel mehr und die Straße vor dem Trauerhause lag wieder einsam; nur ein einziger Wagen hielt noch vor der Thür mit ein paar prächtigen Rappen, reicher Leute Fuhrwerk.

Im Zimmer der Verstorbenen schaukelte leise die kleine Korbwiege mit dem schlummernden Kinde; ein altes Dienstmädchen, die Hände im Schooß, saß mit rothgeweinten Augen daneben. Sie hatte vorhin die einfachen Möbel mit Tüchern verhängt; die zierlichen Deckchen, die Blumen am Fenster waren verschwunden, die Vorhänge und Teppiche verwahrt; nun sah es aus, als hätte die Bewohnerin eine weite, weite Reise angetreten, unwohnlich und verlassen.

Frau von Ratenow war in das finstere ungemüthliche Wohnzimmer des Rittmeisters getreten; sie trug schon Hut und Tuch. „Adieu, Hegebach!“ sagte sie, „ich muß nun heim, eben haben sie nach mir geschickt, der Moritz ist gekommen; und drüber und drunter ist’s gegangen zu Hause in den letzten acht Tagen. Daß das kleine Gör es gut haben wird, brauche ich wohl nicht zu versichern!“

Er hatte am Fenster gestanden und hinausgeschaut auf die enge Gasse, jetzt fuhr er herum und sah wie erstaunt zu der resoluten, noch immer schönen Frau hinüber.

„Nun ja,“ fuhr sie fort, „da ist’s nun einmal, Hegebach, und braucht Wartung und Pflege; in Ihrer verräucherten Butike hier kann doch kein Wiegenkindchen gedeihen. Ich thue es seiner Mutter zu Liebe, denn kleine Kinder bin ich just auch nicht mehr gewöhnt; der Moritz ist Zwanzig gewesen.“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ murmelte er; „in der That – ich wüßte nicht –“

„O, keine Ursache, lieber Hegebach; wollte Ihnen nur sagen, ich bitte mir’s aus, daß Sie dem Würmchen nicht gram sind, weil Sie die Sandbüchse, das Bennewitz, nicht bekommen. Der Mensch denkt, Gott lenkt; wer weiß, wozu es gut ist!“

„Mein Vetter heirathet nächsten Monat, gnädige Frau.“

„Nun, so lassen Sie ihn doch heirathen,“ war die Antwort. „Bekommt er den erwünschten Sohn, ist das Nest und die Erbschaft sein, das wissen wir Alle längst.“

„Und das Kind!“ rief er, in das erste wilde Schmerzenswort ausbrechend und die Uniform heftig aufreißend. „Wär’ ich es nicht, die Lisa lebte noch; wär’ ich es nicht, so hätte ein Sohn in der Wiege geschrieen! Wer hieß mich auch, die Hand nach einem Glücke ausstrecken!“

„Hegebach!“ sagte Frau von Ratenow vorwurfsvoll.

„Ein armes Mädchen,“ murmelte er mit unendlicher Bitterkeit; „was das heißt in unserem Stande, heutzutage – Sie wissen es so gut wie ich.“

[3] „Schlimm genug, freilich! Wird sich aber wohl durchschlagen wie andere arme Mädchen auch, muß arbeiten lernen, hat zwei gesunde, liebe Händchen und zwei helle Augen. Wie soll’s denn heißen?“ vollendete sie ruhig. „Soll es den Namen der Mutter, Elisabeth –?“

Er nickte und wandte sich wieder zum Fenster.

„Adieu, Hegebach – wollen Sie das kleine Gör nicht wenigstens einmal ansehen?“

Er preßte die Stirn an die Scheiben und winkte hastig abwehrend mit der Hand.

„Nun, dann wünsche ich, daß dieses Kind noch einmal ein Gottessegen für Sie werde, Hegebach – daß Sie auf den Knieen für den Trost danken, den Ihnen der Herr in Ihren alten Tagen geschickt. Das möge Ihre Vergeltung sein!“

Sie ging, die Röthe der Erregung auf dem Antlitz, in das Zimmer der Verstorbenen.

„Nehmen Sie das Kind, Siethmannin, wir fahren jetzt!“

Und gefolgt von der Alten, die das sorglich in blaue Schleier gehüllte Wickelkindchen trug, stieg sie in den Wagen.

Sie hatte keinen weiten Weg zu machen; die Gasse hinunter, am alten Rathhause vorüber, welches an seinen Mauern noch die Spuren des dreißigjährigen Krieges trug in Gestalt eiserner Kanonenkugeln, durch ein paar winkelige Straßen und ein uraltes Thor, dann längs der Stadtmauer hin, über welche die Wipfel blühender Obstbäume hinweg ragten, eine prächtige Lindenallee entlang und schnurgerade auf ein gastlich geöffnetes Gitterthor zu, das die Front eines hohen massiven Gebäudes sichtbar werden ließ mit kolossalem spitzem Ziegeldach, bemoost und altersgrau. Und über dies mächtige Backsteinhaus, dessen ungefüge Mauern wie hineingebettet lagen in den Schooß knorriger Linden und Ellern, die sich auch jetzt wieder einen lichtgrünen Blätterschleier um die ehrwürdigen Häupter geworfen hatten, floß just in diesem Augenblick, als das Gefährt in den Hof rollte, ein goldiger Sonnenglanz, als wolle er das Wochenkindchen begrüßen beim Eintritt in das Haus, das ihm aus Barmherzigkeit und Mitleid eine Stätte der Kindheit werden sollte.

Mit einem Ruck hielt der Wagen vor der stattlichen Hausthür und ein junger, auffallend großer Mann, offenbar noch im Reiseanzuge, sprang die Stufen der Freitreppe hinunter, riß ungestüm den Wagenschlag auf und küßte beide Hände der Aussteigenden.

„Mutter, hätte ich das geahnt,“ sagte er, „aber in diesem Habit konnte ich doch unmöglich zum Begräbniß – Ah, Barmherziger! Was ist denn das?“ unterbrach er sich und deutete auf die Frau, die nun mit dem Kinde ausgestiegen war.

„Lisa ihr Kindchen, Moritz. – Um Gotteswillen, Du wirst es fallen lassen!“

Aber der junge Mann mit dem ehrlichen, hübschen Gesicht hatte schon das Bündelchen in den Arm genommen und trug es in das Haus, gefolgt von den beiden Frauen.

„O Gottchen, Gottchen!“ rief er drinnen im behaglichen Wohnzimmer, wie eine echte Ziehmutter, so zärtlich das winzige Gesichtchen betrachtend. „Wie das aussieht, Mutter, so klein und quappelig – meine arme, gute Lisa!“ Und er wandte sich rasch nach dem Fenster um, als wolle er nicht sehen lassen, daß die Augen ihm feucht geworden. „Da haben wir es nun, Mutter,“ fuhr er fort, „hättest Du doch der Lisa nicht zugeredet, als der griesgrämige Rittmeister um sie anhielt; sie lebte noch!“

„Moritz, Du bist ein Ungethüm!“ erwiderte Frau von Ratenow und nahm ihm das Kind aus den Armen. „Schäme Dich! Auf wen sollte das Mädchen warten? Thränen hat der große Junge in den Augen – ich kann’s nicht leiden, Moritz, wenn hinterher lamentirt wird mit Wenn und Aber. Lisa hat ihre Bestimmung als Weib erfüllt; laß sie ruhen.“

„Und die Kleine bleibt bei uns?“

„Freilich, Moritz,“ erwiderte die Mutter; „wo soll sie auch hin?“

„Das ist wieder so gut von Dir,“ sagte er und schlang seinen Arm um die stattliche Frau; „so gut, wie Du nur sein kannst!“

„Keinen Unsinn, Moritz; Du weißt, zu den Sentimentalen gehöre ich nicht,“ wehrte sie ruhig ab. „Dein Vater hatte Anlage dazu, und Du hast sie geerbt. Wie? – Du hast doch wieder einmal das theure Postgeld ausgegeben, um Deine Mutter und Deine Heimath zu begrüßen, Du kleiner Junge, Du?“

Sie gab sich Mühe, dabei geringschätzig auszusehen, aber es gelang ihr nicht; die Mutterliebe brach zu allgewaltig aus den Augen, mit denen sie den einzigen schmucken Jungen anschaute.

„Hast’s getroffen, Mutter, und Zeit hatte ich auch gerade, und daß Du nicht böse sein würdest, wußte ich ja.“

„Diese Zuversicht,“ sagte sie lächelnd; „wie gut Du mich kennst! Aber nun wollen wir die Kleine unterbringen. Was meinst Du, Moritz, ich beauftrage Tante Lott mit der Erziehung?“

„Was?“ rief er erstaunt und dennoch belustigt. „Da muß ich dabei sein! Gieb her das kleine Fräulein, ich trag’s hinauf – das muß ich sehen!“

Tante Lott war eine Pflegeschwester und Cousine der Frau von Ratenow und Stiftsdame zu Z., aber sie lebte, mit Ausnahme der vorschriftsmäßigen acht Wochen, die sie alljährlich zu Z. verbringen mußte, wollte sie ihrer Stelle nicht verlustig gehen, beständig auf der Burg. Sie war ein stilles, nicht allzu intelligentes Geschöpf, zart, blaß und ein wenig schöngeistig, und somit ganz das Gegentheil von Frau von Ratenow, obwohl die Beiden seit der zartesten Kindheit zusammen aufgewachsen waren. Tante Lott faßte alle Dinge unendlich schwärmerisch auf, sie lebte und webte in der Poesie, in höheren Sphären, „hoch über allem Erdenstaub“. Sie las Alles, was sie gerade in die Hände bekam, und je rührender und herzbrechender die Geschichte, desto schöner war sie. Sie konnte „Die bezauberte Rose“ auswendig, vom Anfang bis zum Ende, und wenn sie den letzten Vers anhub, war ihre Rührung auf das Höchste gestiegen:

„Und mir ist nichts aus jener Zeit geblieben,
Als nur dies Lied, mein Leiden und mein Lieben!“

Das war nur noch so geseufzt, nicht gesprochen.

Ja, das Schicksal hatte ihr auch einmal ein weißes Loos gezeigt, und sie zog ein schwarzes; sie hatte „ein Grab“ in ihrem Herzen, wie sie zu versichern pflegte.

Aber trotzdem, die Beiden waren immer gut mit einander ausgekommen. Als die praktische Cousine den Herrn von Ratenow freite, war Lott bei den vereinsamten Eltern geblieben, und nach deren Ableben fand sie auf der Burg ein paar freundliche Zimmer im oberen Stock des geräumigen Hauses, in denen es so altjüngferllch sauber war, daß man sich schier fürchtete, auf das glänzend gebohnte Parquet zu treten.

Eine schnurrende Mieze saß auf der Fensterbank hinter blüthenweißen Gardinen, am Kachelofen blitzten die Messingthüren wie eitel Gold, ein Spinnrädchen stand in der Sopha-Ecke mit prächtigen Schleifen verziert, und der Glasschrank war vollgestopft mit allerhand Nippes aus verflossener Zeit, das Hauptstück darin ein Chinese von Meißner Porcellan, der stundenlang mit dem Kopf wackeln konnte. Ungeheuer werthvoll sollte er sein, wie Tante Lott Jedem versicherte, der ihn bewunderte. Sie saß gerade am Fenster und las einen Psalm; sie trug ein schwarzes Kleid und ein ebensolches Taftschürzchen, denn sie hatte die so jung Verstorbene aufrichtig lieb gehabt. In eben diesem schmucken Zimmerchen war es ja gewesen, wo vor kaum einem Jahre das Mädchen weinend und verängstigt ihre Hand in die des ältlichen Bräutigams legte, den sie bei einem Besuche in der Burg, wie das große Rittergut der Ratenow’s hieß, kennen gelernt. Sie hatten Whist mit einander gespielt, und er war unartig geworden, als sie einen Fehler machte. Acht Tage darauf rasselte sein Schleppsäbel über die Treppe der Burg, er war „en grande tenue“ gekommen – um zu freien. Zwei Stunden hatte er unten im Staatszimmer gesessen in Hangen und Bangen, bis Frau von Ratenow gesagt: „Warten Sie, Hegebach, ich will dem kleinen Mädchen einmal den Kopf zurecht setzen.“ Und sie war hinaufgegangen in Tante Lott’s Stube, wo die Kleine verweint und zitternd auf der Estrade hockte und Tante Lott vergeblich mit kölnischem Wasser und Baldriantropfen gegen die aufgeregten Nerven der Begehrten zu Felde zog, welche die Werbung wie ein Blitz aus heiterm Himmel getroffen hatte.

Nach einer weiteren Stunde war sie verlobt; man hatte vorher die sonore Stimme der Hausfrau fast bis in das untere Gestock vernommen; wenigstens behauptete Moritz, der gerade zum Besuch anwesend, er habe deutlich Schlagworte wie: „anständige Partie“, – „Ansprüche“, – „worauf noch warten?“ – herausgehört. In das Stübchen nun, wo die Mutter gekämpft und gerungen, trug Moritz von Ratenow das Töchterlein und legte es ohne Weiteres in Tante Lott’s Schooß.

[6] „So, Tanting, da hast Du was, auf das die Mieze eifersüchtig sein kann.“

„Grundgütiger Himmel!“ schrie sie auf, und ihre Augen irrten von dem Kinde durch das blitzende Zimmerchen und blieben an dem blassen ernsten Antlitz der Frau von Ratenow hängen.

„Du hast am besten Zeit, Lott, nimm Dich des Kindes an; seine Wärterin, die alte Siethmann, habe ich mitgebracht, viel Last sollst Du nicht haben. Bei ihm konnte es nicht bleiben, denn Cigarren raucht’s noch nicht, und ich, Du weißt’s, kann mich nicht darum bekümmern bei der großen Wirtschaft.“

Die zarten Hände der alten Jungfer hatten sich schon während des Sprechens um das Bündelchen gelegt. Sie sagte nichts, sie vermochte es nicht, aber sie nickte mit ihrem zum Weinen verzogenen Gesicht so zustimmend und energisch, und wischte sich so inbrünstig die Augen, daß dies als vollständig genügende Antwort angesehen werden konnte. Und so rückte denn Moritz auf Vorschlag der Mutter den Schrank zur Seite, der eine Thür verdeckte, und als diese geöffnet war, zeigte sich ein freundliches blau tapeziertes Stübchen, das, sonst für Logirbesuch bestimmt, nun zur Kinderstube avancirte. Die Wiege trug Moritz hinauf, und als es dunkel geworden, saß Tante Lott mit dem Strickstrumpf und neben ihr der junge Herr von Ratenow beim Schein des Nachtlichtes an dem leise schaukelnden Bettchen, sie auf dem Stuhle und er auf der Fußbank, und sie erzählten sich flüsternd von der Verstorbenen, so eifrig, daß sie es gar nicht gewahrten, wie der Kopf der Frau von Ratenow zur Thür hereinlugte und das seltsame Paar dort betrachtete. Die graue Mieze war vorn auf die Wiege gesprungen und leckte sich die Pfötchen.

„Ein sonderbarer Jung’,“ murmelte die Mutter, die Treppe hinunterschreitend, „ein Mann mit einem Kinderherzen – ganz der Vater, natürlich – von mir hat er es nicht.“ Und sie nahm das Schlüsselbund so energisch aus dem Gürtel, daß das Klirren die Mädchen in der Küche, die sich eifrig von dem kleinen Zuwachs im Hause erzählten, eilig an die Arbeit jagte, denn die Gnädige verstand keinen Spaß.


Textdaten
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 2, S. 21–24

[21] So wuchs es auf, das Kind, in dem alten lindenumschatteten Hause, das aus den Trümmern und auf die Trümmer einer Burg erbaut war, welche die Schweden im Dreißigjährigen Kriege niedergebrannt hatten. Noch stand im Garten ein riesiger dicker Thurm, noch zogen sich Wall und Gräben um das feste Gebäude, im Frühjahr wie übersäet von blauen Veilchen, noch gab es einen alten Ziehbrunnen im Garten und ein Burgverließ und schauerliche Spukgeschichten in Menge. Schon lange war es im Besitz derer von Ratenow, und an diese war es einst durch Heirath gefallen; ein Ratenow hatte damalen eine Burgsdorf gefreit, die letzte ihres Stammes.

Wenn die klaren Augen des Kindes aus dem Fenster sahen, so schauten sie über den weiten Hof mit seinen Stallungen und Scheuern hinweg zu den mannigfach gestalteten Dächern und Thürmen des Städtchens hinüber; nahe dem Rathhausthurm unter dem hohen spitzen Giebeldache wohnte der einsame Mann, und wenn man das kaum zweijährige Würmchen fragte: „Wer wohnt dort drüben?“ so nahm sie das Fingerchen aus dem Munde, deutete hinüber und sagte leuchtenden Auges: „Papa!“

Freilich, Papa – der Papa, der sein Kind kaum kannte, der nur ab und an einen pflichtschuldigen Besuch in der Burg machte und die blonde Kleine so düster ansah, als ob ihm etwa ein unangenehmer Brief präsentirt würde. Und dennoch jauchzte das Kind im hellsten Jubelton ihm entgegen und faßte verlangend nach den blanken Knöpfen seiner Uniform. Es mußte doch Etwas sein in dem kleinen Herzen, das es ahnungslos hinzog zu dem stillen verbitterten Manne.

Es war ein auffallend hübsches Kind, der Liebling des ganzen Hauses, ein Herz und eine Seele mit Tante Lott, mit der grauen Mieze und dem großen Moritz. Nur vor der Tante Ratenow hatte sie Scheu; das blühende Gesicht konnte blaß werden wie Wachs bei einem tadelnden Blick der hellen Frauenaugen; sie lief und sprang ebenso eilig, wenn irgend etwas zur Erde fiel, es aufzuheben, aber sie that es nicht so lächelnd bereitwillig wie bei Tante Lott, obgleich der Dank nicht minder freundlich lautete.

„Nun muß sie bald zur Schule,“ sagte Frau von Ratenow eines Tages, als sie am Fenster saß, und ihre Augen folgten dem Kinde, wie es mit fliegenden Locken über den Hof lief und im Kuhstall verschwand, wo es seine Vespermilch zu verzehren pflegte, „sie wird fünf Jahre alt im April.“ Und sie schob die Brille, die sie seit zwei Jahren trug, auf die glatte weiße Stirn empor, um besser zu sehen.

„Zur Schule?“ fragte Moritz, der gerade zu den Osterferien anwesend war und im Zimmer auf- und abschritt, hünenhaft groß und blond im grauen Sommeranzuge, ein keckes Schnurrbärtchen über dem Munde und so rosig von Gesichtsfarbe wie immer.

„Zur Schule?“ fragte er, vor der Mutter stehen bleibend.

Frau von Ratenow sah ihn groß an.

„Ich weiß wohl, Mütterchen, daß sie Lesen und Schreiben lernen muß, aber warum denn nicht hier im Hause? Es giebt ja Gouvernanten genug.“

Die Arbeit sank in den Schooß und die hellen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. „Moritz, ich weiß nicht, wie Du darauf kommst. Wenn ich eigene Töchter hätte, würde ich vielleicht – ich sage ‚vielleicht‘ – diese vornehme abschließende Art des Unterrichts gewählt haben; das Kind aber würde nur verwöhnt dadurch und – Gott sei’s geklagt! – sie wird es schon so genug!“

„Da soll das Würmchen den weiten Schulweg paddeln mit den kleinen Füßen in allem Wind und Wetter? Laß sie, im Winter wenigstens, hineinfahren, Mutter.“

„Daß ich eine Närrin wäre, Moritz,“ erwiderte sie ruhig. „Wenn Du ihr für später eine Equipage garantiren willst – meinetwegen. Vom April ab geht Else in die Schule; was ist’s weiter – die Allee hinunter, durch’s Steinthor in die Rosengasse und – da ist sie.“

„Du hast zu bestimmen, Mutter.“

„Richtig, mein Jung. Und nun laß uns von Deinen Plänen sprechen; also wenn Du im Herbst von der Reise nach Wien und Tirol zurückkehrst, so regieren wir Beide hier zusammen?“

Er lachte und küßte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

„An’s Heirathen denkst Du hoffentlich noch nicht?“ sagte sie plötzlich und sah den jungen Mann forschend an.

„Doch, Mutter!“ erwiderte er zu ihr tretend. „Ich will Dir ehrlich gestehen, ich – habe daran gedacht.“

„Du Kieckindiewelt? Wird was Rechtes sein! Wen hast Du Dir denn auserkoren, Jungchen?“

„Eine alte Flamme schon, Mütterchen; aber ängstige Dich nicht, sie ist eben erst in Pension gekommen.“

„So? In Pension erst? – Was lernt sie denn da, Moritzchen? Blaß und bleich lernt sie werden, eine nervenschwache Puppe sein, damit keine gesunde Frau und Mutter aus ihr werden kann. – Und was sie verlernt, darüber hast Du wohl nicht nachgedacht? Aller Sinn für stilles Familienleben [22] geht – hui! zum Fenster hinaus. Hättest sie nicht hin lassen sollen, Moritz, wenn Du was Gutes an ihr haben wolltest.“

Moritz sah einen Augenblick wirklich betroffen aus. Daß die Mutter die Sache so auffaßte, frappirte und erfreute ihn zu gleicher Zeit. Er ging ein paar Mal durch die Stube, die Hände auf dem Rücken; Frau von Ratenow strickte indessen ruhig weiter an ihrem Strumpf, immer von Zeit zu Zeit den Hof überblickend. Das war so ihre Art des Nachmittags zwischen vier und sechs Uhr, sonst gönnte sie sich wenig Ruhe.

„Hegebach will den Abschied nehmen, Moritz, weißt Du es schon?“ fragte sie nach einer Weile.

„Es ist das Beste, er wird doch nichts weiter,“ erwiderte der Sohn, „er zankt sich mit allen Vorgesetzten.“

„Aber die knappe Pension?“

„Nun, er kann ja wohl davon existiren, Mutter.“

„Er! Er! – Aber das Mädchen?“ klang es ungeduldig.

„Ach, Mutter!“

„Ja, großer Gott, Moritz – Du sprichst vom Heirathen! Wenn Du einmal ein halbes Dutzend Kinder hast, was denkst Du, wo soll ich es hernehmen?“ Sie hatte es scherzhaft gesprochen, und Beide mußten lachen.

„Du liebes Mutterchen,“ rief er, noch immer lachend, und küßte sie auf den Mund.

„Nein, Scherz bei Seite,“ betheuerte sie, sich wehrend; „ich sorge schon für die Else, Du brauchst nicht zu glauben, daß ich die Sache halb thue. Sie muß was Ordentliches lernen; ich denke, sie wird Lehrerin, und ich bringe sie nach D., sobald sie zehn Jahre alt geworden. Das ist das Beste, nicht, Moritz?“

In diesem Moment klinkte leise die Thür auf, und ein Köpfchen lugte in das Zimmer, mit Haaren wie leuchtend Gold; ein Paar große braune Kinderaugen sahen aus rosigem lächelnden Gesicht herüber, und eine süße lerchenhelle Stimme fragte: „Moritz, Moritz, kommst Du mit in den Garten? In der Kastanie sitzt ein Eichhörnchen.“

„Komm her, Else!“ rief der junge Mann, und als die Kleine eilends auf ihn zu sprang, nahm er sie wie eine Puppe in den Arm und trug sie zur Mutter.

„Sieh sie Dir einmal an, Mutter,“ bat er mit seltsam weicher Stimme.

Sie blickte in das reine Kinderantlitz und dann fragend zu ihm empor.

„So, und nun lauf voraus, Else, ich komme nach.“ Und behutsam öffnete der riesenhafte blonde Mann die Thür, um das kleine Geschöpf hinaus zu lassen.

„Nicht wahr,“ sagte er zurückkommend, „wie eine Rosenknospe so frisch, so gesund und so fröhlich? Und das willst Du einsperren in ein finsteres Schulzimmer, weit hinein in die schönste Mädchenzeit, und Alles soll verkümmern bei schwerer geistiger Arbeit? Sieh, Mutter, davor kann ich nun wieder nicht schlafen. Welch eine Welt von Thränen und durchwachten Nächten, von begrabenen Hoffnungen und bitteren Entsagungen schließt das Wort ein: Sie muß Lehrerin werden. Ach, Mutter, laß sie, sperr’ es nicht ein, das arme kleine Gör!“

„Nein, Moritz, wie Du so etwas herbeten kannst – zu glauben ist es nicht,“ erwiderte Frau von Ratenow leicht erblaßt und ungeduldig, „als ob ich im Begriff stände, dem Kinde ein schweres Unrecht zu thun! So gieb ihr doch eine Revenue, wenn Du es kannst. Weißt Du, daß sie nichts besitzt, als die dreihundert Thaler von ihrer Mutter und die paar Sachen? Hegebach hinterläßt höchstens Schulden, wenn er die Augen zuthut, und was dann? – Uebrigens ist es noch nicht so weit, Moritz, und Deine Rosenknospe braucht Dich vorläufig noch nicht zu dauern. Weil Du verliebt bist, mein alter Jung, will ich Dir den Vergleich verzeihen. Was? Sie ist doch sicher auch eine Rosenknospe.“ – Und mit diesen Worten legte sie energisch ihren Strickstrumpf in den Korb und ging aus dem Zimmer, und gleich darauf hörte der Sohn die klangvolle Frauenstimme aus dem Souterrain erschallen: „Ich will Euch gleich beweisen, daß das geht! Man kann Alles, wenn man will!“ –00

Spät am Abend klopfte Moritz von Ratenow an die Thür zum Schlafzimmer seiner Mutter.

„Ich hab’ Dich wohl auf den Hof reiten gehört,“ rief es von drinnen; „komm’ nur herein. Wo bist Du gewesen?“

Er kam über die Schwelle und trat behutsam an das Himmelbett. Der Vollmond warf seinen Schein durch das gewölbte Fenster und zeigte das alte traute Gemach so deutlich. Wie lange war er nicht hier gewesen! Dort hing des Vaters Portrait über der Kommode, und darunter sein Knabenbildniß; hier stand der alte Schrank, in welchem die Mutter all ihre Reliquien aufbewahrte, ihren Brautkranz und sein erstes Mützchen, des Vaters Sporen und Kalpak und den letzten Strauß Feldblumen, den er ihr am Tage vor seinem Tode noch selbst gepflückt. Und da war er wieder, der feine Lavendelduft; es dünkte ihn auf einmal, als sei er noch ein kleiner Knabe und komme zur Mutter, um ihr irgend eine Thorheit zu gestehen.

„Was willst Du, mein Jung’?“ fragte sie weich in ihrem Bremer Dialekt. „Wo warst Du?“

Er saß plötzlich auf dem Bettrande und faßte ihre Hände. „Rath’ einmal,“ sagte er stockend. „Aber nein, Du kannst es nicht rathen – in Teesfelde war ich bei – meinem Schwiegervater.“

„O Du entsetzlicher Mensch!“ rief Frau von Ratenow.

„Es war nur wegen der Pension, Mutter; ich sagte ihm, ich liebe Frieda und sie liebe mich, und wenn Herr von Teesfeld nichts dawider hätte, daß wir uns heirathen, so –“

„Und er hatte nichts dawider? Natürlich!“ forschte sie mit einem unmerklichen Anfluge von Stolz.

„I behüte, Mutter! Na, mit einem Worte, Frieda kommt zurück aus der Pension.“

„Wie alt ist sie denn, Moritz?“

„Sechszehn und ein halbes Jahr –. Frau von Teesfeld meinte, wir müßten noch vier Jahre warten.“

„Sehr vernünftig, Moritz.“

„Bist Du denn zufrieden, Mutter?“ fragte er leise.

„Ei, was hülfe mir denn das Gegentheil? Sie ist guter Leute Kind, Moritz; die Verhältnisse passen, und wenn sie nach ihrem Vater schlägt, wird sie eine brave Frau.“ Sie schwieg, wie nachsinnend. „Ich habe zu wenig Acht gehabt; hätte ich ahnen können, daß das Kücken meine Schwiegertochter werden sollte, so –. Doch, doch,“ fuhr sie fort, „mir ist, als hätte der Vater einmal zu mir gesagt: die Frieda hat genau ein so weterwendisch Köpfchen, wie ihre Mutter. Richtig, ja, ich erinnere mich deutlich. Na, höre mal, wenn’s so ist, halte von vornherein die Zügel stramm, da wirst Du noch viel zu erziehen haben.“

Er lachte. „Sie ist süß, Mama, grad’ weil sie so ein Kobold ist.“

„Da ist nichts zu lachen, Moritz,“ tadelte sie. „Aber nun geh’ schlafen. Ich werde morgen nach Teesfelde fahren; als Deine Mutter muß ich Dir es wohl zu Gefallen thun. Wie?“ Und sie strich liebkosend mit der Hand über sein üppiges Blondhaar. „Geh’ nun schlafen, guck’ nicht mehr in den Mond; hörst Du, Moritz?“

Und als er gegangen, saß sie noch lange im Bette hoch, die Hände gefaltet. „’s ist mir lieb, daß er so resolut ist,“ sagte sie endlich halblaut; „als sein Vater um mich anhielt, da hatte er die ganze Sippe mit mobil gemacht, und alle Spatzen sangen es vom Dache. Der Jung’ weiß, was er will – das hat er von mir!“




Die Thür in dem alten Fachwerkhause, dessen Fenster so langweilig in das ewige Einerlei der engen Straße schauten, wurde leise aufgeklinkt und die zierliche Gestalt eines ungefähr zehn Jahre alten Mädchens huschte hinein. Das Kind trug ein einfaches graues Lüsterkleid, einen braunen Strohhut mit braunem Bande, unter dem zwei schwere aschblonde Zöpfe hervorleuchteten. In der Hand hielt es behutsam einen kleinen Korb mit Birnen und Weintrauben und stieg nun rasch und trotz der festen Lederstiefelchen fast unhörbar die Stufen der schiefen Holztreppe empor und pochte droben an eine Thür.

„Herein!“ rief eine Männerstimme, und im nächsten Augenblicke stand Else von Hegebach in dem mit Tabakswolken angefüllten Zimmer vor ihrem Vater.

Er war sehr alt geworden, der Mann, und er sah so vernachlässigt aus in dem verschossenen Schlafrocke, den er sich angewöhnt hatte seit seiner Pensionirung. Er hatte eine gelbliche Farbe bekommen, und jener verbissene Zug des Gesichtes war der völlig dominirende geworden. Aber das rosige Kinderantlitz schmiegte sich trotzdem süß zutraulich an seine Wange.

[23] „Papa, wie geht es Dir?“ forschte sie und schlang, das Körbchen rasch auf den Tisch setzend, beide Arme um seinen Hals.

„Frage doch nur gar nicht erst,“ war die verdrießliche Erwiderung.

Ueber des Kindes lächelnde Miene flog ein Schatten. „Papa, darf ich ein bischen bei Dir bleiben?“ bat sie schüchtern, „oder gehst Du in den Club?“

„Ich gehe in den Club, Du weißt es doch; aber die Siethmann ist nebenan.“

„Lieber Papa“ – der kleine rosige Mund zog sich abwärts, doch die Thränen wurden herzhaft verschluckt, „ich will ja gleich wieder gehen, aber Du weißt doch, ich muß Dir heute ‚Adieu!‘ sagen – morgen soll ich fort nach D.“

„Morgen schon?“ fragte er, von der Zeitung aufsehend.

„Wann fahrt Ihr denn?“

„Frau Cramm sagte, ich soll früh sieben Uhr bei ihr sein; Tante Ratenow hat nämlich Frau Cramm gebeten, mich mitzunehmen, Annie kommt doch auch nach D.; – und weil Moritz heute Hochzeit hat und sie Alle in Teesfelde sind und mich Niemand hinbringen kann, so –“

„Na ja,“ fiel er ungeduldig ein, „es ist ja ganz vernünftig so – der Cursus fängt wahrscheinlich übermorgen an?“

„Ja, Papa! Soll ich Dir ein bischen Zeitung vorlesen, Papa?“

„Ich danke! Also, da reise glücklich, Else, und sei fleißig!“ Er hielt ihr die Hand hin, und sah schon wieder in die Zeitung.

Das Kind stand völlig regungslos, seine erblaßten Lippen bewegten sich leise, aber es kam kein Wort darüber, nur in den Augen erstarrte das süße Feuer allmählich zu einem fast stieren Ausdrucke. Sie wandte sich dann um und ging aus dem Zimmer.

„Else!“ tönte es hinter ihr her; sie schrak zusammen. „Gieb das Zeug da der Siethmann, ich esse doch so etwas nicht.“ Und er deutete auf das zierliche Körbchen.

Sie lag plötzlich auf den Knieen vor ihm, dem grämlichen unfreundlichen Manne. „Papa! Papa!“ rief sie schneidend, „warum hast Du mich denn nicht ein einziges Mal lieb? Warum sprichst Du denn nicht einmal so freundlich mit mir, wie es Annie’s Vater mit ihr thut?“ – Der ganze kleine Körper bebte, sie schmiegte in leidenschaftlicher Aufregung den blonden Kopf an seine Kniee und brach in ein convulsivisches Schluchzen aus.

„Lieber Gott, Kind, so steh’ doch auf!“ rief die alte Siethmann, die bei dem Schrei des Mädchens hereingekommen war, und sie zog das halb widerstrebende Kind empor und in ihre Arme, dem Major einen strengen Blick zuwerfend. Er war aufgesprungen und ging nervös erregt im Zimmer hin und her.

„Wer hat Dir denn Etwas gethan?“ fragte er, halb besorgt, halb gereizt, „hast Du Schelte bekommen? Was fehlt Dir? Sag’ es doch! Wenn Du krank bist, soll die Siethmann mitgehen und Dich zu Bette bringen.“

„Ich bin nicht krank,“ klang es leise zurück. „Adieu, Papa!“ Und sich hastig die Augen wischend, ging sie aus dem Zimmer in jenes, das einst ihre Mutter bewohnte und in dem nun die Siethmann hauste, seit sie dem Major die Wirthschaft führte. Das Kind setzte sich still an’s Fenster und schaute in den verwilderten Garten hinaus; sie war auch gar zu traurig schon seit ein paar Wochen.

Da hatte Tante Ratenow sie eines Tages in ihr Zimmer kommen lassen und ihr gesagt – ja, wie war es doch?

„Else,“ hatte sie begonnen und dem Kinde über das weiche blonde Haar gestrichen, „Du bist nun schon zehn Jahre alt und ein vernünftiges Mädchen, da wird es Zeit, mit Dir über allerlei ernste Dinge zu sprechen. Sieh, jeder Mensch muß, soll er sich glücklich fühlen, im Leben zu etwas nütze sein, und das willst Du auch dereinst, nicht wahr? Manche Leute werden sozusagen mit einem silbernen Löffel im Munde geboren und brauchen sich ihr Lebtag keine Sorgen zu machen, nicht zu fragen: was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Andere haben während ihres ganzen Lebens weiter nichts zu thun, als diese Fragen an sich zu richten, und das Schlechteste ist es noch lange nicht, denn schon in der Bibel steht: ‚Und wenn das Leben köstlich gewesen, so ist es Müh’ und Arbeit gewesen.‘ – Dein Vater, Else, ist ein kranker, einsamer Mann, der viel Schicksal im Leben getragen, und er ist ein armer Mann – einen silbernen Löffel kann er Dir nicht mitgeben. Aber dafür gab Dir der liebe Gott einen hellen Verstand und einen frischen, gesunden Körper; und die Fragen zu beantworten, von denen ich Dir eben sprach, wird Dir leicht werden, wenn Du den redlichen Willen hast. Ich möchte Dir an’s Herz legen, Else, recht ehrlich zu wollen und recht fleißig zu sein, damit Du Dein Gouvernantenexamen brav bestehst; es ist so ziemlich der einzige Weg, den eine junge Dame von Stande vor sich hat, soll sie sich auf eigenen Füßen durch die Welt bringen.“

Es war dem Kinde gewesen, als sei plötzlich ein dunkler Flor über all die bescheidene Herrlichkeit seines ganzen Lebens geworfen. Die graue Schulstube erschien vor seinen Augen mit der stickigen Luft, mit den Wänden, die es erdrücken wollten, den Fenstern, die so selten ein Sonnenstrahl traf. Und darinnen sollte sie festgeschmiedet sein, sie, die Blumen, Luft und Sonnenschein so gern hatte; festgeschmiedet, nicht bis sie erwachsen, nein, für immer, immer! Das war ja unmöglich!

„Nun, Else, hast Du keine Lust dazu?“

Sie hatte nicht nur den Kopf geschüttelt, der ganze zarte Körper hatte gebebt vor Entsetzen.

„Dann bleibe Du ein kleiner Dummpatz, dann wirst Du einmal so Etwas wie die Siethmann; und Eine, die nichts gelernt hat, wird auch darnach behandelt.“

„Aber warum ich?“ hatte sie ausgerufen. „Die anderen Mädchen alle, die brauchen es doch auch nicht!“ Und die großen rehbraunen Augen sahen, wie um Lösung eines unfaßbaren Räthsels bittend, in das ernste Gesicht der stattlichen Frau.

„O, viele müssen das, Else, und Du auch. Es ist meine Pflicht, Dich so auszubilden, daß Du dereinst selbständig wirst. Nun geh; Du weißt, gehorsam sein mußt Du, Else, wenn Du auch jetzt noch nicht einsiehst, warum.“

Sie war dann zu Tante Lott gekommen, blaß, mit fliegendem Athem. „Ich soll fort, Tante!“ Weiter hatte sie nichts sagen können damals, und ihre Blicke waren durch das trauliche Zimmer geirrt und an dem guten alten Gesicht hängen geblieben; da hatte sie gesehen, wie zwei Thränen über alle die feinen Runzeln und Fältchen auf die Haubenbänder tropften. Und ihr war so bange geworden, daß sie nicht weinen konnte.

Fort sollte sie auf so unendlich lange, fort von der Stätte ihrer Kindheit, von dem schattigen Garten, von Moritz, von Allen fort! Und gestern hatte Tante Lott weinend den Koffer gepackt für sie, und sie hatte Abschied genommen von ihr, von Tante Ratenow und von dem lieben, lieben Moritz, denn schon gestern waren sie Alle nach Teesfelde zum Polterabend gereist. Selbst Tante Lott hatte ihr Grauseidenes aus dem Schranke geholt und sogar den Pegasus bestiegen zu dieser feierlichen Gelegenheit. Else konnte das Gedicht auswendig; es hatte entschieden Anklänge an die bezauberte Rose, und es war viel von Amor, Rosenketten und Liebeszauber darin die Rede. O, eine Hochzeit mitzumachen, es mußte ja herrlich sein – sie wäre so gern mit dabei gewesen, aber Tante Ratenow hatte es der Reisegelegenheit wegen nicht erlaubt. „Was willst Du auch dort, Else?“ hatte sie gesagt, „Kinder sind da nur im Wege.“

Nun war sie allein gewesen, den ganzen Tag schon, selbst die Mieze war über die Dächer spazieren gegangen. Was half es, daß die Mamsell ihr Mittags ein Glas Wein und ein Stück Kuchen als Dessert servirte? „Vom gnädigen Herrn, Else, er hat es mir auf die Seele gebunden,“ hatte sie dabei gesagt. Sie fühlte doch zum ersten Male die Qualen der Einsamkeit, die heiße, tiefe Sehnsucht nach einem Herzen, das voll und ganz ihr zu eigen gehörte, auf das sie ein heiliges Anrecht habe. Und da war sie zum Papa gelaufen.

Jetzt sprang sie plötzlich auf; sie konnte nicht länger in dem engen, so unwohnlichen, so entsetzlich herabgekommenen Raume aushalten. Es roch nach schlechtem Kaffee, es waren Oelflecke auf der Diele, und an der Wand hing die Garderobe der alten Frau; die einfachen Mahagonimöbel waren erblindet und der Sophabezug defect von Motten und schlechter Behandlung. Sie lief wie gejagt die Treppe hinunter, durcheilte ein paar Straßen und stand dann hochathmend auf dem Kirchhofe vor dem epheubewachsenen Hügel der nie gekannten Mutter.

Der Septembertag neigte sich seinem Ende zu, im Westen hatte sich dunkles Gewölk gelagert und der Abendwind kühlte das [24] verweinte Kindergesicht. „Meine Mama!“ sagte sie halblaut; es war ein unbeschreiblich weher Klang in diesen zwei Worten, und sie hockte nieder und schmiegte die Wange an das einfache gußeiserne Kreuz. Und so saß sie, bis die Todtengräberfrau zufällig vorüber kam und ihr freundlich zurief, sie müsse nun gehen, der Kirchhof werde gleich geschlossen.

Sie pflückte eilig noch ein paar Epheublätter, bevor sie das Grab verließ. Und dann stand sie am Fenster in Tante Lott’s traulicher Stube und horchte auf das Jauchzen und Singen der Knechte und Mägde, die in der Gesindestube beim Punsch die Hochzeit ihres Herrn feierten – bis tief in die Nacht hinein.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 3, S. 37–40

[37] Als die Sonne am folgenden Morgen sich mühsam gegen acht Uhr durch die Wolken gerungen, da sah sie in ein blasses Kindergesicht, das mit großen fragenden Augen aus dem Fenster eines Wagens schaute, der rasch auf der Landstraße dahin rollte. Im Fond saß eine blühende runde Frau in schwarzem Sammetmantel und ein wohlbeleibter kleiner Herr, und zwischen sich hatten sie ihr strohblondes, stumpfnäsiges Töchterchen – sie brachten es in das altberühmte D.’sche Institut auf ein paar Jahre. Jedes der Eltern hielt eine der kleinen Hände, und an den Augen der Mutter sah man noch, wie bitterlich sie geweint. Else saß allein auf dem Rücksitz neben sämmtlichem Handgepäck, und vor der Seele des Kindes stand es finster und schwer, das weite unbekannte Leben, in das die kleinen Füße heute den ersten Schritt gethan.

Acht Jahre waren dahingegangen seit jener Zeit, und nicht spurlos an den Menschen in dem kleinen märkischen Städtchen.

In seinem ungemüthlichen Wohnzimmer der Rosengasse saß noch immer rauchend und lesend der Major von Hegebach, und noch immer kochte die alte Siethmann ihren abscheulichen Kaffee; aber der Major wanderte nicht mehr so regelmäßig in den Club, wie einst, das Gehen wurde ihm schwer, er hinkte; die fatale Gicht hatte ihm auch noch die einzige Abwechselung verkümmert, die er bis jetzt gehabt, und seine Laune war nicht verbessert dadurch. Die alte Siethmann hatte es schwerer noch als sonst, aber sie empfand es nicht so, denn sie war stumpfer geworden, und außer ihrer Kaffeekanne existirte kaum noch etwas auf der Welt, das ihr Interesse einzuflößen vermochte, vielleicht die Else ausgenommen.

Regelmäßig alle vier Wochen hatte auf dem Schreibtische des alten Mannes ein Briefchen gelegen, und die Schrift war aus einer unbeholfenen Kinderhand allmählich in eine feine, elegante und doch nicht charakterlose Frauenschrift übergegangen. Er hatte nur einmal geantwortet, das war, als Else confirmirt wurde, und da hatte der Brief sogar in einer Schachtel gelegen neben einem schlichten Halsbande aus glührothen Granaten: der einzige Schmuck, den die verstorbene Mutter besessen.

Es war ein innig dankbarer Brief darauf gekommen mit dem kindlichen Versprechen, dem lieben Papa stets eine folgsame Tochter sein zu wollen. Und nun, heute, lag wieder ein kleiner Brief vor ihm:

„Mein lieber, verehrter Papa!

Du bist der Erste, der es wissen soll, daß ich das Examen mit Nr. 1 bestanden habe! – Die Vorsteherin ließ mich eben rufen, um es mir zu sagen. Ich bin so glücklich und so froh darüber, und alle Mühe ist vergessen. Ich komme nun schon in wenigen Tagen, mein lieber Papa, und es freut sich von Herzen auf ein Wiedersehen
  Deine treue Tochter Else.“

Er hatte den Brief gelesen und wieder gelesen, und sein Gesicht war noch ernster darob geworden. Und während er noch grübelte, waren auf der Burg zwei alte Frauenhände emsig beschäftigt, das Zimmer für den heimkehrenden Liebling zu schmücken. Tante Lott und Tante Ratenow hatten dieselbe Jubelnachricht mit der zweiten Post bekommen, und Erstere hatte sich sofort an ein rasches Instandsetzen der ehemaligen Kinderstube des jungen Mädchens gemacht; es war ja selbstverständlich, daß sie hier oben wieder hausen würde.

Drunten im Wohnzimmer der alten Frau von Ratenow hatte sich nichts verändert im Laufe der Jahre, nur sie selbst war etwas corpulenter geworden und das Gesicht zeigte vielleicht noch ein wenig schärfer den Ausdruck unbeugsamen Willens und rascher energischer Thatbereitschaft. Und doch war etwas Neues hier, das dem behaglichen Gemache mit dem weichen Teppiche, den schweren blauen Vorhängen und dem blitzenden alten Bronzegeräthe einen unendlich anheimelnden trauten Charakter verlieh. Vor dem Kamine, in welchem ein Herbstfeuer flackerte, hockten spielend drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, zwei blonde blauäugige Dirnen mit der rosigen Gesichtsfarbe und der unleugbaren Aehnlichkeit des Vaters, und ein brünetter Schelm von Jungen, das Allerjüngste. Es war ein Jubeln und Kichern dort, daß allen anderen Menschen, als eben einer Großmutter, die Ohren weh gethan haben würden. Frau von Ratenow schien indeß nicht zu hören; sie las eben einen Brief, ließ ihn sinken, und las dann wieder weiter.

„Lulu!“ rief sie, „hole mir einmal fix den Papa.“

Das Aelteste, ein schlankes Mädchen von fünf Jahren, sprang auf und lief eiligst hinaus. Ein Weilchen darnach trat, wie schwebend, eine kleine, unendlich zierliche, ganz in elegantes Schwarz gekleidete Frauengestalt unter den blauen Portieren hervor, die von den Kindern mit lautem Zurufe: „Mama! Mama!“ begrüßt wurde.

„Ihr goldigen Herzchen,“ sagte sie, die Kinder küssend, und dann zu Frau von Ratenow lebhaft neugierig: „Moritz kommt gleich, Mama – was giebt es denn?“

„Heißt Du ‚Moritz‘, kleiner Naseweis?“ fragte diese, wohl nicht unfreundlich, doch auch nicht gerade sehr erbaut.

[38] Aber das feine Geschöpfchen ließ sich nicht abschrecken, sie schlang auflachend ihre Arme um den Hals der alten Dame.

„O Mamachen, Du weißt ja, neugierig bin ich fürchterlich, es handelt sich auch wohl nicht um Staatsgeheimnisse? Bitte, bitte, laß mich hier!“

„Ob Du endlich mal vernünftig wirst, Frieda! Willst Du immer ein Kind bleiben? Aber das kommt davon, weil der Moritz Dich so grenzenlos verwöhnt.“

Sie war aber auch zum Verwöhnen geschaffen, diese reizende kleine Person mit den zierlichen Gliedern, dem ovalen feinen Gesichte und dem blauschwarzen glänzenden Haare, das, einfach geordnet, die schöne Kopfform sehen ließ, mit den großen tiefblauen Augen unter schwarzen langen Wimpern. Kein Wunder, daß der „Jung“, wie ihn die Mutter nannte, noch heute so verliebt war, wie am ersten Tage seiner Ehe.

„Nun natürlich!“ sagte er eintretend, wie ärgerlich und doch mit leuchtendem Auge, „da ist sie schon wieder, um zu hören, was es giebt.“

„Noch weiß ich nichts, Moritz.“

„Das ist allerdings sehr traurig, kleine Frau! Ruhig, Ihr Rangen!“ rief er, sich die Ohren zuhaltend. „Wer kann denn hier ein Wort sprechen? Geht rasch hinüber zur Caroline.“ Die Mutter hatte indessen dem Sohne den Brief gegeben: „Else hat ihr Examen bestanden und kommt Dienstag,“ bemerkte sie.

„Ach wahrhaftig!“ rief der stattliche Mann erfreut. „Na, Gottlob, sie wird auch froh sein, der Schulstube den Rücken wenden zu können.“

„Ich wollte Dich nur fragen, Moritz, was nun werden soll mit ihr?“

Seine guten ehrlichen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. „Gar nichts vorläufig, Mamachen, ich denke, das arme Ding ruht sich erst einmal ordentlich aus, sie wird einer Erholung wohl bedürfen.“

Frau von Ratenow nickte. „Schön! Aber Du machst ihr den Rücktritt in das Vaterhaus nur um so schwerer.“

„Ja, Moritz, Du verwöhnst sie nur dadurch!“ rief die junge Frau beistimmend.

„Barmherziger! Das arme Kind! Was soll sie denn nur bei dem alten Seebären?“ klang es mitleidig von des Mannes Lippen.

„Es ist ihre Pflicht, den alternden Vater zu pflegen; der Mann verkommt ja förmlich, Moritz, die Siethmann wird alle Tage älter und schmutziger –“

„Jawohl, Du hast Recht, Mutter,“ unterbrach er sie, „aber nicht gleich jetzt; wir haben Zeit genug gehabt, uns das zu überlegen. Die Wohnung dort müßte wenigstens so hergerichtet sein, daß es ein menschenwürdiger Aufenthalt ist; hätte ich es geahnt, es wäre längst etwas dazu geschehen; so wie sie jetzt ist, bringe ich das Mädchen nicht hinein. Die ersten vierzehn Tage bleibt sie hier, da rede mir nur nicht dagegen.“

„Da sind wir wieder auf demselben Fleck,“ sagte die alte Dame.

„Und ganz auf dem richtigen, Mutter!“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher man nur die Stricknadeln klappern hörte.

„Heute sind es zwei Jahre, daß den Bennewitzer das Unglück traf mit seinen Söhnen,“ begann der junge Mann endlich; „es ist doch furchtbar, zwei Kinder auf einmal zu verlieren.“

„Gott, ja, es ist entsetzlich!“ stimmte die junge Frau bei. „Ich begreife noch heute nicht, wie es passiren konnte.“

„Ganz einfach, Frieda. Die beiden Knaben waren allein hinausgesegelt auf die Elbe, und da muß wohl ein plötzlicher Windstoß das Boot umgeworfen haben; erst am folgenden Tage fand man die Leichen.“

„Ja, das ist hart,“ bemerkte Frau von Ratenow und trocknete sich unwillkürlich die Stirn mit dem Taschentuch. „Es sind auch just vier Jahre, daß ihm die Frau starb!“

Sie ließ plötzlich die Hände in den Schooß sinken und blickte nachdenkend vor sich hin; endlich sagte sie tief erröthend; „Könnte man da nicht für die Else –, der Mann ist reich und steht ganz allein –?“

„In der That, der Gedanke ist mir auch durch den Kopf gefahren,“ erwiderte Moritz. „Indessen, da Töchter unbedingt von der Erbschaft ausgeschlossen sind, laut Testament des verstorbenen Onkels, und der Bennewitzer ein noch keineswegs alter Mann ist, so darf man wohl kaum zweifeln, daß er zu einer zweiten Ehe schreiten wird, und –“

„Dem Bettler fällt das Brod immer wieder aus der Tasche; es ist eine alte Geschichte, mein Jung,“ unterbrach Frau von Ratenow, wieder völlig im Gleichgewicht; „ich muß ihn aber doch einmal einladen, Moritz, seine Karte fand ich neulich hier vor.“

„Kennst Du den Bennewitzer Hegebach genauer, Mamachen?“ fragte die junge Frau. „Ich habe mich nie um ihn gekümmert, aber meine Schwester Lilli schwärmt sehr für ihn,“ plauderte sie weiter; „er ist ein stattlicher Mann und sieht jedenfalls seinem Vetter nicht ähnlich; weiter weiß ich nichts.“

Aber Frau von Ratenow antwortete nicht darauf.

„Moritz,“ fragte sie, „wie ist der Weg draußen?“

„Gut und fest, Mutter; der Regen ist kaum zwei Zoll durchgedrungen.“

„Dann, bitte, entschuldigt mich, ich habe noch einen Weg vor.“ Sie hatte sich erhoben und ging, freundlich dem jungen Paare zunickend, in ihr anstoßendes Schlafzimmer.

„Wo willst Du hin, Mutter?“ fragte Moritz.

„Mamachen, in einer Viertelstunde fahre ich zur Frau von Kayser!“ rief die junge Frau an der Thürspalte. „Wenn Du so lange warten möchtest?“

„Ich danke, Kinder: ich gehe,“ scholl es heraus. Aber eine Antwort auf die Frage: wohin? erhielten sie nicht. –

Es dunkelte schon stark, als Frau von Ratenow zurückkehrte und geradeweges die Treppe hinauf schritt, an Tante Lott's Thür pochte und gleich darauf eintrat. Das alte Fräulein saß am Fenster und schaute in den herbstlichen Garten hinaus; sie hatte Buch und Strickzeug weglegen müssen, die Dämmerung war zu stark geworden.

„Nein, Lott, zu glaubeu ist es nicht!“ rief die Eintretende und setzte sich, wie außer Athem, auf den nächsten Stuhl.

Tante Lott war erschrocken; die Cousine kam so selten aus ihrer reservirten ruhigen Haltung.

„Ratenowchen! Was um Gotteswillen ist passirt?“ fragte sie, von der Estrade herab tretend.

„Nein, Lott! Siehst Du, ich bin zu Dir gegangen, weil ich mit Moritz nicht darüber reden mag. Was passirt ist? Nun, Du weißt, übermorgen kommt Else; - Moritz und ich waren verschiedener Ansicht über ihre zukünftige Stellung, ich sagte: sie muß zu ihrem Vater, er behanptet, das sei eine Grausamkeit, sie solle hierher –“

„Und Frieda?“ wagte Tante Lott zu unterbrechen.

„Frieda? Frieda kommt hierbei gar nicht in Betracht,“ scholl es zurück mit sehr geringschätziger Betonung; „sie sagt einmal so und ein andermal so, wie es ihr gerade paßt, ein Urtheil hat sie nicht, hat es nie gehabt. Wenn sie gerade Theater spielen wollte, und ihr Jemand für eine Rolle fehlte, zu der sich Else am Ende eignet, würde sie sagen: ‚Ach, Mamachen, laß sie nicht zu dem bärbeißigen Vater!‘ - und wenn wir gerade zufällig Dreizehn zu Tische wären, so würde sie wahrscheinlich gesagt haben: ‚Ach ja, Mamachen, das Kind gehört zum Vater!‘ - nur der ominösen Zahl wegen.“

Frau von Ratenow war einen Moment still geworden.

„Na kurz,“ fuhr sie fort, während sie hastig den schweren seidenen Mantel aufnestelte, „ich machte mich auf und ging zu Hegebach; ich hoffte, er würde selbst den Wunsch haben, das Kind in sein Haus zu nehmen, damit es doch auf seine alten Tage noch ein wenig Licht darinnen werde. Und was glaubst Du, Lott?“ rief sie mit erhobener Stimme und ließ ihre Hand schwer auf die Tischplatte fallen. „Er will sie nicht! Hast Du es jemals anderswo als in Deinen dummen Romanen gefunden, daß ein Vater sein einzig Kind nicht in sein Haus aufnehmen will? Ordentlich heftig wurde er zuletzt, an allen Gliedern hat er gezittert, redete von einem jungen Mädchen mit seinen hunderttausend Ansprüchen an das Leben, und daß er nur nach dem Einen lechze, nach Ruhe, Ruhe, Ruhe!“

„Aber, Ratenowchen, Du alterirst Dich mehr, als nöthig!“ rief Tante Lott beschwichtigend; „er ist doch immer so gewesen.“

„In des Kukuks Namen,“ fuhr die erzürnte Frau auf, „da soll sich der Mensch nicht ärgern! Haarklein hat er mir bewiesen, daß er einen solchen Luxusartikel, wie eine erwachsene Tochter, [39] nicht gebrauchen könne. Er habe selbst kaum das Nöthige, er habe jeden Monat abzuzahlen an alten Lieutenantsschulden – wer das übernehmen wolle nach seinem Tode? Er könne nicht mehr thun, als daß er zu ihrer Erziehung die dreihundert Thaler gegeben, die ihm Lisa zugebracht; Else möge doch nun das verwerthen, was sie gelernt. Wie Viele müßten das – und so weiter.“

„Das arme Mädchen! Das arme Mädchen!“ jammerte Tante Lott und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen.

„Ich habe es ihm aber gesagt, Lott,“ fuhr die erregte alte Dame fort, „und Du weißt, in Honig sind meine Worte nicht immer gebacken.“

Tante Lott blieb stumm; sie wußte das nur allzu gut.

„Still ist er geworden und blaß zu guter letzt, aber was hilft’s! Ich hatte es gut mit ihnen vor – man kann keinen zwingen, glücklich zu sein –“

„Und nun, Ratenowchen?“

„Na, nun hat Moritz seinen Willen,“ klang es grollend.

„Ach, laß doch, Cousine,“ begütigte Tante Lott, der das Herz innerlich vor Freude jauchzte, daß der Liebling wiederkehre; „laß doch sein - wer weiß, wie noch Alles kommt, sieh -“

„Ich weiß es ganz genau, Lott,“ fiel Frau von Ratenow der Andern in’s Wort; „so wird’s: ein Leben im hellen Trara, ein Entwöhnen von allem Ernsten, wie es ja leider jetzt Mode geworden ist bei uns; und eines Tages wird sie arbeiten sollen, denn das ‚Muß‘ kommt, verlaß Dich darauf, in vielleicht gar nicht langer Zeit. Aber dann wird sie verlernt haben, sich zu schicken und zu fügen.“

„Ei, das steht in Gottes Hand, Ratenowchen. Sie kann sich ja verheirathen.“

„Willst Du ihr eine Mitgift zusichern, Charlotte?“ fragte sie spöttisch zurück; „dann bemiß sie nur nicht zu knapp.“

„O, diese Prosa!“ stöhnte Tante Lott beleidigt.

„Mit Deiner Poesie bäckst Du keine einzige Semmel und deckst Du kein einziges Mal den Tisch. Der Magen ist einmal da, gutes Kind, und selbst in der zärtlichsten Liebeszeit bekommt man Hunger - das wissen unsere jungen Herren von heutzutage sehr wohl, und das wissen sie auch noch zum Ueberfluß, daß Caviar besser schmeckt wie Reisbrei.“

Tante Lott erwiderte keine Silbe auf diese bittere realistische Auseinandersetzung. Nach einer Weile tiefsten Schweigens fing sie noch einmal schüchtern an:

„Ratenowchen, ich habe eine Idee. – Wenn Du – nein, wenn Moritz –; Frieda sagte neulich, sie müsse bald eine Erzieherin haben - wenn nun Else es einmal versuchte mit den Kindern, sie hat doch dann eine ernste Thätigkeit, und –“

Sie hielt ängstlich inne und versnchte, durch die tiefe Dämmerung die Züge der Gegenübersitzenden zu erkennen.

„Das ist – das ginge vielleicht, Lott,“ sagte rühig Frau von Ratenow und erhob sich. „Das ist wirklich einmal gar keine dumme Idee, Lott; - wahrhaftig, ich will doch gleich mit Moritz –“

Sie raffte ihren Mantel zusammen und nahm ihn über den Arm.

„Ich will Dir sagen, Lottchen,“ wandte sie sich an der Thür noch einmal um, „es liegt mir viel daran, daß die Krabbe in der Nähe bleibt und daß sie auch nicht gerad’ als Gouvernante - Aber, laß Dir nichts merken! Guten Abend, Lott!“

Und dann war die Thür zugefallen und die festen Tritte schallten verhallend vom Corridor in das stille Zimmerchen; und Tante Lott stand kopfschüttelnd mitten darin. O, diese Welt wurde immer prosaischer!




Ein trüber, unfreundlicher Octobertag neigte sich seinem Ende zu; mit rothglühenden Augen sauste die Locomotive, eine lange Wagenreihe hinter sich, durch den schweren, grauen Nebel und blies mächtige Dampfwolken in das weiße Dunstmeer, und Nebel und Dampf wogten nun spielend und quirlend durch einander in phantastischen, wilden Gestalten, sie schwebten und wogten und zerflatterten und blieben hängen in dem Gezweig der Fichten, immer neuen Platz machend, unaufhaltsam im schwindelnden Vorwärtssausen.

Am Fenster des Frauencoupés stand ein junges Mädchen, so hoch und schlank gewachsen, daß die Bandrosette des runden Strohhütchens beinahe in gleicher Höhe war mit dem oberen Abschnitte des Fensters. Sie war die einzige Insassin des Coupés an diesem naßkalten Herbstabend, aber auf ihrem jungen Gesichte stand nichts geschrieben von Frost und Einsamkeit, die Wangen glühten in freudiger Erregung, die rehbraunen Augen leuchteten, um den kleinen vollen Mund zuckte es bald wie ein Lächeln, bald blieb er einen Augenblick offen stehen, gleichsam in Erwartung von etwas Wundervollem, was dem Gesicht einen süßen, kinderhaften Ausdruck verlieh. Sie ging von einem Fenster zum andern, aber es war noch immer nichts zu sehen als Dampf; der Zug fuhr auch unerträglich langsam, meinte sie. Wohl zum zwölften Male nahm sie das Ledertäschchen in die Hand und legte es wieder hin. - Wie sie sich Alle wundern würden! Moritz wollte sie um zehn Uhr erwarten, nun war es erst sieben Uhr.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, als ein lang anhaltendes Pfeifen der Locomotive ertönte und nun einzelne Lichter an den Fenstern vorbeihuschten. Wie lange war sie nicht hier gewesen! Seit den letzten dritthalb Jahren hatte es auf der Burg während der Ferien ja nie recht passen wollen; einmal waren sie Alle im Bade, dann hatten die Kinder die Masern und –

Ach – und dort lag der Bahnhof! Else ließ das Fenster herunter und bog sich weit hinaus in die kalte nasse Herbstluft; da war der Brunnen, dort stand der alte einäugige Packträger, und hier unten, über die Gärten hinweg, schimmerten die Lichter des Städtchens rothgelb durch den Dunst und Nebel. Ach, es ist doch eine Lust, heim zu kommen, aus der Fremde heim zu kommen!

„Wohin, Fräulein?“ fragte der Packträger.

„O, es bleibt stehen, es wird morgen von der Burg abgeholt,“ sagte sie hastig; „ich bin früher gekommen –“

„Wollen Sie denn allein gehen?“ Dem Manne war es fatal, gar nichts zu verdienen.

Else dachte daran, daß Tante Ratenow es immer für unpassend gefunden, wenn Damen allein - „Sie können mir das Täschchen tragen, aber rasch, bitte,“ Und schon war sie vorangeeilt, die wohlbekannte, spärlich bebaute Chaussee entlang bis zum Stadtthor, und erst in der Thorstraße holte sie ihr keuchender Begleiter ein. Und da stand er noch, der alte Rathhausthurm, da waren sie noch, die schiefen und krummen Häuser, und noch ebenso schwankten die Laternen an den Ketten inmitten der Straße; noch ebenso klingelten die Hausschellen, und der Laden, wo Moritz ihr zuweilen Bonbons gekauft, hatte noch genau denselben Mohrenknaben hinter seinen Glasscheiben, zum Zeichen, daß echter Tabak hier zu bekommen sei.

Sie stand endlich still und sah zu einem Paar matt erleuchteter Fenster empor; unwillkürlich regten sich ihre Füße, hinaufzueilen - zum Papa. Aber Moritz hatte ausdrücklich geschrieben, er und Tante Ratenow wollten sie erst sprechen - nein, sie mußte gehorsam sein, und langsam wandte sie sich um.

„Schöner Umweg, Fräulein,“ brummte ihr Begleiter; „Sie wissen hier doch wohl nicht Bescheid.“

Sie nickte nur lächelnd, und wieder ging es weiter mit beflügeltem Schritt, zum Steinthor hinaus in die Lindenallee; sie kannte noch jeden der knorrigen Stämme, die sich schwarz aus der Finsterniß hoben; sie kannte den Laternenschimmer dort unten und das Bellen des Hofhundes, das an ihr Ohr scholl. Nun lehnte sie herzpochend an dem Bogen des Thorweges - da lag es vor ihr, das liebe alte Haus; dort oben Tante Lott’s Fenster, sie waren hell, und darunter die von Tante Ratenow’s Zimmer; über der Hausthür flammte die Leuchte und hinter den Küchenfenstern bewegten sich Gestalten, und dort wurde eben der große Wagen aus der Remise gezogen.

„Sie können gehen,“ flüsterte sie dem Manne zu, das Täschchen hinnehmend und ihm ein Geldstück in die Hand drückend; und mit immer schnelleren Schritten flog sie über den Hof, die Stufen der Freitreppe empor und stand nun in dem gewölbten Flur.

Wohin zuerst? Aber nur einen Augenblick schwankte sie, dann hatte sie sich der Treppe zugewandt; dort oben das kleine blinkende Zimmer, es war doch ihr eigenstes, ihr trautestes Daheim. „Tante Lott!“ rief sie auf der Schwelle; wie Lerchenklang flog es durch das stille Gemach der alten wunderlichen Jungfer.

[40] „Elschen! Herzenskind!“ tönte es zurück. Ja, sie war wieder daheim, hier wurde sie erwartet. Ach, es ist zu schön, heim zu kommen, heim zu kommen aus der Fremde!

„Gott im Himmel! Ich hätte Dich beinahe nicht wiedererkannt, Else; nur die Augen sind’s noch!“ rief Tante Lott, nachdem sie das Mädchen aus den Armen gelassen.

„Herzenstante, ich bin gewachsen, nicht? Ich bin aber auch achtzehn Jahre!“

„Komm, komm! Nimm den Mantel ab; so – und hier, siehst Du, der Thee ist gleich fertig. Freilich, achtzehn Jahre, Kindchen! Ich habe Dir es ja auch gesagt in dem Gedicht zu Deinem Geburtstage, was das heißt für Unsereins.“ Und Tante Lott stand mit der Theekanne vor dem lächelnden rosigen Mädchen und declamirte:

„Achtzehn Jahre! Lenzeszauber,
Der dich einmal nur begrüßt
Halb erschloss’ne Rosenknospe,
Die die Frühlingssonne küßt –“

„Ach Tante, und ich freue mich so auf das Leben,“ unterbrach das Mädchen die alte Dame. „Wenn ich über den Büchern saß und mir’s so schwer im Kopfe war, daß gar nichts mehr hinein wollte, dann dachte ich an all das Schöne, das ein Jeder erleben muß, an die Jugendzeit, die vor mir liegt. Schwester Beate sagte es immer: jedem Menschen hat der Himmel einen Antheil Glückes zugesichert. – Ach Tante, wie freue ich mich auf meinen Antheil, ich konnte es kaum noch erwarten, aus der Schulstube zu laufen!“

Tante Lott schenkte hastig Thee ein; sie war auf einmal mitten in einem Traum von Frühling und Nachtigallenschlag – sie war doch auch einmal jung gewesen, und dort saß ja der verkörperte Lenz in ihrem Stübchen! Wie war sie hübsch geworden, die Else, wie thaufrisch schaute das junge Gesicht in’s Leben, wie viele, viele Hoffnungsknospen blühten hinter der glatten weißen Stirn und zauberten Glanz in die Augen und Freude in das Herz.

„O, die Jugend!“ flüsterte die alte Dame.

„Achtzehn Jahr! In’s ärmste Leben streut es seine Freuden ein,
Füllt der Zukunft dunkle Thäler ganz mit goldnem Sonnenschein –“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 4, S. 53–58

[53] Und da saß sie nun, das Mädchen. Sie hatte hart gearbeitet, jahrelang; sie hatte kein Elternhaus, kein freundliches Mütterlein, keine Aussichten für die Zukunft, und dennoch hob die Jugend, die es als ihr gültiges Recht ansieht, glücklich zu sein, Glück fordern zu dürfen, sie in einen wahren Himmel hinein. Und wie lange würde es dauern, dann kam Tante Ratenow mit der Gartenscheere, und in ihrer entsetzlich realistischen Weise schnitt sie eine Hoffnungsknospe nach der andern ab. Tante Lott mußte sich abwenden und die Theekanne in den Ofen setzen, damit sie der Thränen Herr werden konnte.

„Nun aber, Tantchen, wie geht es hier?“ rief Else, eilig ihren Thee austrinkend; „ich muß hinunter zu Tante Ratenow, zu Moritz und Frieda.“

„Ja, das mußt Du, Kind, ja, ja!“ sagte die alte Dame. „Freilich von Frieda wirst Du nicht viel sehen, sie haben unten Theaterprobe, sie wollen zu Tante Ratenow’s Geburtstag etwas aufführen, aber Moritz wird wohl ein paar Minuten übrig haben.“

„Theaterprobe? Wer denn?“

„Nun, wer? Kind – die Officiere aus der Stadt und die jungen Frauen, und da ist denn allemal Abendbrod hinterher, und vorgestern haben sie sogar getanzt. – Meines Lebens! Else, da höre ich der Tante ihre Schritte, und nun warst Du doch nicht zuerst bei ihr.“

„Nein, das ist Moritz!“ rief Else und war im Nu hinter den Ofen und zog ihre Kleider fest zusammen um die schlanke Gestalt.

Ja, es war Moritz; er wollte nur fragen, ob Tante Lott nicht nach dem Bahnhofe fahren möge, die Kleine zu holen. Frieda habe einmal wieder die halbe Stadt da unten zum Essen. Er ließ sich bei diesen Worten auf den nächsten Stuhl nieder und strich sich die Haare aus der Stirn; eine Bewegung, die er häufig machte, wenn er unangenehme Gedanken verscheuchen wollte.

Da legten sich plötzlich zwei zitternde kleine Hände über seine Augen. „Onkel Moritz, wer bin ich?“ fragte eine liebe, wohlbekannte Stimme, und ein helles, herzerquickendes Lachen folgte.

„Du Wetterhexe!“ rief er und hielt sie fest. Und nun war er aufgesprungen. „Deern, Du bist ja ein ganzer Kerl geworden!“ Sein gutes Gesicht leuchtete förmlich. „Das Futter in D. muß nicht ganz schlecht gewesen sein, wahrhaftig; und gelehrt siehst Du auch nicht aus, Gott sei Dank.“

„Nein, Moritz; ich habe überhaupt keine Anlage dazu. Denke Dir, das hat mir gestern erst der Professor noch einmal versichert,“ sagte sie kleinlaut. „Aber das Examen ging brillant,“ fügte sie tröstend hinzu, als er sie lächelnd betrachtete.

Er sah sie noch immer an. „Tante Lott, man wird alt; habe ich doch das große Fräulein da so“ – er machte eine schaukelnde Bewegung mit den Armen – „und nun?“

„Nicht wahr?“ rief Tante Lott. „Als ich sie so vor mir sah auf einmal, da fiel mir Schiller ein:

Und lieblich in der Jugend Prangen, wie –“

„So ist’s recht, Lott,“ unterbrach sie eine Stimme, „setzt ihr gleich ordentlich Raupen in den Kopf“ Tante Ratenow stand da wie hingezaubert auf der Schwelle, und hinter ihr sah Frieda’s Gesicht hervor, über und über lachend.

„Wir wollen sehen, ob es wahr ist,“ rief sie. „Karoline behauptet, sie hätte die Else hier sprechen hören; wahrhaftig, da ist sie!“

Else war eben wieder aus Tante Ratenow’s Doppelshawl aufgetaucht, den sich die alte Dame beim Passiren des kalten Corridors umzulegen pflegte; nun wurde sie von der jungen Frau stürmisch auf den Mund geküßt: „Moritz, siehst Du, sie kommt wie gerufen; ich habe eben ein Billet von Frau von D. erhalten sie kann nicht mitwirken, sie haben Trauer. Nun sind wir aus aller Noth.“

„Was giebt’s?“ fragte Frau von Ratenow scharf.

„Ich habe keine Zeit, Mamachen, ich muß hinunter; und fragen darfst Du mich auch nicht,“ rief Frieda. „Moritz, bringe die Else ja nachher mit!“ Und im nächsten Augenblick war die zierliche Erscheinung der jungen Frau in dem schweren marinblauen seidenen Costüm hinter der Thür verschwunden.

„Na also, Kind,“ wandte sich Tante Ratenow zu dem jungen Mädchen, „wir haben beschlossen, daß Du vorläufig hier bleibst.“

„O wie gern – wenn es Papa erlaubt,“ war die völlig unbefangene Antwort; „aber dann, Tante –“

„Jawohl, er erlaubt’s,“ unterbrach sie die alte Dame. Es klang eigenthümlich; Tante Lott und Moritz sahen sich an.

„Und damit Du –“ fuhr sie fort.

„Ueber das Weitere sprechen wir morgen,“ fiel ihr Moritz in’s Wort. „Liebes Mutterchen,“ bat er, „mache uns die Freude, iß mit bei uns heute Abend; Frieda würde sehr glücklich sein.“

„Du weißt, Moritz, ich kann das viele Sprechen nicht vertragen“ erwiderte sie.

[54] „Lieber Gott, es wäre ja viel gemüthlicher, blieben wir allein – aber –. Nun, thue es nur; Tante Lott und Else, macht Euch fertig zu Tisch; Mutter und Tante Lott können sich ja bald beurlauben nach dem Essen, Mutter wird sogar darum ersucht.“

Frau von Ratenow stand kopfschüttelnd auf.

„Mein alter ehrlicher Geburtstag,“ sagte sie, „der soll nun den Namen hergeben für Eure Allotria –. Hole mich ab, Moritz, wenn es so weit ist.“

„Tante Lott,“ begann Else, nachdem sie ein wenig Toilette gemacht und eben eine blaßrosa Schleife aus Herrnhuter Band auf dem einfachen schwarzen Caschmirkleide befestigte, die ihr so gut ließ zu dem klaren Teint und dem aschblonden Haar; „es ist so komisch geworden bei Euch; Tante Ratenow war verstimmt, und Moritz auch –.“

„Ja, aber – ich weiß auch nicht, warum?“ war die ausweichende Antwort. „Bist Du fertig? Es ist die höchste Zeit.“

Else war fertig, und sie gingen mit einander den Corridor entlang und die Treppe hinunter.

„Ach, Else, mein Taschentuch!“ rief Tante Lott, als sie eben die Wohnräume der jungen Ratenow’s betreten wollten. Sie pflegte immer etwas zu vergessen.

„Geh nur immer hinein, Tante, ich hole es!“ rief das Mädchen.

Sie kam schon nach wenigen Minuten die Treppe wieder herunter, dann blieb sie zögernd stehen; nicht weit von sich erblickte sie einen Officier, er hatte sich eben den glänzenden Scheitel gebürstet und den Waffenrock in die Taille gezogen, nun nahm er einen Violinkasten vom Erdboden empor und schickte sich an, in die Thür zu gehen, welche zu der sogenannten Halle führte. In diesem Augenblick sah er auf, und die beiden jungen Menschenkinder schauten sich in die Augen.

Es war so, wie es immer ist, wenn ein Herr einer Dame begegnet; er machte eine tiefe Verbeugung, wobei die Sporen leise zusammenschlugen, öffnete die Thür und ließ das junge Mädchen vorantreten. Die Halle war nur matt erleuchtet, aber Else konnte doch im raschen Durchschreiten die kostbare Einrichtung bewundern, die der große, finstere Raum seit Kurzem erhalten. Das treue Muster eines altdeutschen Prunkzimmers war er geworden mit seiner dunklen Holztäfelung, den prächtig geschnitzten Eichenmöbeln, den kostbaren Stoffen, die in malerischen Falten zur Erde hingen; hier und da blitzten matte Reflexe von kunstvollen Bronzegefäßen und leise bewegten sich die Palmwedel der großen Makart-Bouquets in den kostbaren Vasen, als ihr Fuß auf den weichen Teppichen dahinschritt.

Aus Frieda’s Salon brach eine Fülle von Licht und tönte eifriges Sprechen und Lachen. Als das junge Mädchen in der Thür erschien, verstummte die Unterhaltung einen Augenblick; dann Vorstellung und dann war Else mitten darin in der duftenden, berauschenden Atmosphäre des Salons. Sie flüchtete zu Tante Lott, hinter deren Fauteuil ein leerer Stuhl winkte, und von hier aus sah sie mit großen Kinderaugen auf das nie gekannte bunte Bild. Es war ein Schwirren, ein Sprechen, ein Lachen und Necken; man plauderte von Tagesneuigkeiten des kleinen Kreises, von Avancement und ein bischen chronique scandaleuse, und zwischendurch flog ein Kraftwort von Tante Ratenow. Es war ein Schimmern von blendenden Uniformen, von ausgesuchten, wenn auch einfachen Damentoiletten, und plötzlich hieß es: Bernardi wird spielen!

Der Officier, mit dem Else eingetreten, nahm eine Violine aus dem Kasten und verhandelte eifrig mit Frieda; dann saß sie, die feinen Spitzenmanschetten der Aermel zurückstreifend, am Flügel und schlug ein paar Tacte an, und im selbigen Moment herrschte Todtenstille im Zimmer.

„Bernardi spielt, Else, paß auf!“ raunte Tante Lott dem Mädchen zu; „er spielt hinreißend!“ Und im nächsten Augenblick zitterte unter dem Bogen, den die schlanke Männerhand dort über die Saiten führte, wunderbar weich und süß ein Ton durch das Gemach, und Ton reihte sich an Ton, bald klagend und wehmuthsvoll, als weine die kleine braune Geige, bald im brillanten Staccato, im feurigen, wilden Rhythmus. Und nun senkte er den Bogen.

Else schrak zusammen; es war ihr, als erwache sie aus einem Traume. Ein lautes Beifallklatschen erscholl, und am lautesten applaudirte Tante Ratenow.

„Lieber Bernardi,“ rief sie, ich verstehe zwar nichts von der modernen Musik; Ihr Herr Vater hat mich auf derselben Geige schon zu Thränen gerührt, wenn er ‚Adelaide‘ von Beethoven spielte, aber dem Sohne muß ich doch die Palme reichen.“ Und sie streckte dem jungen Manne herzlich die Rechte hin, die dieser mit tiefer Verbeugung ergriff. Dann flüsterte er mit Frieda, und im nächsten Augenblicke eine zweite Verbeugung gegen die alte Dame machend, setzte er den Bogen an und Beethovens „Adelaide“ zog durch das Gemach.

„Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen: Adelaide, Adelaide!“ flüsterte Tante Lott mit leuchtenden Augen. „O wie schade, schon vorbei! – O, bester Herr Lieutenant Bernardi, wie wundervoll!“ hörte Else sie dann sagen, und als sie aufschaute, stand er vor der Tante, aber seine Blicke flogen über das weiße Blondenhäubchen hinweg zu ihr; es waren dunkle, fast schwermüthige Augen, die dem regelmäßigen Gesichte mit dem kecken schwarzen Schnurrbarte etwas Eigenthümliches verliehen. Seine Cameraden behaupteten, er stamme von Zigeunern ab, daher könne er auch so brillant mit dem „Wimmerholze“ fertig werden.

„Treiben gnädiges Fräulein auch Musik?“ fragte er jetzt, so banal wie möglich, und zog seinen Stuhl zwischen den von Else und Tante Lott.

„Ich singe ein wenig,“ erwiderte sie, und damit waren sie im Gespräche. Tante Lott streute nur manchmal anstandshalber ein Wort ein, sie verstand gar nichts von Musik; sie staunte nur innerlich, was hatte diese kleine Else Alles gelernt! – sie warf ja nur so um sich mit Generalbaß, mit Chopin und Wagner.

Sie saß bei Tische neben ihm; sie wußte gar nicht, wie schnell die Stunden hinflogen. Sie sah weder Moritz’ Lächeln noch Tante Ratenow’s strenge Blicke. „Die vom heutigen Tage,“ sagte die alte Dame zu sich, „die kann man aus dem Wickel herausnehmen und sie an die Tafel setzen, sie wissen schon etwas zu schwatzen.“ Dann erhob sie sich und gab somit das Zeichen zum Aufbruche der Tafel. Als Else ihr die Hand küßte und „gesegnete Mahlzeit!“ wünschte, hielt sie das junge Mädchen am Arme fest.

„Du bringst mich wohl hinüber, Kind,“ und ohne noch Frieda’s Wiederkommen abzuwarten, die im Nebenzimmer beschäftigt war, empfahl sie sich, wie sie es nannte: auf Französisch, das heißt sie verließ unbemerkt durch Moritz’ Stube die Gesellschaft.

„So, Else,“ sagte sie in ihrem behaglichen Zimmer, „das wäre ’mal wieder abgethan. Daß Gott erbarme, können diese jungen Frauen schwatzen! Dir ist übrigens die Zunge auch g’rad’ nicht angewachsen; hast Du Dich amüsirt?“

„O Tante!“ Das junge Mädchen war purpurroth geworden.

„Das einzige Gescheidte war noch, daß Bernardi spielte,“ meinte Frau von Ratenow, ohne das Erröthen zu bemerken. „Klingle nach der Jungfer, Else, sie mag mir frisch Wasser bringen, und dann kannst Du gehen; lege Dich schlafen, Kind, morgen früh haben wir zusammen zu reden.“

„Else, wo bleibst Du?“ rief draußen Frieda’s Stimme.

„Na, dann meinetwegen!“ murmelte die alte Dame. Und als Frieda im nächsten Momente im Zimmer stand, winkte sie Else hastig, zu gehen.

„Ich glaube gar,“ sagte die junge Frau draußen, „Mama wollte Dich wie ein kleines Kind zu Bette schicken. Rasch komm’, Du mußt Deine Rolle heute noch lesen, nachher tanzen wir.“

Es war längst Mitternacht vorüber, als Else die Treppe hinaufging. Sie sah noch einmal über das geschnitzte Geländer in den Flur hinunter, wo sich die Gesellschaft zum Heimwege in Kapuzen und Mäntel wickelte; da stand Bernardi mitten unter ihnen und grüßte hinauf. „Gute Nacht!“ rief sie, wie ein fröhliches Kind. Dann saß sie noch lange auf Tante Lottens Bett, und sie erzählte ihr von der Pension, von Schwester Beate und von allem Möglichen, sogar von der verstorbenen Mieze sprachen sie. Es war ja auch gleichgültig, von was sie redete, denn schlafen, schlafen konnle sie heute noch lange nicht.




Am folgenden Morgen regnete es in Strömen, es rauschte und rieselte über die Dächer, es gluckste und murmelte in den Dachrinnen, und die halbentlaubten Aeste bogen sich unter dem kalten Herbstwinde ächzend hin und wider. Diese naßkalte frostige [55] Stimmung schien sich auch auf die Menschen übertragen zu haben; im ganzen Hause stand nur Tante Lott und ihr Pflegetöchterchen vergnügt auf. „Tantchen, nun sollst Du es gut haben,“ hatte sie gesagt, und als die alte Dame in ihr Zimmer trat, da war all ihre kleine Arbeit bereits gethan, der Staub gewischt, die Blumen begossen und der Stieglitz im Bauer besorgt, und Else saß schon wieder in ihrem einfachen Kleidchen am Fenster und schaute in die Regenlandschaft hinaus.

„Ich hab’s so gern, dies Wetter,“ begann sie beim Kaffeetische, „es ist dann gar zu hübsch in den Menschenwohnungen; aber dumm ist’s doch, daß es regnet; ich muß zu Papa, Tante Lott; es ist mir, als hätt’ ich ein schlechtes Gewissen, daß ich gestern Abend hier so fröhlich war, und bin noch nicht bei ihm gewesen.“

Sie hatte kaum ausgesprochen, als es klopfte und Moritz eintrat. Er trug einen dicken Flauschrock und hohe Stiefeln.

„Ach Moritz, Du hast Dein Kopfschmerzengesicht!“ rief Tante Lott. Er nickte und gab ihr die Hand.

„Ganz unerträglich sogar,“ antwortete er. „Ich komme, Else zu fragen, ob sie mit zur Stadt will; ich habe auf dem Rathhause zu thun.“

Sie war gleich bereit und ging nach Mantel und Hut. Moritz sah ihr nach.

„Sie ist doch ein liebes hübsches Kind geworden, Tante Lott,“ sagte er, als sich die Thür hinter ihr geschlossen.

Die alte Dame nickte lebhaft zustimmend. „Aber wie geht’s denn unten bei Euch, Moritz?“

„Nun, wie man’s nimmt. Frieda ist betrübt; sie hat eine Trauernachricht bekommen, ein Bruder ihres Vaters ist gestorben. Sie hat ihn nie gekannt, sagt sie; aber die Familie trauert selbstverständlich, noch dazu, da der alte Herr unverheirathet war und sein ganzes Vermögen meinem Schwiegervater hinterläßt. Frieda will mit zur Stadt, um einige Einkäufe zu machen.“

„Ei, ei!“ meinte Tante Lott, „und Euer Theaterstück?“

„Damit ist’s, Gott sei Dank! aus,“ sagte er, trotz seiner Kopfschmerzen lächelnd. „Nun, nun, Else, soweit sind wir noch nicht, Frieda ist noch lange nicht fertig,“ bemerkte er zu dem wieder eintretenden Mädchen, „aber Du kannst ja unterdeß Mutter guten Tag sagen.“

Frau von Ratenow saß am Fenster und sortirte einen mächtigen Haufen Strümpfe, indem sie jeden einzelnen über die Hand zog, ihn scharf mit der Brille betrachtend.

„Es ist hübsch und gut von Dir, Else,“ sagte sie im Laufe der Unterredung, und weicher als sie sonst zu sprechen pflegte. „Aber sieh’, alte Herren haben so ihre Eigenheiten, Du mußt nicht denken, Dein Vater hätte Dich nicht lieb, wenn er Dir sagt, es sei ihm recht, daß Du bei uns bleibst. Es scheint Dir, und auch Anderen, vielleicht hart und rauh, aber die Gründe mußt Du suchen in seinem hartgeprüften Leben, in der völlig freudenlosen Abgeschlossenheit, in der er stets nur auf sich angewiesen war – vielleicht stimmt noch einmal die Zeit ihn zugänglicher.“

Wer hätte in diesen Worten die so hart urtheilende Frau wieder erkannt, die sich heute nur bemühte, dem Kinde des Vaters Gebahren im mildesten Lichte zu zeigen? „Grüße Deinen Vater von mir!“ rief sie ihr noch nach, als das junge Mädchen schon an der Thür stand.

Frieda war offenbar in der allerschlechtesten Laune; sie lag im Wagen zurück, fest in ihr weiches Pelzmäntelchen gewickelt, und sprach kein Wort. Endlich nahm sie ein zierliches Geldtäschchen in die Hand und schüttete den Inhalt in ihr feines Battisttaschentuch aus.

„Es langt noch nicht, Moritz,“ sagte sie dann, mit den Geldstücken spielend, „die Rechnung bei Drewendt mußt Du selbst abmachen, ich lasse es aufschreiben heute.“

Er zog ohne weiteres seine Brieftasche und gab ihr schweigend ein paar Cassenscheine. Sie nahm das Papier, schob es mit dem andern Geld in’s Portemonnaie und steckte dieses wieder in die Tasche.

„Moritz, darf ich mir die kleine Etagère für meinen Salon kaufen?“ fragte sie und sah ihn bittend an mit ihren blauen Augen.

Er wandte unmuthig den Kopf zu ihr, aber seine verdrießliche Miene verschwand, als er in das wunderschöne Frauenantlitz blickte, das so verführerisch lächelnd unter dem schwarzeu Pelzmützchen hervorsah.

„Daß Dein Herz an solchem Plunder so hängt!“ sagte er. „Meinetwegen! Aber nächstens müssen wir wohl Auction machen, soviel Sachen hast Du. Wie? Uebrigens, was kostet denn das Ding?“

„O, es ist nicht so arg: hundert Mark vielleicht, Moritz.“

Er schwieg, und Else wußte ebenfalls nichts zu sagen, dann hielt der Wagen vor dem Hause des Majors, und Else stieg aus. Sie ging wieder durch den schiefen Flur, die schiefe Treppe hinauf, sie stand zögernd an der Thür zu des Vaters Zimmer und trat doch erst in die kleine Küche.

Die alte Siethmann hatte eben ein paar Weingläser auf ein Tablett gestellt, und ihre zitternden Hände bemühten sich, eine Rheinweinflasche zu entkorken.

„Gieb mlr her, Dore,“ sagte lächelnd das Mädchen, „ich habe mehr Kräfte.“

„Barmherziger!“ schrie die Alte freudig auf, „Elschen! Fräulein Elschen! Und so groß bist Du – sind Sie geworden! Und ich sag’s ja, so muß es kommen! Zehn Jahre lang haben wir keine Gäste gehabt, und heute kommen sie aus allen Ecken und Enden.“

Else stellte die Rheinweinflasche auf den Präsentirteller. „Nenne mich nur Du, wie sonst, Dore; aber wer spricht denn mit Papa? Ich möchte nicht hinein gehen.“

„Das sollst Du rathen!“ rief die alte Frau schmunzelnd, und band sich eine frische Schürze vor. „Na, neugierig bist Du ja auch, Elschen, das sehe ich, gerad wie die Frau Mutter war, na“ – und sie kam dicht zu dem Mädchen heran – „der Bennewitzer ist’s! Ich habe ihn ja gar nicht erkannt,“ fuhr sie fort, „kommt da ein feiner Herr im schwarzen Anzug und fragt nach dem Herrn Major, seinem Vetter. Hätt’ ich’s dem Papa erst gesagt, er hätte ihn sicher nicht angenommen; aber ich, nicht faul, machte gleich die Thür auf und – klapp, da saßen sie zusammen. Nun laß sie sich nur beißen, Elschen, ich denke, zu Deinem Schaden wird’s nicht sein, denn, gelt, das weißt Du ja, die Beiden haben sich bis jetzt gestanden wie Hund und Katze, wegen der Erbschaft. Und nun – aber willst Du nicht den Wein hineintragen, Elschen?“

„Hat Papa Wein gewünscht?“ fragte das junge Mädchen.

„I Gott! An so was denkt er doch nicht,“ erwiderte achselzuckend die alte Frau. „Ich meinte nur, wenn so Jemand von der Verwandtschaft zum Besuche kommt, man weiß doch auch, was sich schickt.“

In diesem Augenblicke scholl die Stimme des Majors so kräftig und zürnend bis in die Küche, daß die Siethmann, die dem Mädchen den Präsentirteller aufnöthigen wollte, denselben erschreckt wieder hinsetzte.

„O Jesus! Else, er ist böse!“ stammelte sie, und in der That flogen jetzt Ausrufe eines zum höchsten Zorne gereizten Menschen an das Ohr des zitternden Mädchens. Im nächsten Momente war sie über den Corridor geeilt, hatte eine Thür geöffnet und stand nun leichenblaß, aber mit dem Ausdrucke völliger Unbefangenheit, auf der Schwelle des Zimmers.

„Papa, ich störe doch nicht?“ fragte sie, auf den alten Herrn zugehend, der, inmitten der Stube verharrend, einen Brief in der Hand und hochrothen Antlitzes, sie wie eine Erscheinung anstarrte.

Der stattliche Mann, der dort fast nachlässig am Fenster lehnte, hatte nicht die mindeste Aehnlichkeit mit seinem erregten zornigen Vetter, er war Gentleman von Kopf bis zu Fuß in seiner äußeren Erscheinung, und auch innerlich schien er seine aristokratische Ruhe vollkommen bewahrt zu haben, wenigstens war sein Gesicht mit dem traurigen Zuge um die Mundwinkel völlig unbewegt.

„Sie stören durchaus nicht, Fräulein von Hegebach,“ sagte er mit einer Verbeugung, „es ist sogar eine willkommene Unterbrechung. Ich war eben bemüht, Ihrem Herrn Vater ein Mißverständniß aufzuklären, und es wurde mir erschwert durch neue Mißverständnisse –“

„Papa!“ Das junge liebliche Geschöpf hatte den alten vergrämten Mann mit beiden Armen umfaßt. „Lieber Papa, ich freue mich so sehr, daß ich wieder bei Dir bin!“ Und sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn schützen vor allen Unbilden der Welt.

Der Major von Hegebach war augenscheinlich fassungslos; [56] er strich mit der einen Hand über das Blondhaar der Tochter und drängte sie mit der andern zurück.

„Nachher, nachher, mein Kind, ich habe mich mit – mit diesem Herrn da –“

„Das Fräulein stört uns durchaus nicht, Vetter; ich dächte, wir setzten uns und machten die ganze Angelegenheit so ruhig ab, wie es Männern in Gegenwart von Damen geziemt,“ sagte der Bennewitzer und schob seinen Stuhl an den mit Cigarrenkästen und Zeitungsblättern ganz bedeckten Tisch. „Bitte, Wilhelm,“ fuhr er dann fort, auch Else einen Stuhl hinsetzend, „laß uns die Sache ruhig besprechen. Du weißt, ich bin in keiner unversöhnlichen Stimmung gekommen, und wer von uns Beiden schwerer vom Schicksal getroffen ist, das weißt Du auch.“

Hegebach hatte sich niedergelassen auf eine flehende Geberde von Else. Nun war es einen Augenblick still in dem alten verräucherten Gemache.

„Wir Beide, Wilhelm,“ begann der Bennewitzer auf’s Neue, „können nichts dafür, daß unser Onkel, Gott verzeihe es ihm, sein Testament so und nicht anders verfaßte; es ist einmal nichts mehr daran zu ändern. Deine Ansprüche, das mußtest Du Dir sagen, ehe Du sie erhobst, und Dein Sachwalter hätte es Dir auch sagen müssen, sind – unhaltbar! Ich habe gar nicht das Recht, das ererbte, mir jetzt zugehörige Gut und Vermögen zu theilen, aber ich habe das Recht, Dir den Vorschlag zu machen, den ich vorhin aussprach, und es geschah aus ehrlicher, guter Gesinnung. Nimm ihn an, Wilhelm, diesen Vorschlag, und wenn nicht Deinetwegen, so doch Deiner Tochter wegen.“

„Ich werde ihn nicht annehmen,“ sagte der Major, „und das Weitere – abwarten.“

„Um Gotteswillen, sei doch vernünftig, Wilhelm!“ bat der Bennewitzer, einen Blick auf das junge Mädchen werfend.

„Ich weiß, was ich zu thun habe; ich danke Dir!“

Der alte Mann nahm mit zitternden Händen ein Paket Zeitungen und legte sie auf einen anderen Platz, und klappte den Deckel eines Cigarrenkastens in nervöser Hast auf und zu. Else blickte rathlos von Einem zum Andern.

„Es handelt sich um sehr materielle Dinge, Fräulein von Hegebach,“ wandte sich der Bennewitzer zu dem jungen Mädchen. „Ihr Herr Vater glaubt neuerdings, seitdem mir ein schweres Schicksal beide Söhne und somit die Erben des Familiengutes entriß, Ansprüche auf dieses zu haben. Ich weiß nicht, wie er dazu gekommen ist, diese Ansprüche auf gerichtlichem Wege zu verfolgen, jedenfalls ist er schlecht berathen. Ich kam heute, um den Beginn dieses völlig aussichtslosen Processes zu verhindern, und wollte –“

„Mir ein Pflaster auf den Mund legen!“ fiel der Major heftig ein. „Ich danke noch einmal für Deine Unterstützung, wo ich gutes Recht zu beanspruchen habe.“

Der Bennewitzer erhob sich. „Ich habe es gut gemeint, Wilhelm; es sei ferne von mir, Dir etwas aufdrängen zu wollen; verfolge denn Dein gutes Recht.“

Er nahm den mit einem Trauerflor versehenen Hut vom nächsten Stuhl und reichte dem jungen Mädchen die Hand. „Es würde mich sehr glücklich machen, dürfte ich meine liebliche Nichte unter freundlicheren Verhältnissen wiedersehen. Gott befohlen, Fräulein von Hegebach!“

Im nächsten Moment war die Thür hinter der vornehmen Erscheinung zugefallen.

„Papa!“ sagte das Mädchen traurig, nachdem der alte Mann, als habe er völlig ihre Anwesenheit vergessen, eine Weile in den Schubfächern seines Secretärs zwischen Briefen und Papieren gesucht hatte. „Papa!“

Hegebach fuhr auf und rieb sich die Stirn.

„Papa, ich möchte mir ein bischen mit Dir erzählen.“

Er hielt inne mit Suchen und schaute sie an.

„Papa, ich wollte Dir nur sagen, ich wäre so gern zu Dir gekommen und hätte Dir den Hausstand geführt, Dir Abends etwas vorgelesen und Deine Stube sauber aufgeräumt.“ Es mußte etwas in ihrer Stimme sein, das ihn zwang, sie weiter anzuhören. Er setzte sich in den Stuhl und legte den Kopf in die Hand.

„Und ich hätte Dich so gern gepflegt, Papa, wenn Du Dein Reißen hast, und Du wärst nicht mehr so allein, denn – Tante Ratenow –“ Die klare Mädchenstimme brach plötzlich in Weh und Bangigkeit. „Laß mich bei Dir bleiben, Papa, Du dauerst mich so!“ rief sie, die Arme um den Hals des alten Mannes schlingend. „Du bist immer so allein, Du kannst ja gar nicht einmal froh sein!“

„Nein, Else, das geht nicht,“ erwiderte er, aber er schüttelte die kleinen Mädchenhände nicht ab. „Du hast kein Glück im Leben, armes Kind, daß Du solch einen Bettelmann, wie ich bin, Vater nennst. Es hätte anders sein können! Aber wen das Schicksal einmal auf eine Schindmähre gesetzt, der kommt sein Lebtag nicht wieder auf ein anständiges Pferd. Ich hab’s der Tante Ratenow gesagt, wie viel ich zum Leben habe: zwanzig Thaler monatlich! Das klingt lächerlich, nicht wahr? Das Andere geht von meiner Pension ab für frühere Verpflichtungen, die ich ehrenhalber erfüllen muß und die noch Jahre beanspruchen, ehe sie abgetragen sind.“

„Papa!“ wollte sie einwenden, aber er schnitt ihr das Wort von den Lippen ab.

„Es ist das Beste so, wie Frau von Ratenow mir gestern vorgeschlagen hat. Du übernimmst die Erziehung der kleinen Ratenow’s und erhältst dafür ein anständiges Honorar und bist außerdem dort wie Kind im Hause. Das ist mehr Glück, als es hundert Andere haben in Deiner Lage; und das Weitere – warten wir ab,“ schloß er.

Das junge Mädchen war aufgesprungen und sah aus tief erbleichtem Gesicht den Sprecher an. Aber sie sagte kein Wort. Sie wußte nur das Eine plötzlich, eine goldene, süße, sorglose Mädchenjugend wartete ihrer nicht mehr. Wie in graue Schatten gehüllt, stand plötzlich das liebe alte Haus dort draußen vor ihrem Auge; sie hatte da kein Heimathsrecht mehr, sie sollte sich’s erst erkaufen durch Gegenleistung. Sie war aus der Stellung eines Kindes urplötzlich in die der Dienstbarkeit gerückt! Ja, wie hatte sie auch denken können, daß auf dieser Welt noch Liebes und Gutes umsonst gegeben wird? Sie hatten sich eine Erzieherin ausbilden lassen, das war Alles.

Ein unendlich bitteres Gefühl erfüllte das junge Menschenherz in diesem Augenblick; es war nicht Furcht vor der Arbeit, es war der Schmerz einer großen Enttäuschung.

„Adieu, Papa!“ sagte sie, den Hut aufsetzend, „ich werde Dich besuchen, so oft es mir –.“ Sie stockte; sie hatte in ihrer Bitterkeit sagen wollen: „so oft es meine Herrschaft –“, aber da war ihr Moritz’ gutes Gesicht eingefallen; „so oft es mir erlaubt wird,“ verbesserte sie sich.

Er gab ihr die Hand. „Es wird wohl noch einmal besser, Else; Du bist noch so jung.“

Sie nickte. „Adieu, Papa!“ Dann ging sie. Wie anders war sie gekommen! Sie stand dann mit finsterem Gesichte in der Hausthür; die elegante Equipage, die sie hergebracht, bog eben dort um die Straßenecke; Moritz kam, um sie abzuholen, sie mußte auf ihn warten.

„Wie siehst Du nur aus, Else?“ fragte er, als er herausgesprungen war, um ihr beim Einsteigen zu helfen. „Hat es einen Aerger gegeben, alte Deern?“ Und er faßte nach ihrer Hand.

„Wann wünschest Du, daß ich den Unterricht beginne?“ war die Antwort, als der Wagen mit ihnen fortrollte, „und willst Du nicht meine Zeugnisse erst prüfen?“

Er sah empor. Der Ton der Stimme war so fremd, die Lippen lagen so schmerzlich zusammengepreßt auf einander.

„Den Unterricht?“ fragte er. „Ach so! Mutter wollte Dich, glaube ich, bitten, den Kindern die Anfangsgründe ein wenig beizubringen. Willst Du, Else?“

„Es ist ja abgemacht,“ erwiderte sie; „man hat mich vorher nicht gefragt.“

„Ist Dir von irgend einer Seite weh gethan, Else? Es war Niemandes Absicht, das glaube mir,“ sagte er weich, das blasse Mädchengesicht betrachtend.

Sie sah ihn an mit den in Thränen schimmernden Augen. „Moritz, ich will Alles thun, ich will Tag und Nacht um Deine Kinder sein, aber biete mir kein Geld dafür – ich ertrage es nicht!“ schluchzte sie.

„Aber Else, Else, wie falsch beurtheilst Du das!“ rief er erschreckt. Und da der Wagen in diesem Augenblicke vor dem Portale des Hauses hielt, sagte er: „Ich bitte Dich, geh’ zur Tante Lott, Else; ich habe nur einen Moment bei Mutter zu thun – ich bin gleich oben, um mit Dir zu reden –.“

[58] Else hatte in ihrem Zimmer gestanden und in den Regen und den Sturm hinausgeschaut; sie weinte nicht mehr, sie war auf einmal still geworden. Das Gestern lag weit hinter ihr; es dünkte sie, als hätte sie geträumt. Warum vergaß sie auch, was Tante Ratenow so oft zu ihr gesagt, als sie noch ein Kind war: „Du mußt lernen, dereinst auf eignen Füßen zu stehen.“ Wer denkt aber an die Noth des Lebens im Kreise fröhlicher junger Gespielinnen, wenn das Dasein noch einem Maimorgen gleicht?

„Else!“ rief da eine Stimme. Sie fuhr herum; Tante Ratenow stand vor ihr.

„Es thut mir leid, Else, daß Du eine Sache falsch beurtheilst, die herzlich gut gemeint ist. Ich kann Dir nichts von alledem schenken, ich muß Dir wiederholen: Deine Verhältnisse sind nicht derart, daß Du wie ein bunter Schmetterling durch’s Leben gaukeln kannst – Du mußt schon zur fleißigen Biene werden. Wenn Du unsere Kinder unterrichten willst, so versteht es sich von selbst, daß Du Honorar dafür erhältst, wie jede Andere auch – das kann und darf ich Dir nicht ersparen; es ist ein falscher Stolz, wenn Du Dich weigerst es anzunehmen; und denkst Du darüber nach, wirst Du es einsehen. Das Leben ist lang, mein Kind, ich will indessen das häßliche Geld keineswegs in Deine Hände legen, sondern es sammeln für Dich und dafür sorgen, daß Du einen kleinen Fonds bekommst. Es zwingt Dich aber Niemand dazu, Else, hörst Du – den Unterricht zu übernehmen – Du bist Gast in meinem Hause und kannst es bleiben, so lange es Dir bei uns gefällt; die Entscheidung liegt bei Dir, Else.“

„Ich nehme es an und werde den Unterricht ertheilen,“ sagte das Mädchen leise.

„Das ist recht, Else. Im Uebrigen bleibt Alles beim Alten. Wie geht es Deinem Vater?“

„Er war erregt, er hatte einen Disput mit dem Bennewitzer; ich traf ihn bei Papa.“

„Den Bennewitzer?“ rief Frau von Ratenow so laut, daß das Mädchen sie erschreckt ansah. „Und das erzählst Du so beiläufig? Hat er Dich gesehen?“

„Ja, Tante.“

„Und was wollte er?“

Else schwieg einen Moment. Sie hatte es herausgefühlt, daß ihr Vater im Begriff stand, einer falschen Idee nachzugeben.

„Es war wegen Bennewitz,“ sagte sie, „der Vater will, glaube ich, durch das Gericht einen Antheil daran erzwingen.“

„Ist er toll geworden?“ rief die alte Dame zornroth, und sich besinnend, daß sie die Tochter des Mannes vor sich habe, fügte sie hinzu: „Du verstehst das nicht, Else, und ich meine es nicht so schlimm; muß mal reden mit Deinem Vater, wird sich da eine schöne Brühe einrühren. – Wie sah er denn aus, der Bennewitzer, Else?“ Und sie strich mit der Hand über des Mädchens Gesicht. „Wir wollen uns nun recht behaglich hier einrichten auf den Winter,“ setzte sie hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Tante Lott,“ sagte das junge Mädchen mit traurigem Lächeln, als sie nachher in das gemüthliche Altjungferstübchen trat, „wenn ich einmal wieder etwas vergessen sollte, so erinnere mich daran.“

„An was denn, mein Rosenknöspchen?“

„Daran, daß ich ein armes Mädchen bin.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 5, S. 73–76

[73] Und es ging doch nicht, daß sie immer daran denken konnte. Else war am andern Morgen durch den herbstlichen Garten gewandert und jeder Baum hatte ihr zugenickt: kennst Du mich noch? Jedes Plätzchen, wo sie als Kind gespielt, hatte ihr süße traute Worte in das junge schmerzlich berührte Herz geflüstert, die Sonne hatte so hell und klar über dem alten stattlichen Hause geschienen, und weit in das Land hinaus kannte sie ja jedes Dach, jede Windmühle, jeden Hügel – Nein, sie war dennoch daheim, sie war dennoch nicht arm!

Wie konnte sie nur trübe Gedanken festhalten bei so viel Lust, Frohsinn und Herzlichkeit? Es war ja zu hübsch in dem gemüthlichen Eßzimmer, bei der wohlbesetzten Tafel; zu schön, wenn Tante Ratenow Etwas erzählte aus der Vergangenheit; es war wie ein neckisches Sonnenblitzen, wenn Frau Frieda lachte und die Kinder so hell mit einstimmten, und Moritz behaglich am Ehrenplatze saß, den Braten tranchirend und so sorgend für Alles.

„Else, hast Du auch wirklich keinen Hunger mehr? Na, iß nur, kleine Deern; sieh ’mal dies appetitliche Stückchen vom Meister Lampe, wie? – So ist’s recht; – schmeckt es?“ – Und nach Tische nahm er den kleinen Buben auf den Rücken, und dann ging es in den Garten hinaus wie die wilde Jagd, die Wege hinauf und hinab, Alle mit einander, daß es ein Jubeln und Kichern und Lachen wurde, bis Frieda erklärte: „Halt ein, Moritz, wir greifen Dich doch nicht!“

Und dann die Spazierfahrten in’s herbstliche Land hinein mit Frieda und Tante Ratenow. Zuweilen flog auch das elegante Coupé der jungen Frau durch die Gassen des Städtchens, und die Commis der Läden, in denen man gerade Einkäufe machen wollte, rissen ehrerbietig den Schlag auf und halfen den Damen beim Aussteigen. Und Abends saß immer Besuch da, und Johann klopfte dann an Tante Lott’s Thür: ob Fräulein von Hegebach nicht ein wenig herunter kommen wolle zur jungen Gnädigen. Und wie rasch konnten dann die kleinen Hände vor dem Spiegel geschäftig das duftige Haar ordnen und die rosa Schleife hineinstecken, besonders wenn der Alte hinzugefügt hatte: „Es soll musicirt werden.“

Wer hätte gedacht, daß die verhaßten Clavier- und Singestundcn noch ein solches Gefolge von schönen Schwestern haben würden? Und wer hätte gedacht, daß Etwas in der Welt so singen und klagen könne, wie die kleine braune Geige, die Lieutenant Bernardi im Arme hielt?

Der Beginn von Else’s Thätigkeit war noch hinausgeschoben. Sie wußte nicht, daß Moritz zu seiner Frau heimlich gesagt: „Friedchen, hörst Du? Du willst es absolut nicht, daß die Kinder vor Januar schon eingespannt werden!“ Und Frieda hatte, als Else die junge Frau bat, sie möge bestimmen, wann der Unterricht beginnen sollte, sehr ruhig geantwortet: Man habe ja noch lange Zeit, dies zu überlegen; vor dem zweiten Januar dürfte sie nicht daran denken, die Kinder einzusperren; Moritz müsse auch erst eine Schulstube einrichten mit gesundheitsdienlichen Sitzen, die Aelteste sei gar so arg im Wachsen, und überdies – vor Weihnacht hätten die Kinder doch keine Andacht.

Da half nun auch kein Reden der Tante Ratenow, denn Frieda’s Meinung mußte als die der Mutter respectirt werden, und außerdem war es der jungen Frau viel zu angenehm, in der doch immer stillen Trauerzeit eine Gesellschafterin zu haben, als daß sie einer „vernünftigen Vorstellung“ Gehör gegeben hätte. – Und Moritz? Nun, der stand, wie immer, unter dem Pantoffel, wie die alte Dame innerhalb ihrer vier Wände halblaut zu Tante Lott sagte.

Else hatte in Frieda’s reizendem, blau decorirtem Salon auch ihre ehemalige Pensionsgefährtin, Fräulein Annie Cramm, wieder gefunden. Diese war natürlich gleich nach der Confirmatiou in’s elterliche Haus zurückgekehrt und schon seit zwei Jahren salonfähig. Ihr mageres Gesicht schaute noch ebenso bleich und unreif mit den blaßblaucn Augen in die Welt, und das Haar war noch ebenso strohblond wie früher, aber sie trug es mit äußerster Sorgfalt geordnet, und die Toilette vom gediegensten Stoffe umschloß tadellos den etwas eckigen Wuchs der jungen Dame.

„Sie ist eine Gans,“ sagte Frieda sehr offenherzig.

„Aber eine mit goldenen Federn, liebes Kind,“ fügte Tante Ratenow hinzu; „das entschädigt für Vieles.“

Else plauderte so recht nach Herzenslust mit Annie Cramm von der Pension; die junge Dame kam sogar zuweilen zu Tante Lott hinauf. Mitunter konnte sie dann sehr viel seufzen und kummervoll aussehen, und nebenbei führte sie gewissenhaft Buch über jeden Ball und über Jeden, mit dem sie Quadrillen und Cotillon getanzt hatte. Da sie eine kleine Sopranstimme besaß, wurde sie öfters zu Frieda’s musikalischen Abenden gezogen. Sie

[74] sang mit Vorliebe Solo und erschien stets in gewähltester Toilette, wenn auch nicht gerade immer der Situation und der Person angemessen, und erregte damit nicht selten die Spottsucht der jungen Hausfrau, die für Alles, was nicht „chic“, eine fast krankhafte Empfindlichkeit besaß.

Else’s schwarzes Cachemirkleid passirte ein- für allemal vor ihren Augen als „leidlich anständig“. Was sollte Frieda auch machen? Im Anfange hatte sie die Absicht gehabt, des Mädchens mehr als einfache Garderobe aus ihrem Kleiderschranke aufzubessern, und war dabei auf einen höchst energischen Widerstand ihres sonst so fügsamen Gatten gestoßen.

„Wenn Else Etwas braucht,“ erklärte er, „so wird ihr Mutter schon, wie bisher, die Sachen besorgen; nebenbei, was soll sie mit Deiner abgelegten Garderobe, sie ist einen Kopf größer als Du? – Ich will überhaupt nicht, daß sie Deine alten Kleider trägt, Frieda! Wozu ihr denn den Stempel der Armuth vor allen Leuten aufdrücken?“

Und so kam das schlanke blonde Mädchen immer in ihrem einfachen schwarzen Kleidchen; eine Tracht, die ihren eigenartigen Liebreiz nur doppelt hervorhob.

Nun war man schon so weit, daß zweimal an bestimmten Tagen der Woche die Lichter festlich auf dem Flügel brannten und von vier Uhr Nachmittags, zuweilen bis zwölf Uhr Nachts, Musik getrieben wurde.

„Ich kann weiter nichts als auf dem Kamm blasen,“ erklärte Moritz eines Nachmittags, als Else mit einem Notenhefte die Treppe herunterkam und ihn im Flur traf, „und allenfalls ‚Heil dir im Siegerkranz‘ pfeifen; ich komme zum Essen pünktlich, und wenn nachher ein paar Lieder gesungen werden, höre ich sehr gern zu. Von Euren Symphonien verstehe ich nichts. Adieu, Else, und spare ein paar Lieder für mich auf.“

Und da er gerade draußen nichts zu thun hatte, ging er zu seiner Mutter, zündete sich eine Cigarre an und setzte sich behaglich in den Lehnstuhl seines seligen Vaters. Um ein Gespräch waren Mutter und Sohn nie verlegen; die große Wirthschaft ergab es von selbst, sie pflegten noch immer Alles mit einander zu besprechen. Die alte praktische Dame hatte stets einen guten Rath bei der Hand, und so waren sie denn sehr bald in einen landwirthschaftlichen Disput verwickelt. Dann kamen noch einige kleine Stadtklatschereien dazu, und schließlich erzählte Moritz, daß er in Magdeburg vor einigen Tagen den Bennewitzer gesprochen habe und daß dieser ihm mitgetheilt, sein Vetter sei dennoch gerichtlich gegen ihn vorgegangen.

„Meinetwegen,“. sagte Frau von Ratenow, „der Starrkopf muß sich erst blutig stoßen, eher glaubt er nicht, daß es Mauern giebt. Ich habe mir die Zunge lahm geredet und die Hand lahm geschrieben, aber er hält mit einer Unerschütterlichkeit an seinem vermeintlichen ‚guten Rechte‘ fest, die einer besseren Sache würdig wäre.“

Sie schwieg, aber die Stricknadeln klapperten energischer an einander als vorher; nichts konnte die alte Dame ärgerlicher machen, als wenn Jemand sich nicht von ihr belehren lassen wollte.

„Sag, mein Jung’,“ fragte sie plötzlich, „ist es wirklich nur die Wuth, Musik zu machen, die den schwarzen Lieutenant mit seiner Geige so oft hierher führt?“

„Vermuthlich wohl,“ erwiderte Moritz, „sie thun ja nichts Anderes und vergessen Essen und Trinken darüber.“

„Na, weißt Du, Moritz, auf Dich verlasse ich mich nicht, in solchen Dingen bist Du wie ein Kind; ich werde da selbst einmal nachsehen müssen.“

„Ei, Mutter! Tante Lott sitzt ja dabei – strickt und ist entzückt –“

„Ja, die ist die Rechte,“ nickte Frau von Ratenow, noch immer zwischen Scherz und Ernst; „eine gute Seele; aber trotz ihres Alters wäre sie just noch die Erste, sich in den Bernardi zu verlieben.“

Moritz lachte hell auf.

„Es ist wirklich nicht zum Lachen, mein Jung’; Du hast Dich doch auch einmal gründlich verliebt, weißt Du? Und Andere haben auch Augen im Kopfe und junges frisches Blut in den Adern!“ Und bei diesen Worten hatte sie ihr sauberes Tüllhäubchen abgenommen, und sich über den spiegelglatten noch braunen Scheitel streichend, fügte sie hinzu: „Gieb mir die Haube mit den lila Bändern da aus meinem Schubkasten, Moritz. So, die ist’s, ich danke Dir, und nun wollen wir auch einmal in Musik schwelgen.“

Der große Mann hatte eben wieder den Schubkasten geschlossen und stiebte sich ein wenig Asche von seinem dunkelblauen Anzuge ab. „Ja, Mütterchen, wenn Du etwa Else meinst –“

„Ich meine gar nichts, Moritz. Begleitest Du mich?“

„Recht gern; schon damit Du siehst, daß dort keine Liebestränke credenzt werden, Du allzu ängstliches Mütterlein.“

Drüben im Salon brannten schon die Lichter und Lampen; man hatte gerade ein Concert von Kreutzer beendigt und befand sich in lebhaftem Gespräche darüber, als Mutter und Sohn eintraten. – Frieda saß am Clavier und probirte einige schwierige Tacte noch einmal; Lieutenant Bernardi hatte die Violine hingelegt und stand neben Else, die in einem Notenhefte blätterte. Annie Cramm und Tante Lott saßen in der Nähe des Fensters, sie hatten Alle dunkelrothe Wangen vor Eifer.

„Wir möchten ein paar Lieder hören,“ motivirte Moritz das unerwartete Erscheinen, und Tante Ratenow nahm mit einem sonoren „guten Abend, meine Damen, guten Abend, lieber Bernardi!“ in der Ecke neben Tante Lott Platz. Moritz mußte heimlich lächeln; eine Diplomatin war sie nicht, seine alte prächtige Mutter, sie ging stets gerade zu. Es machte ihm unsäglichen Spaß, sie zu beobachten.

Fräulein Annie Cramm ließ sich erbitten, zu singen. Else setzte sich still in die tiefe Fensternische, und ihr süßes Kindergesicht schaute unter den schweren blauen Gardinen hervor, die einen prächtigen Hintergrund bildeten für das blonde Köpfchen. Bernardi hatte sich an das entgegengesetzte Ende des Zimmers verfügt, er lehnte an Frieda’s Bücherschrank, im Schatten, gerade Else gegenüber.

„Ein bildhübscher Junge,“ gestand sich Frau von Ratenow, „so schlank und rank und von den besten Manieren; kein Wunder, wenn –“

Da setzte Annie Cramm’s hohe Stimme ein, diese Stimme, die so beängstigend wirkte bei der schmalen hochschulterigen Figur der Sängerin.

„Sehr schön, liebes Fräulein!“ spendete die alte Dame ihr Lob, „aber ich verstehe das nicht, es ist mir zu überirdisch.“

„Mamachen, welch Majestätsverbrechen, das war Wagner!“ rief Frieda.

„Kenne ich nicht!“ lautete die Erwiderung, mit unerschütterlicher Ruhe gegeben.

„Ja siehst Du! Weil Du nie mit uns in’s Opernhaus willst, Mamachen, wenn wir einmal in Berlin sind,“ klagte die junge Frau.

„Kind, ich bilde mir wirklich etwas ein auf meine Nerven, aber dort sage ich mir immer: Nein, die Heutigen sind uns doch über! Ich zittere schon nach dem ersten Act an allen Gliedern, habe nur den einen Gedanken: hören sie denn noch nicht bald auf? – Ihr, die Ihr immer von Nerven sprecht, könnt stundenlang so etwas aushalten! – Else, singst Du uns nicht ein einfach Lied?“

Das junge Mädchen mit den purpurrothen Wangen trat zum Clavier.

„Das alte Lied mit der neuen Composition können wir ja versuchen,“ schlug Frieda vor. Sie hatte innerlich einen kleinen Schüttelfrost ob der Ansichten ihrer Schwiegermutter, und durch die paar Tacte des Vorspiels klangen einige Mißtöne. Aber nun setzte eine weiche volle Altstimme ein:

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Glück und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann.

Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind,
Weil silbern kein Kettlein am Halse mir gleißt!
Ach, weiß es wohl Einer, was Sehnsucht heißt?

Dort unten rauscht’s Wasser, so tief und so hohl,
Könnt ich nur sterben, so wäre mir wohl! –
Drei Blümlein, drei Röslein, ein schneeweißes Kleid,
Da schlief ich wohl süße, ohn’ Wehe und Leid.“

„Brav, Else!“ sagte die alte Dame, und reichte dem Mädchen die Hand. Die Andern schwiegen – Bernardi hatte die Geige ergriffen und begann die einfache klagende Weise nachzuspielen, [75] und dann ein wildes Wogen, ein bezauberndes Chaos von Tönen, zwischendurch immer die Grundmelodie anklingend und endlich noch einmal der schmerzliche Aufschrei der Schlußstrophe.

Die Blicke der beiden jungen Menschen hingen an einander während des Spieles; nun schlugen sich die feuchten braunen Mädchenaugen zu Boden, und das Roth der Wangen war einer leichten Blässe gewichen; still setzte sie sich neben Tante Lott. Bernardi hatte die Violine hingelegt und ließ die Lobpreisungen über sich ergehen; nur Tante Ratenow schwieg.

„Es ist ein altes Lied,“ sprach sie endlich, „mit immer neuer Melodie. Sagtest Du nicht so, Frieda?“ – „Elschen!“ rief sie dann, als man im Speisezimmer die Plätze aufsuchte und das junge Mädchen eben den seinigen neben dem Officier einnehmen wollte, „Elschen, laß Moritz oder Tante Lott dort sitzen und hilf mir hier ein wenig, ich habe wieder mein Reißen im Arm.“

Else war gleich bereit. Moritz aber blickte die Mutter groß an, ihm graute förmlich vor diesen weiblichen Kriegslisten. – Und Alles so unnöthig, wie er meinte. Dort saß er, der Gefährliche, und sprach so angelegentlich mit seiner blassen Nachbarin, und dann machte er eine Apfelsine für Frieda zurecht und erzählte Manövergeschichten. Es war eine lebhafte Unterhaltung an der Tafel voll Scherz und Ernst, und Moritz kam zuletzt auf den Feldzug zu sprechen, und dabei wurden die Herren sehr warm.

Es war spät geworden, als man sich erhob, der Wagen hatte lange warten müssen auf Fräulein Annie Cramm, in Sturm und Regen draußen; nun hüllte sie sich in den seidnen Pelzmantel und nahm Abschied in der Halle.

„Herr Lieutenant, darf ich Ihnen einen Platz in meinem Wagen anbieten?“ fragte sie.

Er stand vor Else und sprach mit ihr, die Mütze unter dem Arm. Das große Gemach war nur schwach erhellt, aber Annie sah es dennoch, wie er eine schmale, halb widerstrebende Mädchenhand an seine Lippen zog.

„Wollen Sie mit mir fahren, Herr Lieutenant?“ fragte sie nochmals ungeduldig, „es ist schon sehr spät, und ich habe Eile.“

„Ich danke, mein gnädiges Fräulein, der Weg thut mir gut, ich ziehe es vor, zu gehen,“ erwiderte er mit seiner ritterlichsten Verbeugung.

Annie Cramm zog den Schleier über ihr blasses Gesicht und vergaß Else Hegebach Adieu zu sagen. Moritz brachte sie an ihren Wagen und schüttelte dann dem jungen Officier die Hand, der eben die Freitreppe herunter kam. So stand er noch ein Weilchen, dem Davongehenden nachschauend, sah über den Hof und dann zum Himmel hinauf, und blieb schließlich mit seinen Blicken an zwei Fenstern des oberen Stockes hängen, hinter denen eben ein Licht aufflammte.

Er begann auf einmal leise ein paar Tacte aus „Boccaccio“ zu pfeifen und ging ins Haus. „Frieda,“ sagte er zu der kleinen schönen Frau, die eben den Flügel schloß im Salon, „liegt nicht irgend etwas in der Luft?“

„Jetzt machst Du wieder eine Entdeckung, Moritz?“ erwiderte sie lachend.

„Ja, mit Bernardi und –“

„Ach Unsinn, sie ist zu garstig,“ unterbrach sie ihn.

„Nein. Nein! Ich meine Else.“

„Ach, Du großer Gott!“ gab sie gleichmüthig zurück, „wenn Du weiter nichts weißt – das ist eine pure Unmöglichkeit – er denkt nicht daran.“

„Aber wenn sie, Else –?“

„Ja, mein Himmel! Ich hatte vor Dir auch schon zwei Lieben, Moritz, und ich lebe noch.“

Er hörte das Letzte nicht mehr, ihm waren plötzlich die Worte eingefallen, welche das Mädchen vorhin gesungen:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind.“

„Es wäre schändlich!“ sagte er und strich sich übcr die Augen.

Droben aber saß ein Mädchen in der tiefen Fensterbank und hielt die Hände gefaltet über ihrem klopfenden Herzen. Sie war nicht arm, sie war so reich, daß sie mit keinem Menschen in der Welt getauscht hätte! Ja, war es denn möglich, daß das Leben so schön sein konnte? War es denn möglich, daß Jemand sie lieb haben konnte, so lieb, wie es seine Augen deutlich sagten? Und sie saß lange und starrte nach den Lichtern des Städtchens, bis eins nach dem andern verlosch; von nebenan drangen die ruhigen Athemzüge Tante Lott’s herüber, die schlief so süß und fest und vergaß es aufzustehen und ihr zu sagen, wie sie es schon die ganze Zeit vergessen hatte: „Kind, was träumst Du denn? Du bist ja nur ein armes Mädchen!“




Draußen war nun der Winter gekommen, und der Schnee lag um Weihnacht weiß und blitzend über dem stillen Lande und auf den Dächern der Wohnungen, und bis Neujahr schneite es noch immer weiter. Die Chausseen und Straßen waren fest und glatt wie das schönste Parquet, und Moritz ließ die Eisen der Pferde schärfen; man wollte eine Schlittenpartie machen, eine große Schlittenpartie.

Die junge Frau von Ratenow, im dunkelblauen pelzbesetzten Sammetcostüm, zog eben noch die gleichfarbigen Handschuhe vor dem großen Spiegel ihres Schlafzimmers an. Sie sähe zum Küssen aus, behauptete Moritz, und er würde sich überdies recht auf den ganzen Rummel freuen, wenn nicht wieder dieser unglückliche Bernardi die Else fahren wollte!

Die junge Frau zuckte kaum merklich die feinen Schultern. „Diese ewige Besorgniß um Else! Mama spricht von nichts weiter, und Du auch nicht; ist sie denn nur so ganz etwas Besseres, als alle die andern Mädchen?“

„Ja!“ erwiderte Moritz warm. „Sie hat ein tiefes weiches Gemüth, und wenn sie etwas empfindet und erfaßt, so thut sie es voll und ganz. Oberflächliche Tändeleien oder gar Koketterien sind der kleinen Deern völlig fremd.“

„Du scheinst Dich sehr genau mit dem Studium dieser Mädchenseele abgegeben zu haben,“ klang es zurück; anscheinend ruhig, aber Moritz kannte den Tonfall dieser biegsamen Stimme allzugut, um nicht zu wissen, daß die Sprecherin sehr gereizt sei.

„Frieda, ich bitte Dich – ich kenne sie seit ihrem ersten Lebenstage, so, wie ich unsere Kinder kenne!“ Seine ehrlichen Augen sahen förmlich erschreckt in ihr Gesicht, das so blühend unter den Straußfedern des Hutes hervorleuchtete. Aber sie knöpfte ruhig den letzten Knopf der langen Handschuhe zu und ergriff den zierlichen Muff. „Ich glaube, die Herren sind schon im Salon.“ Dann schwebte sie an ihm vorüber, ohne im mindesten Notiz zu nehmen, daß dort eine Männerhand sich versöhnend nach ihr ausstreckte.

Es war nicht das erste Mal, daß die junge Frau ein ähnliches verblümtes Wort gesprochen; es war ja auch nach ihrer Meinung geradezu entsetzlich, wie man sich um dies Mädchen abängstigte, die es doch wahrhaftig lange gut hatte in der Welt. Wer würde um sie denn auch nur eine Hand rühren, wäre sie daheim bei ihrem spleenigen Vater? Und immer betonte Mama Ratenow, daß sie ein Unglück verhüten wolle, und Moritz, als getreues Echo, sprach es nach. Das wurde ja schließlich langweilig; – was war es denn weiter, wenn ein Officier ihr den Hof machte? Sie amüsirte sich eben, das konnte man ihr ja gönnen; Gefahr hatte es jedenfalls nicht, denn – er war ja viel zu vernünftig. – Bernardi – und Else! Lächerlich!

Die Röthe des Unmuthes lag noch auf ihren Wangen, als die junge Frau in den Salon trat, um den Rittmeister von Franken und den Lieutenant Bernardi zu begrüßen, die beiden Herren, welche sich die Ehre ausgebeten, die Damen fahren zu dürfen.

Der Rittmeister, ein bildschöner, schlanker Mann und großer Verehrer der jungen Frau, ließ sich scherzend auf ein Knie nieder und überreichte seiner Dame einen Strauß mattgelber südlicher Rosen.

Else hielt mit glückseligem Gesicht ein Veilchenbouquet in der Hand.

„O Frieda, sieh doch, Schnee und Eis und diese herrlichen Blumen, es ist wie ein Traum!“

Wie ein Traum, wie ein süßer Traum war ja das Leben; die Sonne lag so funkelnd und blitzend auf der verschneiten Landschaft, die Luft war so klar und kalt, von so köstlicher Reinheit, und die Glöckchen klingelten und der Schlittenzug flog so stattlich über die prächtige Schneebahn; wie sieht sich die Welt doch schön an, wenn das Glück im Herzen wohnt! – Der Blick des jungen Mädchens hatte sich nur einmal getrübt; das war, [76] als sie beim Passiren der Rosengasse zu dem Hause hinaufgeschaut, wo der Vater wohnte. Er hatte am Fenster gestanden im Schlafrock und Käppchen, aber das eifrige Grüßen und Nicken des blonden Mädchenkopfes dort unten hatte er nicht erwidert.

Papa war immer so in Gedanken, Papa wußte entschieden mitunter gar nicht, daß er ein Töchterchen besaß.

Aber dann fing die Musik an zu spielen und sie sprachen zusammen, so von gar nichts, und doch so viel. „Ich heiße Bernhard mit Vornamen,“ hatte er erzählt und die warme Decke sorglich um die schlanke Mädchengestalt gelegt.

„Bernhard Bernardi, das klingt, wunderschön,“ dachte Else.

„Ihre Frau Cousine ist doch die Vorsehung selbst für unsere Geselligkeit,“ plauderte er weiter. „Denken Sie, wo sollten wir heute Abend tanzen, wenn nicht in der Halle auf der Burg? Charmante Leute, wahrhaftig!“

„Wo ist Annie Cramm eigentlich? Wer fährt sie?“ fragte Else.

Er lachte, daß die weißen Zähne unter dem schwarzen Bärtchen blitzten.

„Fähnrich Herbart ist dazu commandirt worden.“

„O wie abscheulich! Annie ist so gut.“

„Gut? Ist das Alles? Das ist wenig.“

„Das ist viel, mein Herr,“ sagte das junge Mädchen mit vollster Ernsthaftigkeit in den braunen Kinderaugen.

Er mußte sie immerfort ansehen; er kannte jeden Zug dieses reinen, frischen Gesichtes, und es war doch eigentlich famos, so zu fahren neben dem lieblichen Geschöpf, das so anders war, als die Andern, so – so – er wußte selbst nicht das rechte Wort – so treuherzig, so zum Küssen verständig, so echt weiblich in ihrem ganzen Wesen. Und er dachte, während seine Blicke unverwandt an ihr hingen, des Elternhauses und seiner Mutter, und dann stand er plötzlich in der altmodischen Wohnstube daheim, und neben ihm – stand sie –.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 6, S. 89–92

[89] Da fahren Hunger und Durst zusammen,“ bemerkte im folgenden Schlitten der dicke Referendar Golling zu dem Lieutenant von Rost und blies behaglich den Rauch einer feinen Cigarre in die kalte Winterluft. Sie hatten keine Damen im Schlitten, die Beiden, hatten vielleicht auch keine gewollt. Lieutenant von Rost vertrat hier die Stelle des ewig Weiblichen, er hatte ein Taschentuch um den Arm gebunden und handhabte einen riesigen dunkelrothen Fächer mit vielem Geschick.

„Na, bei einer Schlittenpartie ist es ja noch zu ertragen; die guten Büffets in der Burg sind ein tröstlicher Hintergrund,“ gähnte der Lieutenant.

„Herr Gott, der gute Mann wird doch nicht so wahnsinnig sein und etwa ernsthafte Absichten –?“ fragte der Referendar.

„Eh, was weiß ich?“ gähnte wiederum der Officier, „’s ist seine Sache. Daß der Alte nichts hat, weiß er so gut, wie wir Alle.“

„Er macht’s ein Bischen arg, lieber Rost, und – nebenbei – er ist Gemüthsmensch.“

„Ja, wer wäre das nicht! Aber hierbei hört eben die Gemüthlichkeit auf,“ erklärte der Lieutenant und ließ mit einer Gesichtsverzerrung den Kneifer fallen, mittelst dessen er angelegentlich das vor ihnen fahrende Paar betrachtet hatte.

Moritz fuhr zu allerletzt mit einer hübschen jungen Frau. Er war verdrießlich und suchte beständig mit den Augen nach Frieda und Else.

„Fräulein von Hegebach ist ziemlich weit vorn, Herr von Ratenow, Bernardi fährt sie. Nicht wahr, er ist viel in Ihrem Hause? Ich bin befreundet mit einer Schwester von ihm; der Vater war ja wohl früher hier Kreisphysicus? Er soll jetzt in B. eine große Praxis haben, aber weiter – glaube ich – nichts. Die vielen Kinder – Sie wissen, Herr von Ratenow.“

„Ich kenne seine Familienverhältnisse ganz genau,“ erwiderte Moritz verstimmt. Er fühlte sehr gut, was man ihm andeuten wollte.

„Ach so! Verzeihen Sie, bester Herr von Ratenow,“ bat die junge Frau und sah ihn groß an. „Nun, dann wußten sie ja auf der Burg, daß er keineswegs eine gute Partie sei.“

Indessen herrschte auf der Burg ein wahrer Höllentumult, wie die alte Frau von Ratenow ärgerlich zu Tante Lott sagte. Im Speisezimmer wurden die Tafeln gedeckt und der Gärtner schleppte das halbe Gewächshaus in die Halle, wo man tanzen wollte. Frieda hatte die Trauer pünktlich am 1. Januar abgelegt; nun war es das erste große Fest heute, und zwar ein improvisirtes. Sie war gestern Abend aus einer Gesellschaft gekommen mit dieser Idee und hatte heute in aller Tagesfrühe sämmtliche Hände und Füße des Hauses in Bewegung gesetzt.

„Laß mich nur in Frieden,“ erklärte Frau von Ratenow der Schwiegertochter, „schicke mir die Kinder, damit sie Euch nicht im Wege sind; das ist Alles, was ich dabei thue.“

In Frieda’s Schlafzimmer lag die elegante blaßblaue Seidenrobe bereit für heute Abend, mit jedem Stückchen, was die junge Frau für ihre Toilette brauchte.

Oben in Elsa’s Stübchen hatten zwei alte Frauenhände das einfache weiße Battistkleid zurecht gelegt, welches das junge Mädchen zu Weihnachten geschenkt bekommen; und die zwei kleinen Goldkäferschuhchen standen, schmal wie die eines Kindes, auf dem Tische vor der alten Dame. Hier und da hatte sie eine rosa Schleife angenäht, mit wahrer Seligkeit; es war doch auch keine Kleinigkeit, das Pflegekindchen zum ersten Male zum Tanze zu führen. Sie hatte sich dann selbst in das Grauseidene geworfen, hatte die Lampe angezündet und sich einen Roman von Hackländer geholt. Nun wartete sie auf Else, um ihr behülflich zu sein, denn es galt, rasch Toilette zu machen.

Allmählich wurde es ruhiger unten; man war fertig mit den Vorbereitungen, die Stille vor dem Sturme war eingetreten. Und nun klangen die Schlittenglocken von draußen – das waren sie, Moritz, Frieda und Else mit der ganzen Gesellschaft.

Es dauerte kaum ein paar Augenblicke, und die leichten Schritte des jungen Mädchens kamen den Corridor hinauf, die Thür wurde aufgemacht – da stand sie auf der Schwelle, roth und wie außer Athem.

„Guten Abend, mein liebes, kleines Tantchen!“ rief sie und schlang beide Arme um den Hals der alten Dame. Es wehte mit ihr ein ganzer Strom wunderfrischer, kühler Schneeluft in das Gemach.

„War es schön, Maus? Hast Du Dich gut unterhalten? Komm, trink Deinen Thee.“

Aber das junge Mädchen dankte hastig; sie lief rasch in ihr Schlafzimmer und dort stand sie eine ganze Weile im Finstern und vergaß Hut und Mantel abzulegen.

Tante Lott kam herzu, um zu helfen.

„Aber, Else, da stehst Du noch, und es ist die höchste Zeit zum Ankleiden!“ Sie holte Licht und nahm dem Kinde die Sachen ab. „Ja, was hast Du denn, Else, weinst Du gar?“

[90] Sie blieb stumm und begann sich anzukleiden, aber es wollte heute gar nicht recht gehen mit dem Frisiren, die zitternden Hände machten wohl dreimal die schweren Flechten wieder auf, und die Rose wollte gar nicht ihren Platz finden.

„Es ist ja gut, es sitzt ja sehr schön!“ meinte Tante Lott. „Du bist doch sonst nicht so eitel.“

Ja sonst, gute Tante Lott. Sie hatte ja keine Ahnung, für wen sich das Kind dort schmückte.

Endlich stand sie fertig.

„Tante Lott, mir ist heute so angst!“ Sie zitterte wirklich nervös.

„Ja, was fehlt Dir, Kind? Du bist kalt geworden im Schlitten.“

„Nein, nein, komm nur, Tante!“

„Willst Du nicht ein paar Tropfen Eau de Cologne nehmen, Else?“

Sie antwortete nicht, sie stand schon wieder regungslos, und ihre Augen sahen seltsam verklärt in das leere Nichts. Ihren Namen meinte sie wieder zu hören – „Else!“ und noch ein paar einfache Worte: „Glück! Was ist denn Glück, wenn nicht dieser Augenblick?“

Seine Stimme hatte so wunderbar geschwankt dabei. Von den Eltern hatte er ihr gesprochen auf der Heimfahrt, wie gut und wie lieb die Mutter, wie sie ihn so gern auf seiner Geige spielen hörte. Der Vater habe sie auch einst gespielt; er erinnere sich gar wohl, wie er, ein kleiner Junge, in der Dämmerung auf dem Schooße der Mutter gesessen, andächtig lauschend, während der Vater spielend auf und ab geschritten sei im Gemach. Zuweilen habe er dann den Bogen sinken lassen und sei herüber gekommen, um Mutter und Kind zu küssen. Ach ja, die kleine Geige habe schon viel Glück gesehen, darum singe sie auch gar so süß. – Ach, Glück! Was ist Glück, wenn nicht dieser Augenblick?

Und ihre Hände lagen plötzlich in einander, und Else hatte weinen müssen; und unter Thränen lachte doch das junge Herz und betete und jubelte, und über ihnen breitete sich der funkelnde Sternenhimmel aus.

„Else, komm, ich bitte Dich!“ flehte Tante Lott, „ich glaube, wir sind die Letzten.“

Sie folgte der grauen Seidenschleppe wie im Traume; ihr bangte, daß sie ihn wiedersehen sollte da unten im hellen Kerzenlicht, und doch schlug ihr Herz schwer und voll.

In der glänzend erleuchteten Halle und den anstoßenden Salons wogte schon Alles durch einander; in Moritzen’s Zimmer waren Spieltische aufgestellt und Frau von Ratenow hielt bereits eine Whistkarte in der Hand. Sie sprach mit einem älteren Herrn, als Else zu ihr trat, um ihr die Hand zu küssen. Die alte Dame starrte sie einen Augenblick frappirt an, das Mädchen war ja bildschön heute Abend; beinahe scheu strich sie über die Wangen und folgte ihr mit den Augen, als sie durch die bunte Menge schritt, den Kopf ein klein wenig gesenkt und doch so stolz, die köstliche Gestalt in dem knappen weißen Kleide, durch das Hals und Arme rosig schimmerten. Neben Annie Cramm blieb sie stehen. Die junge Dame schaute sonderbar verdrießlich und spitz unter dem Kranze weißer Maßliebchen hervor; in ihrer fliederfarbenen Toilette mit der überreichen Garnitur von Spitzen und gleichen Blumen sah sie aus, als habe ein Kleiderkünstler eine Wachsfigur in das Schaufenster gestellt, um für ein neues Costüm Reclame zu machen. Es war Alles so ausgesucht an ihr, von den blaßlila Atlasschuhen bis zum Spitzenfächer aus kostbaren Points und dem Schmetterlinge aus Brillanten, der so leuchtend und prätentiös sich auf dem bescheidenen Halse der jungen Dame wiegte.

„Was das für eine Takelage ist, die jetzige Mode!“ murmelte Frau von Ratenow; „ich wundere mich, daß die Annie Cramm tanzen kann in diesen festgeschnürten Röcken. Hilf, Himmel, und wie es aussieht!“

Die ersten Töne des Walzers waren durch den Saal gebraust, wie elektrisirt hatten sich die Paare zusammengefunden; es war ein prächtiges Bild in dem reichen Rahmen.

„Wo ist Else, Lottchen? Ich sehe sie nicht mehr,“ fragte die alte Dame.

„Dort, dort!“ rief die Angeredete, die eben hinzugetreten war. „Ratenowchen, das Kind tanzt nicht, sie fliegt!“ rief sie in Ekstase und nahm die Lorgnette, dem Lieblinge mit entzückten Augen folgend.

„Da ist noch Lust an der Sache, meine Gnädige,“ bemerkte der alte Herr mit goldener Brille; „mein Gott ja, achtzehn Jahre!“

„Sagen Sie, bester Justizrath,“ fragte Frau von Ratenow, „sind Sie nicht Anwalt des Bennewitzer Hegebach?“

„Ich habe den Vorzug, gnädige Frau.“

„Nun –?“

„Nun, der Major ist abgewiesen mit seiner Klage, natürlicher Weise.“

„Versteht sich,“ nickte Frau von Ratenow; „weiß er es schon?“

„Heute wird es ihm zugeschickt worden sein, gnädige Frau. Ich bin übrigens neugierig, wie es wirkt.“

Frau von Ratenow sah dem Sprecher plötzlich ganz besorgt in das Gesicht. „Glauben Sie, daß er sich dabei beruhigt?“

„I bewahre,“ erwiderte der Gefragte. „So lange der alte Rappelkopf noch Athem hat, so lange kräht er auch.“

Der Tanz war beendet, man zog sich in die Nebenzimmer zurück oder auf die reizenden Plätzchen unter den Lorbeerbüschen und der Orangerie. Bernardi hatte Else in Frieda’s kleines Boudoir geführt; das Mädchen suchte die Herrin desselben, um ihr ein wenig die Pflichten der Wirthin erleichtern zu helfen. Es war Niemand dort, bis auf die zwei kleinen blonden Mädchen, die in ihren sehr kurzen weißen Kleidern auf der Chaiselongue der jungen Frau über eines von Mamas schönen Büchern gerathen waren. Frieda’s große Dogge saß verständnißvoll dabei.

Else setzte sich auf eins der niedrigen Fauteuils neben die Kinder und begann mit ihnen zu plaudern. Die Aelteste legte das Buch auf ihre Kniee. Es war ein wunderliebliches Bild, und sie fühlte, wie seine Blicke bewundernd auf ihr ruhten. Sie sah empor, und ihre Augen fanden sich, bis sie, tief erröthend, wieder die Wimpern senkte.

„Nun fangen wir bald zu lernen an,“ sagte das junge Mädchen und strich der Aeltesten das Haar aus der Stirn.

„Ich kann schon lesen, Tante Else, paß’ auf!“ Und das Kind las, mit dem kleinen Finger auf die Buchstaben zeigend, die Unterschrift eines Bildes:

„Die Minne überwindet alle Ding –
Du lügst! sprach der Pfenning.“

Else betrachtete das Bild; es war eine Illustration zum „Altdeutschen Witz und Verstand“. Ein Brautzug stieg die Stufen zur Kirche hinauf, der junge Patricier führte die prächtig geschmückte Braut, die ganze stattliche Sippe der Beiden wogte hinterdrein. Abseits davon stand ein Mädchen in ärmlicher Kleidung, keinen Schmuck als zwei lange blonde Zöpfe tragend; sie hatte dem Zuge den Rücken gewandt, die Schürze vor das Gesicht geschlagen und weinte. Bernardi sah über Else’s Schultern auf das Blatt.

Die kleine Blonde fragte, ob dem Onkel das Bild gefalle? Er antwortete nicht.

„Bernardi, oh – auf ein Wort,“ schlug plötzlich die Stimme des Lieutenants von Rost an sein Ohr. Er schritt über den weichen Teppich dem Cameraden nach.

„Was willst Du, Rost?“ fragte er im Nebenzimmer.

„Bernardi,“ sagte der Officier und nahm den Kneifer aus dem Auge, „Du und ich, wir haben immer ein ehrlich Wort von einander vertragen können; ich spreche es auch heute wieder: Gehe auf Urlaub eine Weile, oder laß Dich versetzen oder heirathe meinetwegen die Annie Cramm –“

Bernardi wurde blaß bis in die Lippen. „Du mußt Dich deutlicher erklären, Rost.“

„Deutlicher? Gern – Du hast Schulden, mon ami, wenn auch keine leichtsinnigen, Du hast weder Erbonkel noch -Tante, und Dein Alter besitzt alles mögliche Schätzenswerthe, nur keine irdischen Güter. Noch deutlicher?“ setzte er fragend hinzu. „Schwer verständlich scheint Dir allerdings Manches zu sein, sonst hättest Du aus Ratenow’s höchst gezwungener Haltung Dir gegenüber längst die allgemeine Ansicht herauslesen können, die über Deine Beziehungen zu diesem gastfreien Hause cursirt. – Ich weiß allerdings nicht, wie weit Du bist, und ob Du noch zurücktreten kannst; meiner Theilnahme für den Fall, daß dies nicht mehr möglich, bist Du sicher.“

[91] Er ging ohne ein Wort meiter an dem Cameraden vorüber und trat zu Else, die noch immer das Geplauder der Kinder anhörte; das Buch hatte sie auf den Tisch gelegt, sie war schon wieder mitten in ihren glückseligen Gedanken.

„Ich habe die Ehre dieses Tanzes, gnädiges Fräulein,“ sagte der junge Officier, und mit einigen Scherzworten führte er sie in den Saal.

Bernardi war in peinlichster Stimmung zurückgeblieben; er drängte sich mit finsterer Miene durch die folgenden Zimmer in die Halle nach und blieb in der .Thür stehen, just neben Moritz. Wahrhaftig, der sonst so liebenswürdige Mann benahm sich auffallend kühl gegen ihn. Soweit war es also doch, daß die Spatzen auf dem Dache davon erzählten! Er grübelte, den Schnurrbart streichend, über seine ganze Verwandtschaft nach – Rost hatte Recht, eine Erbtante oder ein -Onkel war nicht vorhanden.

„Oho, mein Herr Oberst!“ schlug plötzlich Frau von Ratenow’s Stimme an sein Ohr, „das ist Ansichtssache.“ – Es war so laut und drohend gesprochen.

Er wandte sich um und sah in das Zimmer des Hausherrn hinein. Die alte Dame in ihrer schweren seidenen Robe saß dem Regimentscommandeur am nächsten Whisttische gegenüber, sie gab eifrig Karten, und ihr Gesicht hatte genau den strengen Ausdruck, der ihr eigen war, wenn sie sich zum Streite rüstete, eine ihrer Meinungen zu verfechten.

„Das sind Ansichten,“ wiederholte sie, „meine sind es nicht! Ich habe denn doch schon zu viel Unglück aus dieser sogenannten Anständigkeit entspringen sehen – ich will Ihnen gleich ein Beispiel erzählen.“

Sie war fertig mit dem Geben der Blätter und legte ihre gefalteten Hände auf die Karten. Bernardi schien es plötzlich, als spreche sie jetzt nur deshalb so laut, weil sie ihn eben dort an der Thür erblickt hatte. Unwillkürlich nahm er eine aufmerksame Haltung an.

„Sie war meine Freundin, Herr Oberst; Sie haben sicher den Major von Welsleben gekannt und seine Frau? Na, sehen Sie, die hatten sich kennen und lieben gelernt, als sie, verzeihen Sie – Beide noch nicht recht trocken waren hinter den Ohren. In den Jahren denkt man nicht an die Prosa des Lebens, wollen Sie sagen, Herr Oberst? Gut, dann soll man die jungen Leute aufmerksam machen, daß es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, aus ihren Mondscheinidyllen von ‚Ein Herz und eine Hütte‘ aufzuwachen, sich im wirklichen Leben umzusehen und zu erkennen, daß man von Liebe und Rosenduft nicht allein existirt. Nun, sie verlobten sich, es ward ein endloser Brautstand, er ein verdrießlicher Mann, sie ein nervöses Mädchen, bis der Prediger schließlich elne traurige Ehe einsegnete. – Jetzt kommt’s, Herr Oberst! Sehen Sie, Sie behaupteten vorhin, der natürliche Anstand würde ihn dazu gezwungen haben, sich mit dem Mädchen zu verloben, da er ihr so offen gezeigt, daß er sie liebe? Ein verkehrter Anstand, mein Herr! – Mein alter Jochen, der zweiunddreißig Jahre in meinem Hause ist, zu den Klügsten gehört er gerade nicht, sagte eines Abends zu mir, als er die Tafel deckte: ‚Gnädige Frau, das Tischtuch will absolut nicht passen; ziehe ich es nach oben, fehlt es unten, schiebe lch es dorthin, guckt oben der Tisch vor; ich quäle mich nun schon eine ganze Stunde mit dem Dings.‘ So ist’s geworden bei Welsleben’s; ihr ganzes Leben lang haben sie das Tischtuch hin und her gezogen, aber gereicht hat es nie. Es kamen Kinder, es wurde immer knapper, es kamen die Anforderungen von allen Ecken und Enden, Freude war längst nicht mehr im Hause, und wenn die Klingel ertönte, dann schrak die Hausfrau ängstlich zusammen, weil sie meinte, es sei wieder eine der ach! so oft schon präsentirten und nie bezahlten Rechnungen. Die Frau borgte sich elend und siech; na, und er fand mehr Geschmack, als ihm gut war, am Wirthshaus. Nun frage ich Sie, mein Herr, wo –“

Bernardi hörte das Letzte nicht mehr; er stand plötzlich vor Frieda und bat sie um eine Extratour. Sie dankte; „Mein lieber Bernardi, erbarmen Sie sich über Fräuleln Cramm –“. Er machte eine Verbeugung und verließ den Saal.

Else’s braune Augen suchten Etwas. Lieutenant Rost wußte ganz genau, was es war; die Kleine that ihm unsäglich leid, so leid ihm überhaupt etwas thun konnte. Er hätte gern Bernardi ein paar tausend Thälerchen anhexen mögen, damit diese kleinen schmalen Füße auf seinem Lebensweg neben ihm trippeln konnten. „Auf Ehre, sie war reizend!“

Bernardi war indessen mit fast stürmischer Hast in dem großen Gartenweg auf und ab geschritten. „Wenn Du noch zurückkannst,“ – die Worte klangen ihm in den Ohren. Ihm schwindelte, es war ihm, als hätte er den, der dies gesprochen, erwürgen mögen. Aber freilich, sie hatten Alle Recht, und das war eben das Teuflische. Ob er noch zurücktreten konnte ohne einen Eclat? Ja, er brach noch nicht sein Wort, kein ausgesprochenes Wort – in einer Stunde vielleicht wäre es gesagt gewesen. Und dennoch, tausendmal hatte sie es in seinen Augen lesen müssen, wie er es in ihren klaren braunen Kinderaugen gelesen, daß sie sich herzinnig gut einander.

Freilich, welche Aussichten! Die Schilderung der alten Dame war so entsetzlich trostlos, so furchtbar wahr, eine elende Perspective! – Er strich sich die Haare aus der Stirn; eine Melodie war ihm plötzlich eingefallen, einfache Worte:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind!“

und er sah wieder das Bild, das er vorhin gesehen, und das weinende Mädchen nahm Else von Hegebach’s Gestalt an.

Nein, er konnte doch nicht mehr zurück, und er wollte nicht mehr zurück, er hätte nicht leben können, wenn Else von Hegebach ihn für einen Wortbrüchigen, für einen Elenden ansehen mußte. Er hatte ihre Hand in der seinen gehalten in der vollen Seligkeit des Augenblicks, und er dachte zu heilig von der Liebe, zu hoch von den Frauen – es mußte einen Ausweg geben, schlimmsten Falls nahm er den Abschied. Er ging plötzlich mit großen raschen Schritten zurück in das Haus und durch den Saal in das Spielzimmer.

„Gnädige Frau,“ er machte eine Verbeugung vor der alten Frau von Ratenow, „darf ich Sie um eine kurze Unterredung bitten?“. Er sprach leise und sah ruhig in das kluge Antlitz, das sich erstaunt zu ihm wandte.

Sie antwortete nicht gleich, aber sie legte die Karten hin. „Gehen Sie hinüber in mein Wohnzimmer, ich komme nach,“ erwiderte sie ebenso leise. Es war gut, daß die Andern sich so laut unterhielten und daß die Musik eben wieder einsetzte.

Frau von Ratenow sah ihm nach, wie er eben durch die Portieren verschwand. „Da haben wir’s,“ sagte sie zu sich. – „Bester Herr Gerichtsrath, übernehmen Sie für ein Viertelstündchen meine Karten? So! Ich danke Ihnen!“ Und sie folgte, den Weg durch den Tanzsaal wählend, dem jungen Officier in ihr Zimmer. Es war nur durch eine rasch angezündete Kerze erhellt und aus dieser Dämmerung schaute ein ernstes blasses Gesicht zu ihr herüber.

„Nun, lieber Bernardi?“

„Gnädigste Frau, Sie sprachen vorhin ein hartes Urtheil über – das –“, er stockte.

„Ich weiß schon, was Sie meinen,“ nickte sie, „Sie wollen mich doch nicht etwa zu einem Widerruf zwingen?“

Das klang wie scherzend, aber ihre Augen blickten ernsthaft, fast strenge.

„Gnädigste Frau halten auch keine Ausnahme für möglich?“ fragte er.

„Nein!“ erwiderte sie kurz und setzte sich in den nächsten Stuhl.

„Auch nicht, wenn ein ehrlicher fester Wille sich mit einem Herzen voll echter Liebe verbindet?“

Er sprach tiefbewegt; die alte Dame sah zu ihm empor – fast mitleidig.

„Du lieber Himmel! Das haben sie ja Alle gedacht, und das glauben sie Alle; das ist so eine Honigtopfsrechnung, Bernardi, wie sie Verliebte so gern machen.“

„Ich würde den Abschied einreichen, gnädigste Frau. Es ist ja wahr, unser Stand verlangt soviel nach außen hin; es ist ein jammervolles Loos, das des armen Officiers! Ich würde es nie Else von Hegebach anbieten – ich –“

„Else von Hegebach?“ Frau von Ratenow erhob sich und trat in der rauschenden Seidenrobe auf den jungen Mann zu. „Wenn Sie Else von Hegebach meinen, so sage ich Ihnen, sie ist ein armes Mädchen und sie würde nie gestatten, daß ein Mann ihretwegen seine Carrière aufgiebt, um ein unzufriedenes verfehltes Dasein mit sich herumzuschleppen! Dazu ist sie viel zu bescheiden, mein bester Bernardi; und von Ihnen hege ich die feste Ueberzeugung, daß Sie ehrenhaft genug sind, einen solchen Vorschlag [92] nicht einem Kinde zu machen, das noch nicht weiß, was es bedeutet, sich zu binden für immer. Bis jetzt kannte sie die Noth des Lebens noch nicht.“

Sie hatte laut und heftig gesprochen und fuhr nun fort: „Glauben Sie denn, daß Sie, wenn Sie den bunten Rock ausgezogen haben, leben können wie ein Tagelöhner? Dazu verwöhnt sich die Welt heutzutage allzusehr schon von Jugend auf. Gehen Sie, Bernardi, ich hätte Sie nie für so unvernünftig gehalten.“

„Ich liebe Fräulein von Hegebach,“ erwiderte er und sah ihr fest in das erregte Gesicht.

„Jawohl – Sie haben sich so recht über Hals und Kopf hineingestürzt! Ich hab’s kommen sehen, leider!“

„Und ich werde wieder geliebt!“

„So?“ – Die alte Dame warf unmuthig ihre Haubenbänder zurück. „Was weiß so ein Kind von Liebe! Reden Sie mir davon nicht, Bernardi, in dem Alter hat man ja noch kein Urtheil, und wenn auch –“

„Und wenn auch?“ wiederholte er; „gnädige Frau, und wenn auch –?“

„Nun, sie wird’s vergessen, Bernardi! – Ach nein, nein,“ fuhr sie fort, „machen Sie doch keinen Unsinn! Ich will ja glauben, daß Sie sich in die Kleine verliebt haben, sie ist ein hübsches Mädchen, aber – daran sterben Sie nicht. Ich muß Sie alles Ernstes bitten, mein lieber Lieutenant Bernardi, diese Unterredung als beendet anzusehen. Es ist eine Unmöglichkeit, und weder Ihre Eltern noch Else’s Vater, weder ich noch mein Sohn, werden Freude daran haben. Ich kann keine Redensarten machen von – großer Ehre – und so weiter; Sie wissen, ich schätze Sie als einen liebenswürdigen Cavalier, Bernardi, als einen Ehrenmann; machen Sie das Kind nicht unglücklich! Ich meine es gut mit Ihnen und mit ihr.“

„Ich breche kein gegebenes Wort bei Fräulein von Hegebach; es sei ferne von mir, ihr Unglück zu wollen. Nehmen Sie meinen Dank, gnädigste Frau.“

Er verbeugte sich formell und wollte der Thür zuschreiten.

„Halt, Bernardi, so gebe ich Sie nicht frei!“ rief Frau von Ratenow, und das Funkeln ihrer Brillanten flog wie ein Leuchten durch das dämmerige Gemach bei der raschen Wendung. „Erst das Versprechen, daß Sie sich dem Kinde nicht mehr nähern wollen!“

„Ich werde sobald als möglich die Stadt verlassen, gnädige Frau.“

„Ich danke Ihnen, lieber Bernardi!“

Und als sich die Thür hinter ihm geschlossen, stand sie noch eine ganze Weile auf derselben Stelle, gesenkten Hauptes. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen.

„Verzeihen Sie, meine Herrschaften,“ sagte sie ein paar Minuten später im Spielzimmer, „ich bin wieder zu Ihrer Disposition. Wie? Schlemm sind wir geworden, Herr Justizrath?“

Und der Abend und die Nacht vergingen; sie hatten noch einmal getanzt zusammen. Er sei sehr lustig gewesen, der Herr Lieutenant Bernardi, meinten die jungen Damen; die Herren behaupteten, er habe dem Champagner etwas mehr zugesprochen, als jüst nöthig. Er hatte sich eine rosa Schleife, die ihm vor die Füße wehte, als Else vorbei tanzte, in die Tasche gesteckt, er hatte noch einmal die zitternden Mädchenhände fest in die seinen gepreßt, und er war dann zurückgetreten mit der ritterlichsten Verbeugung, ohne noch einmal in die feuchten sehnsüchtigen Augen zu blicken; und draußen auf der Straße hatte er seinen Arm in den des Lieutenants von Rost geschoben.

„Um Himmels willen noch nicht nach Hause!“ erklärte er mit lauter Stimme, und dann war der ganze Trupp der Unverheiratheten in ihr Stammlocal gezogen.

„Na,“ fragte Dolling den Lieutenant von Rost, und deutete auf Bernardi, der sich überlaut mit einem älteren Cameraden unterhielt, als gelte es eine innere Stimme zu betäuben, „was hat es gegeben?“

„Eh,“ erwiderte der Angeredete, „er ist in der Krisis, wird’s wohl durchmachen.“ – –

„Ach Tante, schlaf noch nicht,“ bat Else. Sie hatte das Morgenkleid angezogen und saß auf dem Bettrand der alten Dame.

„Mein Liebling, schütt’ es aus, Dein Herz,“ sagte die wunderliche verschrobene Tante mit dem kinderguten Herzen.

„Ich habe ihn so unsäglich lieb!“ flüsterten die frischen Mädchenlippen. Dann sprach sie nicht mehr; die Beiden drückten sich nur stumm die Hand.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 7, S. 105–110

[105] Der Tag nach solchem Feste ist in jedem Hause der gleiche; abgespannte Gesichter bei den Damen, bei den Herren etwas Kopfweh, die Zimmer noch nicht ganz in Ordnung, die Dienerschaft verschlafen, – das Beste bleibt dann immer noch das Frühstück.

Es war beinahe zwölf Uhr, als man sich zu diesem Zweck im Eßzimmer versammelte. Frau von Ratenow kritisirte streng, sie war offenbar nicht in der besten Laune; Frieda gähnte viel, und Tante Lott schwelgte in Erinnerungen und beschrieb noch einmal ganz genau jede Toilette.

„Wo ist Else?“ fragte endlich Moritz, der bis dahin ziemlich schweigsam gegessen und getrunken hatte.

„Sie kommt gleich, Moritz,“ versicherte Tante Lott, „sie wollte nur erst vollständig Toilette machen; sie will zu ihrem Vater, er soll nicht ganz wohl sein.“

„Glaube ich schon,“ meinte die alte Frau von Ratenow.

„Sah das Kind nicht entzückend aus, Cousine?“ fragte Tante Lott.

„O ja!“ war die kühle Antwort. „Uebrigens, wann fängt nun endlich der Unterricht an?“

„Vorläufig noch nicht,“ erklärte Moritz ruhig; „ich habe die Absicht, damit noch bis Ostern zu warten. Und da wollte ich Dir den Vorschlag machen, Tante Lott, Du drehst in diesem Jahre Deinen Plan um, gehst jetzt die vorgeschriebenen acht Wochen in Dein Stift und nimmst Else mit.“

Tante Lott’s gutes altes Gesicht war plötzlich leichenblaß gewordem „Jetzt hier fort?“ stammelte sie, „wo Else sich so gut – – ich bitte Dich, Moritz –“

„Mir paßt es gar nicht,“ erklärte Frieda; „ich hätte lieber gesehen, die Mädchen lernten endlich stille sitzen.“

„Ach ja, Frieda!“ rief Tante Lott tragischer denn je, „biete Alles auf! Wenn das Kind jetzt fortginge, es hieße ein Glück morden!“

Die junge Frau lachte hell und belustigt. „Tante, Du verdienst, daß Dir noch bei lebendigem Leibe ein Denkmal unter einer Thränenweide, mit Rosen umrankt, gesetzt wird.“

„Es reimt sich nicht immer, Herzen und Schmerzen, Cousine Lott!“ rief Frau von Ratenow. mit erhobener Stimme; „es sollte mir unendlich leid sein, hättest Du Dingen Vorschub geleistet, die wir mit allen Kräften abzuschwächen bemüht sind.“

Das Gesicht des alten Fräuleins war jäh erblaßt. „Ich habe nichts dazu gethan, Ratenowchen,“ sagte sie ernst und bestimmt; „so etwas heißt Niemand kommen, das ist ein Wunder, das Gott schickt. Es kommt –“

„Es kommt,“ fiel ihr Frieda noch immer lachend in’s Wort.

„Es kommt wie Nelkenduft im Winde,
Es kommt wie durch die Nacht gelinde,
Aus Wolken bricht des Mondes Schein!“

„Na ja, freilich,“ betonte Frau von Ratenow, „das ist sehr schön in’s Album zu schreiben – hier kommt’s auf was Anderes an. Echauffirt Euch übrigens nicht; sie kann ruhig bleiben und wird vernünftig sein.“

„Wie manche Mädchenjugend ist schon an diesem Wort zu Grunde gegangen!“ murmelte Tante Lott.

„Zum Lachen ist dies nun gerade nicht, Frieda!“ Die Augen der alten Dame richteten sich vorwurfsvoll auf das noch immer lachende schöne Gesicht der Schwiegertochter.

Die junge Frau wollte eben den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als die Falten der Portière aus einander flogen und Else eintrat. Ihr ganzes Wesen schien gehoben, man sah es an den leuchtenden braunen Augen, an den rosigen Wangen. Ihr „Guten Morgen!“ klang so frisch und herzlich, es war, als fliege ein fröhlicher Sonnenstrahl durch das Gemach.

„Dein Vater ist nicht wohl?“ fragte Tante Ratenow freundlich.

„Leider nein, liebe Tante; ich will gleich nachher in die Stadt.“

„Es giebt Thauwetter,“ mahnte Moritz, „zieh Dir feste Stiefeln an.“

„Und wenn Du wieder zurück bist, Else, komm einmal auf mein Zimmer,“ setzte Frau von Ratenow hinzu.

„Eine Empfehlung von Herrn Lieutenant Bernardi.“ Der Diener war zu Moritz getreten und überreichte ihm ein Billet.

Tante Lott fühlte plötzlich ihre Hand ergriffen von einer kleinen zitternden Hand. Moritz las, er sah dabei sonderbar aus; er las es noch einmal, dann sagte er, ohne Jemand anzublicken:

„Lieutenant Bernardi läßt sich allerseits bestens empfehlen, er bedauert sehr, dies nicht persönlich thun zu können, die Zeit sei ihm leider zu knapp bemessen. Er reist nämlich heute Abend sechs Uhr nach H. ab, wohin er an Stelle eines erkrankten Cameraden ein Commando bekommen hat. Er bittet, dem Ueberbringer Dieses seine Geige, sowie die Noten übermitteln zu wollen, und hofft, daß den Damen der gestrige Tag wohl bekommen sei und daß man ihm ein freundliches Andenken bewahren werde.“

[106] „Hole die Geige aus dem Salon!“ befahl Moritz. Dann nahm er eine Visitenkarte aus seinem Notizbuche, schrieb ein paar Worte mit Bleistift, couvertirte und gab das Briefchen dem zurückkehrenden Diener. „Unsere Empfehlung an Herrn Lieutenant Bernardi.“

Die zwei braunen Mädchenaugen sahen wie erstarrt dem kleinen Violinkasten nach, der da eben hinter der Portière verschwand. Es war so still im Zimmer geworden, man hörte nur das Klirren der Messer und Gabeln, die Frau von Ratenow auf den Teller legte und wieder hinwegnahm. „Es fliegt ein Engel durch das Gemach,“ heißt es; diesmal war es ein Todesengel, der eine kaum erschlossene schöne Blume knickte, die eben so glückselig in einem jungen Menschenherzen zu sprießen begann.

Moritz wollte endlich etwas sagen; er bezwang sich, in das junge tieferblaßte Gesicht dort drüben zu blicken.

„Nun, Else, wollen wir zur Stadt gehen? Wollen wir den Kindern Schulbücher besorgen?“ Er schob ihr plötzlich die Hand hin über den Tisch in einer unwillkürlichen Bewegung.

„Na, dann hätten wir lange genug gesessen, Kinder; gesegnete Mahlzeit!“ Frau von Ratenow erhob sich und Else ging hinaus; sie wollte ihre Sachen holen, sagte sie mit tonloser Stimme.

„Um Gotteswillen, das arme Kind!“ weinte Tante Lott. „Sie liebt ihn, sie lieben sich Beide.“

„Der Bernardi ist ein anständiger Mann,“ erklärte Frau von Ratenow. „Ich sage Dir, weine nicht, Lott,“ fuhr sie fort, „ich habe lange gewußt, daß es so kommt, aber eine alte Frau, wie ich, hat ja überlebte Ansichten – nun ist’s so weit.“

„Guten Morgen!“ rief Frieda, „ich mache Toilette. – Schade, daß Bernardi fortgeht, unsere schönen Musikabende!“ Sie verschwand im Nebenzimmer. Moritz hörte, wie sie dort sang und kosend mit ihrem Söhnchen sprach.

„Moritz,“ sagte Frau von Ratenow, „beim Goldschmied Thomas im Schaufenster liegt ein kleines Emailarmband; Else hat sich vor ein paar Tagen so sehr darüber gefreut; kaufe es, verlege das Geld einmal, ich geb’s Dir wieder nachher. Na, guten Morgen.“

„Bitte, geh hinauf, Tante Lott, sieh nach dem Mädchen,“ bat Moritz in förmlich nervöser Hast.

„Ist denn Alles vorbei nun?“ fragte die kleine weinende Dame, „Alles?“

„Aber, bestes Tantchen, es ist doch nun nicht anders!“

Sie wandte sich ab und trocknete die Augen; dann stieg sie langsam die Treppen hinan.

Else saß am Fenster und schaute in den Garten; der Schnee war von den Bäumen abgethaut und schwarz und feucht bogen sich die Aeste im Winde. Der Himmel hatte sich grau bezogen, ein feiner Regen stiebte hernieder und nahm die Aussicht in das Land hinein. Tante Lott machte sich am Kachelofen zu schaffen, das Mädchen durfte ja nicht sehen, daß sie weinte, und sie nahm das Staubtuch und fuhr über die glänzende Politur der Möbel, auf denen doch kein Stäubchen lag; sie wollte etwas sagen, und sie wußte nicht was.

Die Thür zu dem Schlafzimmer des jungen Mädchens war geöffnet; die alte Dame ging in ihrer Verlegenheit auch dort hinein. Da stand das zierliche weißverhängte Bett, und das kleine Crucifix aus Perlmutter hing am Kopfende des Lagers; das hatte sie aus der Herrnhuter Gemeinde mitgebracht; im Winkel am Ofen das Puppenschränkchen mit all dem süßen Tand aus der Kinderzeit, und auf dem Tischchen unter dem Spiegel, sorglich in frisches Wasser gestellt, der halbverwelkte Veilchenstrauß von gestern. Die Uhr tickte im Nebenzimmer, sonst war’s unheimlich still.

Dann ein Thürengehen dort innen und Moritz’ Stimme, so weich, als spräche er mit einem Kinde: „Else! Else! Wie siehst Du aus! Was fehlt Dir denn?“

„Mir? Gar nichts, Moritz.“

„Du bist unsere gute vernünftige Deern, Else.“

Sie fuhr vom Stuhl empor. „Sage nichts! Sei ruhig, Onkel Moritz!“ rief sie und ging an Tante Lott vorüber, die, eben wieder hereingetreten, beide Hände nach ihr ausstreckte, und schloß die Thür ihres Zimmers hinter sich zu.

Er wandte sich zum Fenster. „Wie mich das dauert, Tante Lott! – Dort unten geht sie,“ bemerkte er nach einer Weile, „sie ist im Hut und Mantel; ich hätte sie nicht so allein fort lassen sollen. Wo will sie hin, Tante Lott, sie biegt links ab durch den Garten?“

„Da geht sie immer nach dem Kirchhof, Moritz; es ist näher, weißt Du; sie nimmt den kleinen Weg an der Gertrauden-Capelle vorüber.“

Sie ging in der That dorthin. Einen klaren Willen hatte sie augenblicklich kaum. Der Schnee war schon sehr weich und das Wandern mühsam; sie war so müde mit einem Male, so furchtbar müde. Nicht weit von dem Eingange des Friedhofes sah sie Annie Cramm daherkommen. Die junge Dame trug die Schlittschuhe über den Arm und schien es sehr eilig zu haben; nun kam sie über den Fahrdamm in ihrem eleganten braunen Eiscostüm.

„Guten Morgen, Else; wie ist’s bekommen?“ Es war ein forschender Blick, der unter dem Schleier hervor auf das blasse Mädchengesicht fiel.

„Ich danke, Annie, gut,“ erwiderte sie.

„Willst Du auf den Kirchhof? Herr Gott, welch elegische Gedanken in aller Morgenfrühe nach solch lustigem Fest!“

Else nickte nur.

„Ich komme noch bis zur Pforte mit, Else, wenn Du erlaubst. Du weißt doch, daß Du eine ganz berühmte Persönlichkeit geworden bist über Nacht,“ plauderte sie im Gehen. „Der Papa kam vorhin aus der Weinstube, und denke nur, er erzählte als größte Neuigkeit – ich hätte mich halb todt lachen können – Bernardi habe Deinetwegen mit Lieutenant P. getauscht, weil er sich einen Korb geholt bei Deiner Tante oder bei Dir, was weiß ich’s! Ich sagte gleich: so ein Unsinn – Bernardi! Nun, Du weißt ja auch, Else, und nimmst mir das nicht übel, er kann doch einmal kein armes Mädchen heirathen.“

So trostlos und weh sahen die zwei braunen Mädchenaugen in diesem Moment die Sprecherin an, daß diese erschreckt stillschwieg und ihre Schlittschuhe von der linken Hand in die rechte nahm.

„Na adieu, Else,“ sagte sie endlich. „Ich komme vielleicht Nachmittags zu Euch herunter. Grüße Frau von Ratenow!“

Nun stand sie an dem Grabe und starrte es an; es war so kalt und stumm, es war eben nur ein Grab, todt, was drunter lag. Kein Mensch auf dem Kirchhofe, nur ein kleines vorwitziges Rothkehlchen saß da und schaute sie an mit den runden neugierigen Aeuglein. So furchtbar schwer hatte sie die Bedeutung dieses Grabes nie empfunden wie in dieser Stunde, es wollte das andächtige Gefühl nicht kommen, das sie sonst immer ergriff, wenn sie hier weilte. „Warum lebe ich überhaupt, warum haben sie mich damals nicht gleich mit hier hineingelegt!“ so schrie es auf in ihrer Seele.

„Sie werden sich hier erkälten, Fraulein,“ sagte der alte Todtengräber, der, die Hände in den Taschen, auf großen Holzpantoffeln langsam daher kam. „Zu sehen ist ja doch nichts jetzt, Fräulein; aber im Frühjahr wird’s hübsch hier, da kommen die blauen Krokus hoch, die Sie gepflanzt haben.“

Sie ging wieder und bog in die Stadt ein; da war ja noch der alte mürrische Papa, und er war krank; sie hatte es ganz vergessen über die letzten Stunden, diese schweren Stunden. Auf der Straße kam ihr Lieutenant Rost entgegen; als er sie erblickte, stutzte er, sie sah so blaß aus und sie dankte so abwesend. Einen Moment blieb er stehen und schaute der schlanken Mädchengestalt nach, dann ging er, leise pfeifend, weiter; er pfiff immer, wenn ihn etwas peinlich berührte.

„Gut, daß Du kommst, Elschen! Ach, der Papa, der Papa!“ flüsterte die Siethmann dem jungen Mädchen auf dem Flur zu. „Es ist kein Fertigwerden mit ihm seit gestern, wo der Bote den großen Schreibebrief brachte; und vorhin hat sich gar noch der Bennewitzer Herr anmelden lassen, und nun ist er ganz wüthig.“

Else trat ein in das Zimmer zu dem alten Mann. Er saß im Lehnstuhl am Fenster, die Pfeife lag auf dem Tische und seine Hände hielten einen zerknitterten Brief.

„Da kommst Du endlich einmal, Else; ich kann verderben und sterben hier; und Deinetwegen habe ich doch nur den Aerger mit dieser verfl ..... Geschichte.“

Sie hatte kein Wort der Erwiderung auf den ungerechten Vorwurf. „Ich bleibe bei Dir, Papa, wenn es Dir lieb ist,“ sagte sie nach einer Pause.

„Nein! Das will ich gar nicht; Du weißt, daß das nicht geht. Aber sprechen muß ich mit Dir, Du mußt es doch wissen, [107] daß es kein Recht mehr giebt, daß sie mir gestern den Bettel in’s Haus zurückgebracht haben, weil – na, weil eben ich es bin; wenn der Bennewitzer ich wäre und ich er, so fiele das Butterbrod natürlich nicht wieder auf die fette Seite.“

Else schwieg; ihr that der Kopf so weh, und es war ja auch so gleichgültig, was nun noch kam im Leben.

„Aber der Teufel soll mich holen, lasse ich die Karre so stecken; ich gehe weiter, und wenn ich bis ans Reichsgericht gehen muß und dabei verhungern sollte! Und was meinst Du,“ fuhr er fort und schlug mit der geballten Hand auf den Tisch, „da läßt mir dieser Mensch, der kein Jota Recht mehr hat wie ich, noch einmal ein Almosen anbieten und läßt mir sagen, er würde heute noch selbst erscheinen bei mir! Hast Du je so etwas für möglich gehalten? Er soll nur kommen, die Siethmann soll ihn nur hereinlassen, ich bin gerade in der rechten Stimmung.“

Ach, war es denn nicht entsetzlich trostlos und öde in der Welt? In der Welt, wo Alles sich nur dreht um den Besitz; in der Welt, wo selbst das edelste und reinste Gefühl des Menschenherzens den erbärmlichsten Interessen weichen muß? Es ekelte dem Mädchen vor dem Reichthum, vor der Macht des Geldes; ihr Glaube, ihre Liebe, ihre Ideale, sie lagen in den Staub getreten – und so sollte sie leben? Sie fuhr mit beiden Händen an die Schläfen, als der alte Mann wieder begann zu schelten.

„Papa, laß doch!“ bat sie. „Es ist ja ganz gleichgültig – ich brauche nichts.“

Sie schwiegen Beide. Else stand am Ofen und sah in das unwohnliche verräucherte Zimmer; draußen tröpfelte das Schneewasser eintönig in der Dachrinne und dann und wann scholl ein Laut von der Straße herauf. Jetzt Schritte, die Hausthür wurde aufgemacht und die Schritte kamen die Treppe herauf. Sie verließ das Zimmer.

„Bleiben Sie unten, Herr von Hegebach,“ bat sie leise und bog sich über das Geländer der Treppe.

„Warum? Ich muß meinen Vetter sprechen.“

„Papa ist so aufgeregt,“ klang es zurück.

„Sie sehen bleich aus, gnädiges Fräulein, beirrt es Sie, wenn ich –?“

„Papm ist krank, glaube ich,“ wandte Else ein.

„Kann ich mit Ihnen reden, gnädiges Fräulein?“

„Mit mir? O ja – aber –“

„Wo?“ ergänzte er.

„In der That – ich wüßte nicht –“

Die Siethmann kam herzu und schloß eine Thür auf. „Es ist ganz ordentlich und auch nicht zu kalt, Elschen.“

Es war eine schmale Kammer, in der sie nun standen; im Hintergrunde der Aepfelvorrath der alten Frau, eine Truhe, mit grellbunten Blumen bemalt, und ein Kleiderschrank, dazu zwei Spinnräder und eine Haspel, und über dem Ganzen lag der Duft des Obstes. Der letzte fahle Abendschein brach durch das kleine Fenster und beleuchtete das vornehme Gesicht des Bennewitzer Hegebach.

„Ich komme, um noch einmal mit dem Papa zu sprechen; er macht sich doch nur unnütze Aufregungen und Kosten, gnädiges Fräulein; seien Sie überzeugt, daß er keinen Erfolg haben wird von einem erneuten Vorgehen, und daß ich es tief beklage, ihn –“

„Ich habe gar keinen Einstnß auf Papa,. Herr von Hegebach,“ antwortete Else.

„Das thut mir leid! Aber Sie können ihm doch vielleicht sagen, daß ich noch immer bereit bin, meinen damaligen Vorschlag aufrecht zu erhalten.“

„Papa nimmt kein Geld geschenkt,“ klang es kühl zurück.

„Aber warum fassen Sie das so auf?“ fragte er, ebenfalls kühler werdend. „Ich biete ihm ja nur die Zinsen eines Capitals an, das ich nicht aus dem Gesammtbesitz herausziehen darf.“

„Ich verstehe davon nichts, mein Herr!“ war die Antwort.

„Sie sollten trotzdem meine Absicht bei Ihrem Herrn Papa vertreten, in seinem und in Ihrem Interesse, liebe Nichte.“

„In Papas Interesse? Er will für sich nichts. Und ich, ich danke Ihnen sehr.“

„So sprechen nur Mädchen in Ihrem Alter, die noch nicht wissen, was es heißt –“

„Kein Geld zu haben – arm zu sein?“ unterbrach ihn fragend das junge Mädchen, und die ganze Bitterkeit ihrer Seele drängte sich auf die zitternden Lippen. „Ich weiß es, Herr von Hegebach, man lernt es ja bald im Leben! Wenn Gott gerecht wäre, er erschaffte keine armen Mädchen, oder er ließe sie wenigstens gleich gefühllos und ohne Herz zur Welt kommen!“

Er war unwillkürlich zurückgetreten und starrte auf den kleinen schmerzverzogenen Mund, der diese Worte eben ausgesprochen.

„Woher kommt diese Bitterkeit?“ fragte er endlich; „andere Mädchen in Ihrem Alter weinen höchstens, wenn ihnen eine Enttäuschung bereitet wird.“

„Ich habe keinen Grund zum Weinen,“ erwiderte sie kurz.

„Ich möchte nicht so fortgehen, Else von Hegebach,“ begann er nach einer Pause, „es ist mir, als thäte ich unrecht, ließe ich Sie in der bitteren Stimmung zurück. Versprechen Sie mir wenigstens, es noch einmal in Erwägung zu ziehen, was ich vorhin sagte; es ist kein Almosen, es ist ein Recht, welches Ihnen zusteht.“

„Ich glaube nicht, daß Papa –“

„Aber Sie doch!“

„Ich? O, ich habe mein Gouvernanten–Examen gemacht!“ Es war wieder der alte, bittere Ton. Fast höhnisch klang es.

„Sie haben den Starrkopf des Papas,“ sagte er, nach dem Hut greifend. „An wen muß ich mich wenden, der etwas Macht über Sie besitzt?“

„Ich fürchte, Sie suchen vergebens nach einer solchen Persönlichkeit, Herr von Hegebach.“

„Adieu, gnädiges Fräulein!“ – Sie neigte leicht den Kopf, und er ging.

Als das Mädchen allein war, lehnte sie die Stirn gegen die getünchte Wand; wie ein Stöhnen klang es durch die kleine Kammer, und wie ein Sturm schüttelte es den schlanken Körper.

„Wer war da?“ fragte der alte Herr verdrießlich, als sie wieder zu ihm eintrat.

„Der Bennewitzer, Papa.“

„Und Du hast ihn nicht zu mir gelassen?“

„Ich sagte ihm, Du seiest nicht wohl; er wollte Dir auch nur noch einmal die Jahresrente anbieten.“

„Hole ihn der – –,“ brauste der alte Herr auf; „es ist der sicherste Beweis, daß er in schlechten Schuhen steht.“

„Soll ich bei Dir bleiben, Papa? Willst Du noch Thee?“ fragte sie.

„Nein! Ich gehe zu Bette, mir ist nicht ganz recht.“

„Laß mich doch hier!“ Sie war im Dunkeln ganz nahe zu ihm getreten; nun lagen ihre Hände auf seiner Schulter.

„Ei was, Else! Sieh mal, was willst Du hier?“ Es klang fast sanft.

„Ich denke manchmal, ich gehöre zu Dir, Papa.“

„Ja, ja! Aber dann müßte ich nicht eben ein Bettelmann sein, Kind.“

„Ob es nicht dennoch anginge, Papa?“

Sie erhielt keine Antwort. „Da sieh mal, Else,“ sagte er endlich, „der Bennewitzer hat nicht Kind noch Kegel, und wenn es gerecht zuginge, so müßtest Du das Alles einst bekommen. Ja, aber eben weil Du ein Mädchen bist, – es steht ja expreß in dem niederträchtigen Testament: Töchter sind von der Erbfolge definitiv ausgeschlossen.“

Sie knieete plötzlich neben ihm und legte ihren Kopf auf seine Hand.

„Und,“ fuhr er fort, „das wurmt mich noch alle Tage, daß Du kein Bub bist – nicht um meinetwegen, nein, um Deinetwillen. Deine Mutter schrie auf vor Schreck, als man ihr sagte, Du seiest ein Mädchen; wir hatten gemeint, Du müßtest absolut ein Bursch sein. Ihr letztes Wort war noch: ‚Ach, ein Mädchen! Ein armes kleines Mädchen!‘ Na ja, es ist nun so; Du mußt halt sehen, wie Du durchkommst, Kind. Aber versprich mir mal eins – wenn ich todt bin – – gethan habe ich freilich nichts, daß Du mich arg lieb haben könntest; alle anderen Menschen thaten mehr für Dich – die Ratenow und der Moritz – aber man kann sich seinen Vater ja nicht aussuchen auf der Welt, Else.“

„Nein, Papa, und ich kann ja auch nichts dafür, daß ich ein armes Mädchen bin,“ sagte sie kindlich, und zwei große Thränen rollten auf die Hand des alten Mannes.

„Nun, weine nur nicht, Kind, weine nur nicht!“ Er war schon wieder nervös. „Du mußt auch gehen, Else, es wird schon so finster.“

[110] Sie erhob sich und suchte nach Hut und Mantel. „Schlaf wohl, Papa; wenn ich Zeit habe, komme ich bald wieder. Ich fange morgen den Unterricht an, Papa.“

Wieder ging sie durch die finstere, schmutzige Straße; sonst hatte sie sich immer gefürchtet um diese Zeit, heute dachte sie nicht daran. Der Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die lange Allee, und der feine Regen drang durch den Schleier und kühlte Wangen und Augen.

Sie schritt so langsam, als wäre es ein Maiabend. Dort unten bog plötzlich ein Wagen aus dem Thor der Burg und fuhr in raschem Tempo an ihr vorüber – es war des Bennewitzers Fuhrwerk. Er hatte also jedenfalls Tante Ratenow einen Besuch gemacht; vielleicht um in ihr die Verbündete zu finden.

„Könnt’ ich nur sterben, so wäre mir wohl,“ klang es ihr durch den Sinn. Sie mußte hinein in das Haus, und sie wäre doch am liebsten fortgelaufen, so weit ihre Füße sie tragen wollten.

„Fräulein, Sie möchten gleich zur alten Frau von Ratenow kommen,“ sagte der Diener im Hausflur. Sie gab Hut und Mantel ab und ging hinein.

Frau von Ratenow saß auf dem Sopha; eine Flasche mit zwei Gläsern stand auf dem Tisch und der Duft einer feinen Cigarre schwebte noch in der Luft. „Wie geht es Deinem Vater?“ fragte sie und winkte dem Mädchen, sich zu setzen.

„Ich danke, es ging so leidlich, Tante.“

„Du siehst blaß aus; das macht das Tanzen, Else.“

„Ja, Tante.“

„Sieh mal, dort kommt das Blondmäuschen,“ sagte die alte Dame und lachte dem zierlichen Mädchen zu, das eben feierlich und mit einem Ausdruck von Wichtigkeit durch das Zimmer auf Else zuschritt. „Von der Großmama, Tante!“ flüsterte es und legte dem jungen Mädchen einen kleinen schweren Gegenstand in den Schooß, um dann eilig wieder in sein Versteck zu laufen. Es war ein schlichter schwarzer Emailreifen, den Else in der Hand hielt.

„Du bist so gut, liebe Tante,“ sagte sie, und blickte sie an mit den schönen braunen Augen; es waren keine Kinderaugen mehr seit heute früh; und sie küßte die dargebotene Hand. „Ich werde es zum Andenken an Dich tragen.“

„Ich wollte Dich bitten darum, Else. Und nun geh. – Der Bennewitzer läßt sich Dir übrigens empfehlen.“

In ihrem Stübchen legte sie hastig den Reifen hin; sie wollte kein Mitleid, sie könnte es nicht ertragen, meinte sie. Als ob ein bischen Tand und Schmuck ihr das Herzeleid und die aufschreiende Sehnsucht nehmen könnte! Sie wäre gern allein gewesen, aber dann würden sie denken, sie weine um ihn, und sie wollte doch nicht eine Thräne vergießen, darum nicht eine.

Aber es ging doch nicht! Ein süßer Duft hauchte sie plötzlich an, ein Duft, der noch gestern berauschend um sie geschwebt. Dort standen die Veilchen, seine Veilchen, und es war, als sprächen sie mit seiner Stimme: „Das Glück – ist dieser Augenblick nicht das Glück?“ Sie schluchzte plötzlich laut auf, es klang wie ein Schmerzensschrei, und im nächsten Augenblick öffnete sich die Stubenthür und Tante Lott hielt das bebende Mädchen im Arm.

Tante Lott wußte ja Alles, sie durfte auch sehen, daß ihr Herz zerrissen war, ganz zerrissen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 8, S. 125–128

[125] Etwa vierzehn Tage waren vergangen, als Tante Lott eines Morgens die Treppe hinabstieg und nach Moritz fragte. Er sei bei der gnädigen Frau, berichtete der Diener, und die alte Dame durchschritt nun den blauen Salon Frieda’s und fragte, an der Portière stehen bleibend:

„Störe ich nicht, Kinderchen?“

„Immer herein, Tante Lott!“ rief Moritz.

Frieda saß am Schreibtische. „Einen Augenblick, Tante,“ bat sie, und sie las noch einmal einen zierlichen wappengeschmückten Briefbogen durch:

 „Meine liebste Lilli!

Nur in aller Eile ein paar Worte, damit Du au fait bist wegen meiner Balltoilette für Berlin, da wir ja doch jedenfalls viel neben einander sein werden. Ich habe mir bei Gerson ein weißes Atlascostüm bestellt mit Silberstickerei, die Corsage aus Drap d’argent, und will meine Brillanten dazu tragen statt Blumen; ich denke, es wird distinguirt aussehen. – Mama und Moritz bestehen darauf, daß Else, die neuerdings mehr als langweilig geworden ist (à cause de Monsieur Bernardi), mitkommt. Mama will sie partout in ein rosa Seidenfähnchen stecken; ich habe nachgerade diesen Elisabeth-Cultus satt und werde Moritz meine Meinung gründlich sagen. Ich bitte Dich herzlich, Lilli, nimm niemals ein junges Mädchen in Dein Haus, die quasi Familienrechte hat, es ist mehr als gräßlich, besonders wenn der Hausherr sich so sehr verpflichtet fühlt, die väterliche Vorsehung und nebenbei den Ritter zu spielen, wie Moritz. Lange hält meine Geduld nicht mehr vor.

Grüße die Eltern.   Auf Wiedersehen.

  Deine Schwester Frieda.

NB. Der Bennewitzer kommt merkwürdig oft jetzt, ich traue meiner Schwiegermutter nicht in diesem Punkte; sie sagt, Else’s Vaters wegen. Es giebt da ein altes Sprüchwort, das ich aber nicht hier hin schreiben will.   F.“

„So, Tantchen. Was giebt’s denn?“ fragte sie, nachdem sie den Brief adressirt und geschlossen. Und sie trat zu einem reizenden kleinen Möbel, zog die sämmtlichen Schubfächer auf und schickte sich an, eine Revue abzuhalten über ihre Schmucksachen. Sie war im hellblauen Schlafrock und auf dem üppigen schwarzen Haar saß eine Spitzenrosette mit blauer Schleife.

„Ach Gott,“ begann Tante Lott, sich zu Moritz wendend, der regungslos am Kamin saß im grauen Flauschrock und Stulpenstiefeln, wie er vom Felde gekommen. „Ach Gott, Moritz, es drückt mir noch das Herz ab, die Else – sie klagt nicht, sie sagt nichts, aber sie schläft keine Nacht, sie genießt nichts und sie wird so mager; willst Du mir nicht einmal den Arzt heraufschicken, wenn er kommt? Ich fürchte, sie grämt sich krank um diesen Bernardi.“

„Ist denn die Komödie noch nicht zu Ende?“ fragte die junge Frau. „Was wollt Ihr denn? Else scheint höchst vergnügt zu sein. Daß sie noch ein bischen Scheu hat, auszugehen, ist natürlich, sie war acht Tage lang hier das Stadtgespräch.“

„Ja, sie nimmt sich sehr zusammen, Frieda,“ sagte die alte Dame und nickte ernsthaft mit dem Kopfe, „aber –“

„Nun, Ihr thut ja auch alles in Hülle und Fülle, um sie zu trösten,“ fuhr Frieda gereizt fort und legte etwas unsanft eine kostbare Gemme in den Kasten. „Ob mir noch etwas paßt, darnach fragt kein Mensch mehr, immer nur Else. So macht es die Mama, so machen es die Kinder und so macht es Moritz; ich darf nicht einmal mehr sprechen, wie ich will und was ich will, und nächstens sage ich bei Tisch kein Wort mehr.“

Tante Lott sah förmlich entsetzt Moritz an, der so gleichmüthig in dem Sessel lehnte.

„Siehst Du, Tante, Frieda weiß, daß es ihr so gut steht, wenn sie ein bischen schmollt. Aber das darfst Du mir nicht anthun, Kind, diese häßliche Laune mit nach Berlin zu nehmen, denn –“

„Wenn Du darauf bestehst, daß Else mitkommt, so bleibe ich mitsammt meiner häßlichen Laune hier,“ unterbrach sie.

„Du mußt das mit Mutter ausmachen,“ entgegnete er ruhig; „sie hat gewünscht, daß Else uns begleitet.“

„Ich kann dann nicht mit, der Kinder wegen,“ beharrte die junge Frau. „Ich sehe überhaupt nicht ein, wozu ich eine Erzieherin habe, wenn ich nicht einmal beruhigt aus dem Hause gehen darf.“

„Bis jetzt hat Dir ja zur Beaufsichtigung immer die alte Kinderfrau genügt. Aber wie Du willst, Frieda; ich habe mich noch nie mit Dir gezankt, wenn es Dir beliebte, Dein Trotzköpfchen aufzusetzen, Du weißt es. Heute ist der letzte Tag, an dem Else als Erzieherin fungirt; ich werde noch in dieser Stunde Schritte thun, eine andere Dame zu engagiren.“

Frieda schwieg und schloß mit unendlicher Langsamkeit ein Schubfach nach dem andern.

[126] „Ich bitte nur um die eine Rücksicht, Frieda,“ begann er nochmals, „laß das Mädchen nicht ahnen, weshalb dieses Arrangement getroffen wird. Das Weitere findet sich.“

Er hatte sich erhoben, nahm Mütze und Reitpeitsche vom nächsten Stuhl und schritt hinaus. In demselben Moment schlug die junge Frau die Hände vor das Gesicht und brach in Weinen aus.

„O Tante Lott, ich bin so namenlos unglücklich!“

Die gute alte Dame stand dieser Scene verständnißlos gegenüber. „Um Gotteswillen, Frieda, was ist Dir?“

„Er liebt mich nicht mehr!“ schluchzte die schöne Frau und warf sich auf den nächsten Fauteuil; „ich weiß es zu genau, er liebt mich nicht mehr!“

„Herr Gott, Du bist doch nicht eifer – – ?“ Das ganze Wort wollte nicht über die Lippen der erschrockenen alten Jungfer.

„Und nun geht er zu Mama – zu Mama, die mich immer wie ein unvernünftiges Kind behandelt!“

Sie fuhr plötzlich empor; die blauen Vorhänge hatten sich getheilt und Frau von Ratenow trat in ihrer ganzen Stattlichkeit über die Schwelle des Zimmers.

„Nun, Frieda? Ich höre eben von Moritz, daß Dir nicht ganz wohl ist,“ begann sie, sich neben die Weinende setzend.

Frieda stammelte etwas von Kopfschmerzen. „Natürlich!“ Die alte Frau faßte nach ihrer Hand. „Es, wird Dir zu viel, den ganzen Tag mit dem Kindertrubel; ich kenne das ja, heutzutage sind die Nerven Mode. Ich will Dir aber einen Vorschlag machen: Du schickst die kleinen Mädchen in die Schule, es ist dann eine himmlische Ruhe im Hause, mein Töchterchen, und Du brauchst Dich nicht mehr zu ärgern über eine Erzieherin. Wie?“

Die junge Frau schnellte von ihrem Sessel aus der liegenden Stellung empor, aber sie kam nicht zum Antworten.

„Else Hegebach bleibt meine Gesellschafterin im Hause, liebes Kind,“, sprach die alte Dame weiter mit erhobener Stimme, „und als solche werde ich sie zu schützen wissen vor jeder Kränkung, Frieda!“

Frieda war ein wenig blaß geworden. „So habe ich es nicht gemeint!“ sagte sie, schon wieder weinend.

„Wo ist Else?“ fragte die Schwiegermutter.

„Im Kinderzimmer; sie ertheilt eben Rechenstunde,“ war die im leisen Tone gegebene Antwort.

„Ich hoffe, Euch heute Abend zum Thee drüben zu sehen,“ fuhr Frau von Ratenow fort. „Tante Lott, bitte, pünktlich! Der Bennewitzer hat sich angemeldet.“

„Das dritte Mal seit vierzehn Tagen!“ bemerkte Frieda und erhob sich. „Früher kam er nie, oder doch sehr selten.“

„Allerdings! Er hatte jahrelang eine kränkliche Frau und bis jetzt noch tiefe Trauer. – Habe ich das Vergnügen, Euch heute Abend zu sehen?“ fragte sie noch einmal.

„Ich bedaure lebhaft, Mamachen; wir sind zum Thee bei Frau von Z.“

„Else auch?“

„Sie war gebeten, sagte aber ab.“

„Na, hoffentlich nicht bei mir!“ Und die alte Dame nickte äußerst freundlich ihrer Schwiegertochter zu. „Adieu, mein süßes Kind, schicke die Kleinen ein bischen, wenn es Dir recht ist.“

„Siehst Du, Tantchen, so ist die Mama immer!“ klagte die junge Frau. „Jeder Mensch wird mir doch Recht geben darin: wenn Else es einmal unternommen hat, die Kinder zu erziehen, soll sie es auch ganz thun; ich bin die Letzte, die etwas Uebermäßiges von ihr verlangen würde. Wenn die Geduld einmal reißt, es ist kein Wunder. Ich denke nun eben, die kleinen Mädchen lernen, da kommt Moritz und sagt: ‚Elschen, wir gehen zum Subscriptionsball nach Berlin, Mutter will Dir ein Kleid schenken!‘ Wo soll da Andacht und Ernst herkommen?“

„Ich glaube, Else wollte Eure Freundlichkeit gar nicht annehmen, Frieda,“ vertheidigte die geängstigte alte Dame ihren Schützling. Sie mußte aber noch ein langes Lamento anhören, Frieda war ja so sehr in allen ihren Rechten gekränkt; sie bekam es sogar fertig, bei Tische ihr Wort wahr zu machen und nicht eine Silbe zu sprechen.

So war mit einem Male das Gewitter heraufgezogen, das schon lange an Moritz’ Ehehimmel gedroht; eine schwüle Luft wehte im Hause trotz des klaren Frostwetters draußen. Else merkte es gar nicht; sie hatte zur Rechten und zur Linken je eins der kleinen Mädchen, und sie war hinreichend beschäftigt, die Fragen der Kinder zu beantworten. Moritz hatte anfänglich nicht gewollt, daß die Kinder mit am Tische säßen, aber Else hatte gemeint, das müsse so sein, und so geschah es denn auch zum größten Jubel der Kleinen.

Ja freilich, sie sah elend aus, und still war sie auch; das machte das Kämpfen mit einem stolzen, gekränkten Herzen, das ewige stumme Fragen „warum ich?“ Das machten die schlaflosen Nächte und die peinigende Sehnsucht nach den verlorenen goldenen Tagen; sie kam sich vor wie eine Paria unter den Anderen, trostlos und ausgestoßen, und nur, weil sie – arm! Nicht einmal weinen konnte sie mit den braunen Augen, wie es im Liede heißt vom „armen Mägdelein“. Ach ja, es gab noch Vieles in der Welt, was das Leben lebenswerth macht; Hunderte und aber Hunderte theilten ihr Loos und waren schließlich ruhig und zufrieden bei harter Arbeit – ohne Glück. Aber sie Alle waren einen Weg gegangen durch Nesseln und Dornen, um so weit zu kommen; ein junges krankes, glücksbedürftiges Herz läßt sich nicht in ein paar Tagen in den Schlaf des Vergessens wiegen, dazu gehören Jahre, lange Jahre!

Abends war das Zimmer der alten Frau von Ratenow das gemüthlichste im ganzen Hause; der Kachelofen bullerte und fauchte in allen Tonarten, die schweren Gardinen hingen zusammengezogen vor den Fenstern, jedes Zuglüftchen abhaltend, und legten sich noch in stolzer Schleppe auf den dicken weichen Teppich; der Lampenschein spiegelte sich in Silber und Krystall auf schneeweißem Damast-Tischtuch, und Tante Lott und die Bewohnerin saßen auf dem Sopha; Letztere den weißen Strickstrumpf in den Händen. Else, mit einer feinen Arbeit beschäftigt, saß neben dem „stummen Diener“, auf welchem der silberne Kessel dampfte; sie war im dunklen Hauskleide und trug ein zierlich gesticktes Schürzchen. Der Bennewitzer wurde erwartet.

Else waren diese Stunden mit dem alten Herrn nahezu entsetzlich, sie hatte zu gemischte Gefühle dabei. Seitdem der Vater neulich zu ihr die ersten freundlichen Worte gesprochen, stand ihr Kindesherz in voller Gluth für den mürrischen Mann. Sie wußte, daß er nicht recht handelte dem Vetter gegenüber, aber er hatte gesagt, er thue es ihretwegen, und das hob Alles auf in den Augen des Mädchens, seine Launen, seinen Eigensinn, sein geringes Interesse für sie. Er war längst wieder genau so unzugänglich ihr gegenüber wie früher, aber sie hatte doch einmal einen Einblick in sein verbittertes Gemüth gethan, nun war ihr kein Wort zu hart, keine Stimmung zu finster, es lag ja nur die Schlacke des Kummers und der Einsamkeit über dem Golde im Herzen des alten Mannes; er war ja doch ihr Papa, der einzige Mensch, an dem sie ein Recht hatte, ein heiliges Anrecht.

Der Bennewitzer war ihr peinlich darum; er sprach bis jetzt zwar nie während seiner Besuche in der Burg über den Vater, aber trotzdem – sie wußte, wie er über ihn dachte und wie Tante Ratenow über ihn dachte, und das that ihr unsäglich weh. Tante Ratenow lobte überdies den Bennewitzer so ungemein; Tante Ratenow hatte immer so stark ausgesprochene Sympathien und Antipathien, und man durfte nichts dagegen einwenden, die alte Dame konnte dann so laut ihre Stimme erheben. „Gut oder Schlecht, dazwischen giebt’s nichts!“ pflegte sie zu sagen. Etwas Halbes existirte nicht für sie, wie es auch ihrem ganzen Charakter fremd war. Bernardi’s Name war nie wieder über ihre Lippen gekommen, die Sache war abgethan, ein für allemal; je weniger man davon sprach, desto besser! Eine Wunde müsse sich ausbluten, meinte sie, aber das könne stillschweigend geschehen, ohne daß die Leute etwas davon merkten.

„Else,“ begann sie mit ihrer tiefen Stimme – sie schob die Brille zurück und ließ das Zeitungsblatt sinken – „Du kannst mir das mal vorlesen; mit meinen Augen wird es täglich schlechter. Ich weiß nicht, Lottchen, wie Du Deine so gut conservirt hast bei dem ewigen Lesen. Es ist mir ein wahrer Trost, daß Moritz sich meinen Bitten gefügt hat und den Unterricht der Kinder Dir abnahm, Else; ich bin wirklich weder im Stande, Morgens die Zeitung zu lesen, noch einen Brief zu schreiben ohne gründliche Krakelfüße.“

Else ergriff das Blatt. „Wenn ich nur die Beruhigung hätte, liebe Tante, daß Moritz und Frieda nicht unzufrieden mit meinen Leistungen als Lehrerin waren.“

[127] „I, so fragt man die Leute aus, wenn man was Schönes hören will,“ erwiderte die alte Dame. „Nein, nein, es ist so, ich habe Moritz darum gebeten! Was meinst Du, was daraus Alles entstehen kann, wenn man nicht ordentlich mehr sieht? Dort kommt übrigens der Bennewitzer,“ unterbrach sie sich.

Ueber den Hof war ein Wagen gerasselt und hielt nun vor der Hausthür still; man hörte Schritte im Vorflur und Frau von Ratenow erhob sich mit einer gewissen Feierlichkeit.

„Guten Abend, mein lieber Hegebach!“ rief sie, kräftig seine Hand schüttelnd, „es freut mich, daß Sie uns drei einsamen Frauenzimmern die Zeit ein wenig vertreiben wollen.“

Er küßte ritterlich die dargebotene Hand und begrüßte Tante Lott und Else. Letzterer überreichte er eine weiße Papierdüte.

„Die Einzige, die im Glashause erblüht war,“ sagte er verbindlich. Es war eine prächtige Marschall Niel, die am graziösen Stengel schwer den wundervollen gelben Kelch neigte.

„Ich danke sehr, Herr von Hegebach!“

Sie stellte die Rose in eine kleine Vase und machte sich am Theetisch zu schaffen.

„Nichts Neues, lieber Hegebach?“ fragte Frau von Ratenow. Und damit war man im Gespräch. Die ganze Umgegend kannten sie ja Beide, und von der heutigen kamen sie auf die alte Zeit.

„Pardon, lieber Hegebach, ich bin zehn Jahre älter als Sie, gerade so alt wie Ihr Vetter, ich weiß das ganz genau.“

„Nein, Sie irren sich, Gnädigste,“ erklärte er sehr ruhig, „allerhöchstens acht Jahre sind Sie älter; als ich mich verheirathete, war ich sechsunddreißig Jahr, und Achtzehn sind seitdem verflossen. Denken Sie doch, daß mein ältester armer Junge schon Obersecundaner war.“

„Wahrhaftig, wie die Zeit vergeht, Hegebach!“

„Freilich, freilich, Else wird im Frühling Neunzehn!“ berechnete Tante Lott.

„Na, es giebt Aeltere als wir, Hegebach; Sie sind ja überhaupt noch ein junger Mann,“ meinte Frau von Ratenow.

Tante Lott warf einen Blick zu ihm hinüber; er sah vornehm, stattlich aus, auch recht gut noch – aber jung? Sie war schon lange nicht mehr jung, und viel mehr Jahre zählte sie auch nicht. Die Männer sind da einmal wieder allzusehr im Vortheil, dachte sie.

Else saß still dabei, ihre Gedanken waren so ganz wo anders. Was kümmerten sie alte längst vergangene Geschichten? Das lag Alles so weit, so unendlich weit im Duft der Vergangenheit. Eine qualvolle nervöse Unruhe bemächtigte sich ihrer wie so oft schon, sie wäre gern hinaufgegangen in ihr Stübchen, hätte sich an das Fenster gesetzt und gedacht und geträumt – es war so namenlos schwer, den traurigen sehnsüchtigen Gedanken nicht nachzugeben – nur um zu antworten, um zu hören.

„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“ fragte der Bennewitzer, und bog sich über die Lehne seines Sessels zu Else hinüber.

„Danke sehr! Ich glaube, so leidlich,“ erwiderte sie.

„Und noch nicht milder gestimmt?“ Er sprach es leiser und seine dunklen Augen senkten sich mit einem bittenden Ausdruck in die ihren.

Sie erröthete plötzlich. „Papa ändert seine Ansichten nicht über Nacht,“ sagte sie schroff und laut.

Frau von Ratenow’s Gesicht verfinsterte sich. „Else, willst Du den Tisch serviren lassen? bitte!“

Das junge Mädchen erhob sich, schritt lautlos über den weichen Teppich und verschwand im Nebenzimmer. Die Augen des Herrn von Hegebach folgten ihr; er strich langsam mit der wohlgepflegten weißen Hand über den dunklen Vollbart. Frau von Ratenow sprach von etwas Anderem, sie wollte augenscheinlich die schroffe Antwort vergessen machen. Als das junge Mädchen zurückkehrte, unterhielt man sich schon wieder lebhaft.

Herr von Hegebach war ein vorzüglicher Gesellschafter; er hatte weite Reisen gemacht, er war mit einer Menge von Leuten von Auszeichnung und Ruf verbunden. Er sprach von Lappland und vom Libanon, und er sprach gut, er hatte überall das Beste gekostet, er hatte am Nil geschwärmt und gezeichnet und am Niagara gestanden. Er war ein Mann, der das Leben kannte, von der angenehmsten Seite kannte. Und dort in dem finsteren Hause saß ein alter einsamer Mann, der nicht einmal über das Reisegeld zu verfügen hatte, um ein Bad zu besuchen zur Linderung seiner Leiden. Für einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Teplitz wäre das schon genügend gewesen, was der Vetter in Kairo für einen einzigen kostbaren Dolch verausgabt hatte.

Es waren häßliche, bitterböse Gedanken, die sich hinter Else’s weißer Stirn kreuzten. Alles, woran sie bis jetzt geglaubt, Liebe, Treue, Edelmuth, sie waren ja lächerliche veraltete Dinge. Heutzutage machte nur Eins glücklich, verlieh nur Eins Macht – Geld, Reichthum.

„Auf baldige gute Freundschaft, liebes Nichtchen!“ Der Bennewitzer hob sein Glas. Sie nahm das ihre und stieß mit ihm an.

„Ansehen dabei!“ sagte er ernsthaft.

Wieder überzog eine Purpurgluth ihr Gesicht; sie ärgerte sich über sich selbst, aber diese Augen hatten so sonderbare Blicke.

„Dableiben, Else!“ rief Frau von Ratenow, als gegen elf Uhr der Bennewitzer fortgefahren war, nicht ohne das Versprechen mitzunehmen, daß die Damen ihn bald auf Bennewitz besuchen würden.

Else kehrte zurück und setzte sich wieder. Tante Lott hatte sich schon mit dem Glockenschlage Zehn beurlaubt.

Frau von Ratenow sah ärgerlich aus und wußte doch nicht, wie sie beginnen sollte. „Du hast eine merkwürdige Art, den Bennewitzer zu behandeln, liebes Kind,“ sagte sie endlich; „es ist lächerlich, ihm eine Sache nachtragen zu wollen, die Dein Vater leichtsinniger Weise entrirt hat. Du solltest Dich zum Mindesten neutral verhalten.“

„Ich weiß, daß Herr von Hegebach vollständig in seinem Rechte ist, Tante,“ erwiderte Else und sah voll und groß die alte Dame an. „Ich trage ihm in keiner Weise etwas nach – das wäre thöricht.“

„Gut! Aber warum bist Du so – absprechend gegen ihn?“

„Ich bitte um Verzeihung, Tante –“ stotterte sie.

Frau von Ratenow erhob sich und gab ihr die Hand. „Ich weiß nicht, ob Du anders bist als Andere; – zu Denen, die schwer begreifen, gehörst Du sonst nicht. Gute Nacht, Else.“

Wie gejagt, flog das Mädchen die Stufen hinan und in ihr Zimmer. Nein, es war nicht möglich, das hatte Tante nicht sagen wollen, was ihr im Augenblick so entsetzlich durch den Sinn flog. Ja, was denn auch? – Sie lachte plötzlich, aber es war ein fast verächtliches Lachen, es klang ihr selbst fremd. Sie stand dann vor dem Spiegel und schaute ihr blasses Gesicht an. Gewiß, es war lächerlich, nur die aufgeregte Phantasie konnte ihr solche Thorheit eingeben. Nein, Tante hatte ihr gar nichts sagen wollen, es war eine ihrer gewöhnlichen Redensarten gewesen – natürlich!

„Tante Lott!“ rief sie dann leise. Es war, als fürchte sie sich vor ihren eigenen Gedanken, und sie trat in das peinlich saubere Schlafzimmer der alten Dame.

„Was denn, mein Goldkind?“ klang es verschlafen.

„Mir ist so bang, Tante!“

Und Tante Lott setzte sich, völlig munter, im Bette hoch. „Ich bin heute Abend so an Deine Mutter erinnert worden, Kind,“ begann sie; „so saßen wir immer; dort unten in Cousine Ratenow’s Salon, als Dein Vater sich um sie bewarb. Du siehst ihr so sprechend ähnlich, Else, und etwas hat doch der Bennewitzer auch von Deinem Vater, das Organ und die Handbewegung – über den Bart, weißt Du, und dann, er sah sie auch immer so still dabei an.“

Das Mädchen stand regungslos; eine unerklärliche Angst schnürte ihr fast die Kehle zu.

„Das sind nun beinahe zwanzig Jahre, und mir ist es wie heute, Else,“ fuhr die alte Dame fort in ihrer klagenden weinerlichen Redeweise, „nur daß die Ratenow viel stärker geworden ist und ich ganz weißes Haar bekommen habe; – wie doch manchmal die Vergangenheit lebendig wird! Das Lieschen, Deine Mutter, kam dann auch immer so an mein Bett, und einmal, das weiß ich ganz genau, da sagte sie auch: „Lottchen, Lottchen, mir ist so angst!“

„Tante, ich bitte Dich – ich fürchte mich!“ Die schlanke Mädchengestalt, die jetzt dicht neben dem Bette stand, schüttelte sich in nervösem Schauer.

„Dir ist nicht wohl, Else!“

„Nein; ich glaube, ich werde nächstens krank, Tante.“

„Armes Kind – das macht der Gram.“

„Ich gräme mich nicht, Tante!“

[128] „Ich weiß wohl, Kindchen; aber man thut es, ohne daß man es will. Wenn der Doctor morgen kommt, soll er Dir etwas geben, damit Du schlafen kannst; ich habe es Moritz schon gesagt. Oder denkst Du, ich merke es nicht, wenn Du in die Nacht hinein liest? Ich höre jedes Blatt umwenden. Gute Nacht, Herzenskind, schlafe! Früher konnte ich immer so lange aufbleiben, aber jetzt –“




Es waren Wochen vergangen, nun wollte es Frühling werden. Lange Zeit hatte ein häßlicher Ostwind geweht, der bei klarblauem Himmel und goldenem Sonnenscheine daher brauste und die Leute zum Spazierengehen verführte; wenn sie dann aber hinauskamen, so zauberte er ihnen Husten und Schnupfen an, daß sie sich enttäuscht zurückzogen und die Blumen bedauerten, die sich vorschnell hervorgewagt hatten. Nun aber war feuchtwarme duftende Lenzesluft gekommen, am Himmel jagten sich die grauen Wolken und Sonnenschein und Regen wechselten ab. An den Sträuchern sprangen überall die Knospen, im Burggarten war der Rasen mit Veilchen wie übersäet und auf dem Kirchhofe, auf dem Grabe, welches Else gehörte, blühten die blauen Crocus.

Sie hatte eben einen Kranz um das Kreuz geschlungen, das den Namen der Verstorbenen trug; es war heute der Sterbetag der Mutter, und der war ja auch ihr Geburtstag; ein Dornenreis in dem Lebenskranze des Mädchens, ein düsteres Band, das ihr Dasein mit dem Tode so eng verknüpfte. Sie saß da eine lange Weile auf der Steineinfassung des Grabes, und ihre Hände ordneten mechanisch an den Blättern des Kranzes, während ihre Augen über alle die Kreuze und Steine hinweg in’s Leere blickten.

Ihr Leben war zuletzt ein ewiges wortloses Kämpfen gewesen, mit sich, mit all den Anderen; sie besaß Keinen mehr, dem sie vertrauen konnte. Alle hatten sie Front gemacht gegen sie, selbst Moritz. Sie fühlte es, Moritz hatte irgend etwas gegen sie, er wich ihr förmlich aus, und Frieda war so schrecklich herzlos mitunter.

„Sie hat nie im Leben einen Kummer gehabt,“ sagte Tante Ratenow, „sie ist ein verzogenes Kind, und solchen darf man es nicht so hoch anrechnen, wie ja auch Kinderunarten einen Erwachsenen nicht beleidigen können.“

Tante Lott aber, die war plötzlich abgereist in ihr Stift. Eines Tages war sie mit verweinten Augen von Cousine Ratenow heraufgekommen und hatte ihren Koffer gepackt. Die gestrenge Cousine hatte nämlich gemeint, es sei praktischer für dieses Jahr, wenn Lott im Sommer zu Hause bleibe und jetzt ihre vorgeschriebenen acht Wochen in dem Kloster absäße. Ja, und was Tante Ratenow sagte, das mußte nun einmal geschehen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 9, S. 141–143

[141] Frieda hatte Besuch von ihrer Schwester Lili, einer kleinen brünetten Dame, nicht so hübsch wie die junge Frau; aber sie konnte so herzhaft lachen, und sie verstand es noch besser als Frieda, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen.

Frau von Ratenow behauptete, sie sei ein neumodischer Flederwisch, und es sei gut, daß sie sich mit Annie Cramm angefreundet hätte, es wäre ein ganz passendes Gespann. Aber trotz der vielen Zerstreuungen, welche die Damen vorhatten, Fräulein Lili fand sich immer zur Theestunde bei der „lieben, reizenden“ Frau von Ratenow ein; sie hatte so gern alte Damen und Herren, zu gern, und sie würde sich nie in so einen Jungen verlieben können. Die Männer so um die Fünfzig herum, die seien ihr die liebsten, und wie interessant für eine junge Frau, einen alten Mann zu haben! Es war sehr drollig, wenn sie so etwas vortrug; auch Frau von Ratenow hatte wider Willen lachen müssen:

„Er muß aber viel Geld haben, Lili, wie?“

„Natürlich, liebstes, bestes Tantchen; entweder viel Geld, oder er muß mindestens Excellenz sein, commandirender General oder dem Aehnliches.“

Und der Bennewitzer kam so unendlich oft jetzt, und Tante Ratenow war entzückter als je von ihm. „Else, er ist ein hochanständiger Charakter!“ – Und Frieda hatte stets ein süßes Lächeln für ihn und Lili schlug die Augen mit den langen Wimpern noch einmal so langsam und schwer auf, wenn sie mit ihm sprach. Es war ein förmliches Wettrennen, wenn sein mit Rappen bespannter eleganter Wagen in den Hof rollte. Tante Ratenow ging ihm würdevoll bis auf den Flur entgegen, und Frieda stand schon mit Lili auf der Treppe, und Herr von Hegebach kam allen Ernstes in Verlegenheit, weil er nicht wußte, ob er in das lauschige Boudoir der jungen Frau oder in Tante Ratenow’s ehrwürdiges Zimmer treten sollte; jedenfalls aber zog er die Gesellschaft ganz vollzählig nach, er mochte seine Schritte nach links oder rechts lenken.

Und Else stand scheinbar außerhalb dieses Kreises, und dennoch wußte sie unleugbar, daß sie immer mehr und mehr in den Mittelpunkt gedrängt wurde. Immer und immer wieder suchte sie jede Handbreit des mit Gewalt ihr abgezwungenen Terrains wieder zu gewinnen; unbewußt hingen ihre Augen wie um Erbarmen flehend an dem energischen Antlitze der Tante; immer und immer zog sich ihr junges Herz wie das eines erschreckten Kindes vor dem Blicke zweier dunkler Männeraugen zurück, und immer weiter verlor sie einen Fußbreit ihres sicheren Bodens nach dem andern.

Heute früh hatte ein herrliches Bouquet auf ihrem Geburtstagstische gestanden in Tante Ratenow’s Stube, und die große Visitenkarte daran nannte den Geber; auch ein Brief von Tante Lott, der guten alten Tante Lott, war da. Moritz hatte ihr die Hand gedrückt und eine hübsche Briefmappe aus rothem Juchten gebracht, und dann hatten die Kinder jubelnd an ihr gehangen. Lili und Frieda waren auch erschienen, Letztere mit allerhand Schleifen und sonstigem „Takelzeuge“, wie Tante Ratenow es nannte, und ein blaßblaues Schleifchen hatte die alte Dame ihr wieder zurückgegeben mit der Bemerkung, die sei wohl nur aus Versehen darunter gekommen und stamme jedenfalls aus Frieda’s Toilettentisch, wie die Nadel beweise, die noch daran stecke.

Ach, und Else war so müde; es war ihr ganz egal, ob Frieda ihre alten Sachen mit einschmuggeln wollte; sie war ja doch ein armes Mädchen, und warum sollte sie da nicht abgelegte Schleifen tragen? Sie hatte für diesen „süßen Unsinn des Lebens“, wie Moritz die kostbaren Tändeleien seiner schönen Frau zu nennen beliebte, kein Geld; es war ja am Ende nur natürlich; Frieda meinte es nicht böse. – Ach, wenn man weiter nichts von ihr verlangt hätte!

Tante Ratenow hatte ihr heute früh erzählt von ihrem Geburtstage und wie traurig das Alles gewesen, wie seit jener Zeit der Papa ein finsterer einsamer Mann geworden, und daß sie ihm gesagt: das Kind werde noch ein Segen werden für ihn, ein großer Segen.

„Und das liegt in Deiner Hand, Else!“ hatte sie hinzugefügt.

Das junge Mädchen auf dem stillen Gottesacker erhob sich plötzlich; es war wieder das eisige entsetzliche Gefühl über sie gekommen. Hastig schritt sie den Weg entlang; sie sah nicht, wie die Sonne so golden schien, wie ihre Strahlen in den Tröpfchen funkelten, die an den zarten Blättern der Sträucher zitterten – überall Frühling, überall junges Grün und lustiges Vogelgezwitscher, selbst der alte Thorthurm hatte sich ein schwankes lichtgrünes Zweiglein auf sein ehrwürdig Haupt gesteckt.

Sie hatte schier fieberglühende Wangen, als sie in das Zimmer des Vaters trat. Sie wollte sich an ihn wenden, er haßte ja den Bennewitzer, er würde ihr erlauben, unter seinen Schutz zu flüchten, wenn –. Der alte Herr hatte beide Fensterflügel geöffnet, die Zeitung lag vor ihm auf dem Tische, und neben der kalten Pfeife stand ein halbgeleertes Weinglas.

[142] „Papa, ist Dir nicht wohl?“ fragte Else.

„O ja, Kind! Nur das Athmen, der Husten – jetzt ist es schon viel besser, Du magst die Fenster wieder schließen; ich kann keine Aufregung mehr vertragen, und der Tag heute –“ Er reichte ihr die Hand hin, und einen Augenblick hielt er mit festem Drucke die schmale Hand in der seinen.

„Zieh’ nur die Gardine auch zusammen, die Sonne scheint so stechend herein, Else; und dann – vielleicht macht es Dir eine Freude; das Kästchen dort hat Deine Mutter immer auf dem Nähtische gehabt, und da hat sie alle die kleinen Jäckchen und Mützchen drin liegen, die sie für Dich nähte. Ich hab’s immer aufgehoben, Else – nimm es mit. Siehst Du, es war so nett, wenn sie davor saß; es war doch eine Lichtzeit in meinem Leben – das kommt Alles wieder an solchem Tage! Einmal, da war sie ausgegangen, um Weihnacht war es, und da sagte sie nachher, als sie wieder am Nähtische saß, und ihre braunen Augen sahen mich so lustig an: ‚Hegebach, ich habe so ein prächtiges Schaukelpferdchen gesehen beim Sattler Lehmann –‘ Ja, Else, wenn ich Dir hätt’ ein Schaukelpferd kaufen dürfen, dann wäre Alles anders!“

Das Mädchen senkte den Kopf. Immer das alte Lied!

„Und dann, Kind“ – er schob ihr das Mahagonikästchen hin mit dem einfachen Neusilberschilde oben und dem Namenszuge der todten Mutter, „dann – – ich habe die Klage gegen den Bennewitzer zurückgenommen.“

„Papa!“ Es klang wie ein Schreckensruf.

„Ja, Kind. Soll ich denn nicht? Du hast mir ja oft gesagt, ich hätte kein Recht dazu.“

„Ja, Papa, verzeihe mir –“ sie sprach es fast hoffnungslos.

„Und nun will er sich versöhnen mit mir, Else; es sollte eine Ueberraschung für Dich sein, Kind, sie wollen mich heute mit dem Wagen hinaus holen lassen, wir sollen dort zusammen essen, bei der Ratenow nämlich; aber ich, ich weiß nicht, Else, ob es geht; ich kann Aufregungen nicht mehr vertragen und, siehst Du, es ist so eine alte Antipathie, es ist gar nicht so leicht; ich weiß wohl, daß ich es Deinetwegen thun muß, aber –“

„Papa! Um Gotteswillen nicht meinetwegen!“ bat das Mädchen, erbleicht bis in die Lippen. „Wer sagte Dir das?“

„Die Ratenow, Kind, und sie hat Recht, ja sie hat Recht!“

Else sprang vom Stuhl empor, sie versuchte zu sprechen.

„Sei nicht böse, Else, daß ich es verrathen habe, ich bin doch auch wieder so froh. Siehst Du, Kind, es ist ein schreckliches Gefühl für einen Vater, der sein Kind zurücklassen soll in der Welt, ohne Alles und Jedes.“

„Lieber, lieber Papa!“ Ihr blasses Gesicht bog sich zu ihm herunter, „ich fürchte mich nicht, gewiß nicht, und Du lebst noch und Du wirst noch lange leben, und ich darf bei Dir bleiben, Papa. Ich kam mit dieser Bitte hierher, Papa.“

„Mach’ mich nicht weich, Else! Mich hat das Alles so mitgenommen und die Siethmann ist so unfreundlich und so laut, ich –“

Er stöhnte plötzlich auf und griff nach der Brust. „Diese dummen Beängstigungen – es ist ja gut, daß Alles so kommt – für Dich, Else! Du weißt gar nicht, wie es einsam und kalt und fürchterlich im Leben sein kann, sonst wärst Du nicht so muthig. Dir hängt der Himmel noch voll lauter Rosen.“

Sie schwieg wie erstarrt; sie wußte nur, daß sie nun Keinen mehr hatte, der sie verstand. In diesem Augenblicke stürzte die Siethmann in höchster Aufregung herein. Die Gnädige von der Burg und der Bennewitzer Herr kämen die Treppe herauf!

Also doch! Der alte Mann in seinem Stuhl wechselte jäh die Farbe. „Geh in’s Nebenzimmer, Else, Du brauchst nicht zu sehen, wie –“

Sie ging durch die schmale Tapetenthür in das Zimmer der Mutter und stand plötzlich der Frau von Ratenow gegenüber.

„Wir sind hierher gekommen, Else – zu Hause haben jetzt die Wände Ohren, die Lili ist überall und nirgends, und sie braucht nicht Alles zu hören. Ich weiß nicht, wie dieser Irrwisch dazu kommt, um Hegebach so herumzuscherwenzeln, es ist ja wohl Mode jetzt, den Männern die Cour zu machen.“ Und sie setzte sich in ihrem schweren schwarzseidenen Mantel auf den Stuhl am Fenster und löste sich die Hutbänder.

„Gott bewahre, ich glaube, die Siethmann hat eingeheizt!“ fügte sie dann hinzu.

Ja, es war eine Luft zum Ersticken hier, das meinte auch das blasse, mühsam athmende Mädchen dort. Von nebenan klang die sonore Stimme des Bennewitzer so versöhnend, so mild, und die alte Dame hier spielte so gelassen auf der Fensterbank mit der großen wohlgepflegten Hand. Es lag ein Ausdruck hoher Befriedigung auf ihrem Gesichte.

„Guck’, Else,“ sagte sie, „in dieser Sopha-Ecke lagst Du vor neunzehn Jahren und schriest ganz erbärmlich. Ja, wenn man Alles vorher wissen könnte, ich hätte Dich nicht so schweren Herzens in die Arme genommen.“

„Was meinst Du, Tante?“

„Ja, meine Deern, es ist wunderlich in der Welt, der liebe Gott hat so seine Wege im Zickzack, es kommt Alles wieder in’s Gleiche. Was ich meine? Ei, geh doch, Else, Du bist kein Mädchen von gewöhnlichem Schlage, die bis zuletzt zimperlich thut; ich weiß es, daß diese Deine Frage eine unberechtigte ist, weil Du Dir die Antwort im Stillen ganz haarklein selbst geben kannst. Und wenn Du dies mit Deinem klaren Menschenverstand thust, so mußt Du sagen: ‚Gott sei Dank, daß es soweit ist! Die alte Tante Ratenow war zwar immer recht gut mit mir, aber es ist doch noch etwas Anderes, sein eigner Herr zu sein, es war doch eben immer nur ein Sich Schicken und Fügen in allerhand Launen, ein Nothbehelf; und mein alter Vater, der soll nun auch noch ein paar frohe sorgenfreie Tage haben!‘ Nicht wahr, Du altes Gör?“

„Tante, ich bitte Dich!“ stöhnte das junge Mädchen.

„Und sieh mal, Kind, er ist so gut, er ist so kindergut, er ist wirklich ein reizender Mensch! Ich will Dir gestehen, Else, wie ich es hörte – Du warst noch in der Pension damals – daß er seine Söhne verloren, da dachte ich so – heirathen wird er wieder, und dann dachte ich, das wäre doch ein Fingerzeig vom lieben Gott, wenn Du ihm gefallen solltest, Else. Ich hab’s dann so kommen sehen, so nach und nach, mit herzlicher Freude, und – na, jetzt ist er drinnen, Else, und fragt bei Deinem Vater an. Komm mal her, altes Gör, so ganz nahe heran; meinst Du, ich hätte den Trödel mit Deinem hübschen kleinen Lieutenant nicht bemerkt? I, Else, da wär’ ich ja nicht auch jung gewesen! Lieutenants, Kindchen, die sind recht nett zum Tanzen für Euch Mädels – zum Heirathen aber gehört mehr als ein paar blitzende Augen und blanke Epaulettes! Else! Wie kann man nur so verstarrt aussehen! Else – aber Else!“

Das Mädchen war niedergesunken, und hob die gefalteten Hände zu ihr empor.

„Tante, Tante, hab’ Erbarmen!“ schluchzte sie mit thränenlosen Augen, „ich will Alles thun, ich will – ich will – ich kann nicht!“

„Grundgütiger Himmel!“ Sie faßte das Mädchen um die Taille und hob sie empor. „Else, nimm Dich zusammen! Es steht mehr auf dem Spiele als eine Mädchenlaune; hüte Dich vor: ‚Ich kann nicht!‘ mein Kind. Es giebt ernste, schwer ernste Dinge in der Welt, die man nicht ansehen soll durch ein gefärbtes Glas; eines langen, langen Lebens Wohlfahrt schließen sie ein. Es soll kein Sprung sein in ein Rosenbeet, es soll ein ernster Schritt sein, gethan mit ehrlichem Willen, mit redlichem Herzen. – Mir, mein Kind, mir wäre es gut ergangen, hätte ich nicht einen so vernünftigen Vater gehabt. Meinst Du, ich hätte mir gerad dell Friedrich Ratenow ausgesucht? Nein, Else. Ueber beide Ohren war ich verliebt in einen ganz, ganz armen Schlucker von Candidaten, der meine Brüder zu dressiren hatte. Ich war ein keckes Ding und sagte es meinem Vater, als der Ratenow um mich angehalten. Jesus, Kind, da hättest Du sehen sollen! Ehe ich mich umblickte, war der Candidat aus dem Hause, und ich hatte Ratenow’s Ring am Finger. Ich hab’s nie bereut. Und was willst Du? Jeder Prinzessin geht das so! Nein, nein, Else, jetzt bist Du vernünftig!“

Sie strich über den blonden Kopf, der so still an ihrer Brust lag. „Nicht wahr, Du bist vernünftig?“

„Nicht jetzt, Tante! Gieb mir Frist, ich bitte Dich!“ flehte das zitternde Mädchen. „Ich muß erst ruhiger werden – Du mußt mir dies Eine zugestehen, Du mußt!“

Sie sprach das Letzte förmlich leidenschaftlich. Die alte Dame sah es ein, sie konnte das erregte Mädchen nicht weiter bedrängen.

„Ich will Dir etwas sagen, Kind, mach’ einen Spaziergang, es ist noch Zeit vor Tische.“ Sie ging hinüber und holte des Mädchens Hütchen und Mantel. „So, mein Deern, und Gott befohlen!“

[143] Sie ging, sie lief förmlich. Es war doch wenigstens frische Luft; und vor ihr lag das weite, weite Land, und noch trug sie ein Hoffen in der Brust, noch fühlte sie Kraft, es gegen die ganze Welt zu vertheidigen. Sie dachte an das kleine stille Dörfchen in Thüringen, an das schmucke Kirchlein und an die Leute, die so friedlich unter einander lebten; sie sah Schwester Beaten’s gutes Gesicht unter dem kleinen Herrnhütermützchen so deutlich vor sich – es gab doch noch einen Fleck, wohin die Stürme des Lebens nicht reichten.

Sie war dann doch zu Hause, ehe sie sich’s versah; es war ihr ganz recht, daß der Diener sagte, gnädige Frau und Fräulein seien ausgegangen. Sie begann die Treppen hinauf zu schreiten, dann wandte sie sich plötzlich um.

„Wo ist der Herr Baron?“

„In seiner Stube, gnädiges Fräulein.“

Sie kam wieder herunter und klopfte an eine Thür.

„Herein!“ rief es.

„Moritz, darf ich eintreten?“

„Aber Else, ich bitte Dich – natürlich!“

„Ich wollte Dich etwas fragen, Moritz.“

„Gern, Else. Aber komm, wir wollen in den Garten.“

Sie sah ihn verwundert an, er war so eigenthümlich, so wie verlegen.

„Wie Du willst, Moritz.“

Sie gingen durch den Gartensaal und wanderten den sonnigen Mittelweg auf und ab. Es roch wundersüß nach Veilchen und über ihnen zirpten die Staarw in hellen langgezogenen Tönen; es war ein köstliches Fleckchen Erde, dieser alte heimliche Burggarten.

Else nahm plötzlich den einfachen grünen Fächer vor die Augen.

„Moritz,“ begann sie, „habe ich Dir etwas gethan?“

„Nein, mein altes gutes Kind!“ erwiderte er weich.

„Ich dachte es; Du bist so anders zu mir seit einiger Zeit.“

Er sah sie an, wie sie mit gesenkten Augen neben ihm ging. Was war aus dem frischen reizenden Mädchen geworden!

„Moritz!“ Es war der alte kindliche Ton. „Muß ich das thun, was sie Alle wollen; muß ich es?“

„Müssen? Nein, Else, aber es wäre vielleicht gut, wenn Du es wolltest.“

„Ich kann nicht, Moritz.“

„Else!“ Er blieb stehen und faßte nach ihrer Hand. „Denke nicht an Bernardi mehr,“ sagte er in seiner treuherzigen guten Art, „warte nicht auf ihn; sieh unsereins vergißt so etwas. Du mußt nicht glauben, daß er sich so abgrämt, wie Du, Kleine; Du kennst das Leben noch nicht.“

Sie sah ihn wieder an mit den traurigen Augen und eine feine Röthe stieg in das blasse Gesicht.

„Ich denke noch oft an ihn, Moritz, das kommt ganz ohne daß ich es will; aber gehofft habe ich vom ersten Augenblick an nicht mehr; ich weiß zu gut, daß ein Abgrund, so ein großer, großer Abgrund zwischen uns ist. Ich meine nur, ob ich – aber Du verstehst mich wohl nicht, Moritz? Ich habe meinen Onkel nicht ein bischen lieb, nicht ein bischen – so, wie man den lieb haben soll – der –“

Sie stotterte, brach ab und wie in Purpurgluth getaucht stand sie vor ihm, und langsam und schwer rannen die Thränen unter den gesenkten Wimpern hervor.

Freilich verstand er sie, aber durfte er es denn? Was sollte aus ihr werden? Er konnte ihr ja nicht einmal ein weiteres Asyl bieten, wenn sie den Bennewitzer refüsirte. Seine Mutter würde ihr bitter zürnen, und Frieda? Sein häusliches Glück stand auf dem Spiele – es klang lächerlich, aber die kleine Frau war eifersüchtig, wirklich und wahrhaftig, und sie zeigte es bei jeder Gelegenheit. Else zwar ahnte es nicht in ihrem reinen Kindersinn, und sie sollte es auch nicht wissen.

Er schwieg noch immer.

„Else,“ sagte er endlich – und er fühlte, wie banal es war, was er sprach – „mach’ Dir das Leben nicht so furchtbar schwer; sieh einmal“ – und er begann wieder zu wandern, die Hände auf dem Rücken, „man wird älter und ruhiger, man denkt so ganz anders in späteren Jahren über Herzensgeschichten und Neigungsheirathen – ja, was wollte ich gleich sagen – Elschen, ich würde es mir doch noch überlegen.“

Sie antwortete nicht, und trocknete die Thränen. „Nun dann, Moritz, so bitte ich Dich wenigstens um einen Gefallen, ersuche Tante Ratenow, daß sie nur heute – nur heute keine Entscheidung von mir verlangt. Und Du, Moritz, verzeihe, daß ich Dich fragte.“

Sie wandte sich um und ging zurück. Sie nahm den Weg durch den Flur; im Gartensaal hatte sie Frieda’s Stimme gehört, und die Klänge eines Walzers schallten in ihr Ohr. Lili spielte wohl, wie es ihre Art so war, ein paar Tacte, um gleich darauf wieder etwas anderes vorzunehmen. Dann saß sie aber in ihrem Stübchen am Fenster. Nun hatte sie Keinen mehr hier, nun stand sie ganz allein; Alle waren böse auf sie, weil sie eine gesicherte Zukunft, eine behagliche Existenz, die beneidete Stellung einer reichen jungen Frau verschmähte – aus einem Grunde, der so lächerlich für die Welt, so heilig ernst für ein reines Frauenherz. Aber der Papa! der alte einsame Papa! sagte eine Stimme in ihrem Innern, die einzige, die sich gegen ihr Denken erhob. Dann schoß siedendheiß die Röthe der Scham in ihr bleiches Gesicht. „Nein,“ sagte sie halblaut, „ich habe ihn nicht lieb, ich betrüge ihn und mich.“ Sie kannte die Welt draußen nicht mit ihren Dornenpfaden, die ein einsames armes Mädchen gehen muß; aber so entsetzlich konnte es doch nicht sein, als wenn sie – sie sprang empor und das nervöse Schauern überkam sie wieder. Hastig griff sie nach einem Buche und blätterte darin. Dann blieben ihre Augen an einem Gedichte hängen:

<powm>„Die Mutter sprach: Lieb Else mein, Du mußt nicht lange wählen! Man lebt sich in einander ein, Auch ohne Liehesquälen; So Manche nahm schon ihren Mann, Daß sie nicht sitzen bliebe, Und fühlte sich im Himmel dann; Und Alles ohne Liebe.“</poem>

Sie lächelte schmerzlich und klappte das Buch zu; und auf ihre gefalteten Hände beugte sich der Kopf hinunter und sie weinte zum ersten Male nach langer Zeit wie ein Kind, wie ein armes verlassenes Kind. Und die Stunden vergingen; draußen webte die Frühlingsdämmerung in den knospenden Bäumen, und der Mond warf seinen matten Schein in die Stube des jungen Mädchens, und sie saß noch immer so. –

Aus dem Salon herauf klang Musik, Fräulein Lili spielte Clavier, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Andern blieben ja so ewig lange in Tante Ratenow’s Zimmer, und die alte Dame hatte in höflichster Weise sogar bitten lassen, Fräulein Lili möge nicht herüber kommen. Es war unausstehlich langweilig heute. Zumal das Diner mit dem Bennewitzer, der fast kein Wort gesprochen und nur immer die eine Bewegung mit der Hand über seinen dunklen Bart gemacht hatte; und vorher diese Familienscene bei Cramm’s; Annie als glückliche Braut, stets wie eine Gliederpuppe, und daneben der Lieutenant von Rost, der so unendlich gleichgültig dabei aussah, als ginge ihn die ganze Geschichte eigentlich gar nichts an. Die einzige wirklich Gerührte war Mama Cramm gewesen, denn des Papa’s Laune schien mehr aus den silberhalsigen Flaschen im Eiskübel zu stammen, als aus Entzücken über den Schwiegersohn. Lili hatte gleich, nachdem das erste Erstaunen vorüber war, sich aus dem intimen Kreise beurlaubt, natürlich mit der Erlaubniß, das frohe Ereigniß überall erzählen zu dürfen.

Draußen im Vorzimmer hatte sie in echt militärischer Weise gefragt: „Annie, wann ist denn die Bombe geplatzt? Seit wann überhaupt ist die Absicht vorhanden gewesen? gemerkt hat man bis jetzt doch noch nichts.“ Und Annie war erröthet: „O, es ist schon eine längere Neigung, aber Papa wollte immer nichts davon wissen.“

„Wie grausam!“ Lili hatte sich das Lachen verbeißen müssen. „Aber nun?“

„Ach Lili, ich wäre gestorben ohne ihn.“

„Herrje!“ hatte der Schelm verwundert ausgerufen. „Na, da will ich aber nicht länger stören. Sag, Annie, nicht wahr, er heißt doch von Rost?“

„Ja, von Rost.“ Die Antwort war etwas schnippisch ausgefallen.

„Adieu, Annie!“ Sie war, mit Mühe das Kichern verbeißend, davon gelaufen, um die große Neuigkeit zum Diner nach Hause zu bringen, und da gab es nur verstimmte Gesichter, und außer Frieda Niemand, der der Sache Interesse entgegentrug.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 10, S. 157–159

[157] Nach dem Diner hatte sich der Bennewitzer sofort verabschiedet, die Schwestern waren an’s Fenster getreten, der schönen Equipage nachzusehen, und Lili hatte herzhaft gegähnt, dann aus dem „Wildschütz“ ein paar Tacte geträllert:

„Doch ich nehm’ mir einen Alten,
Sehe nicht die vielen Falten“

und geschlossen: „Brrr Frieda! Ich glaube, ich reise bald wieder nach Hause!“

„Ja, ich kann es Dir nicht verdenken!“

Die junge Frau war verdrießlich gewesen und hatte sich in einen Band Novellen von Heyse vertieft. Moritz war zu seiner Mutter gegangen und endlich auch Frieda.

„Höre, Lili,“ hatte sie gesagt, „da drüben ist wieder was nicht richtig, ich gehe einmal nachsehen.“ Nun war die junge Frau schon eine Ewigkeit fort, und Lili langweilte sich noch immer; nicht einmal die blasse Else kam, um sich ihrer zu erbarmen.

Es war das Beste, sie ging wieder heim, da amüsirte sie sich wenigstens noch über den Jagdjunker vom P.schen Hofe; er war doch immerhin weniger langweilig, als der Bennewitzer; na überhaupt, was waren das für Helden, der Bennewitzer und Moritz, der gute große Bär – auf den ist Frieda gar noch eifersüchtig –. Barmherziger Himmel!

Die junge Frau hatte drüben erst ein wenig gehorcht, dann war sie hineingegangen.

Frau von Ratenow saß ruhig wie immer in ihrer Fensternische; die wappengeschmückte Mundtasse stand dort, wie alle Tage, und ihre Hände hielten das Strickzeug. Moritz ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab; er sah sehr erregt aus.

„Ah!“ rief die schöne kleine Frau, „Moritz macht wildes Thier – was ist denn vorgefallen?“

„Ich bin nicht ganz einer Meinung mit Mama, Frieda.“

„Ah!“ sagte die junge Frau ironisch, „das ist allerdings etwas Seltenes.“

„Und ich behaupte,“ erklärte Frau von Ratenow, „man muß nicht locker lassen; es giebt viel Leute, die sich gegen ihr Glück sperren wie ein krankes Kind gegen die Medicin.“

„Und ich behaupte, Mutter, daß es hier bei uns nicht Sitte ist, das Weib zu verkaufen!“ brauste er auf, und sein ehrliches gutes Gesicht überflog die Röthe des Zornes. „Frei soll es sein in dieser Beziehung, das Recht haben, sich hinzugeben oder sich zu versagen. Wo bleibt Sitte, Moral und Weiblichkeit bei den entsetzlichen Grundsätzen, die, leider Gottes! an der Tagesordnung sind. Ich für meinen Theil achte das Mädchen niedrig, das sich freien läßt, lediglich um eine Versorgung zu finden!“ Er stand mit sprühenden Augen vor seiner Mutter.

Die alte Dame blieb völlig ruhig. Moritz war immer ein bischen Schwärmer gewesen, er hatte das von seinem Vater, und der „Jung“ wußte ja gar nicht, was des Lebens Noth bedeute für ein schutzloses armes Mädchen.

„Ich kann sie natürlich nicht in die Kirche schleppen, und Hegebach ist nicht der Mann, sich eine Frau zu erbetteln,“ scholl es zurück. „Was Du sagst, mein Jung, klingt recht schön – wenn man die nöthigen Mittel hat. Du weißt selbst am besten: Theorie und Praxis sind grundverschiedene Dinge. Ich habe das Capitel schon zu oft in diesen Tagen abgehandelt, ich rede nicht mehr darüber. Ich hab ’s gut gemeint! – Meine Großmutter pflegte zu sagen: ‚Liebe – Liebe ist meistentheils Einbildung!‘ Ich habe Mädchen genug gekannt, die um den Ersten, den sie nicht bekommen konnten, in’s Wasser gehen wollten, nur um beim Zweiten nachher zu finden, daß dieser doch nun erst der Wahre, der Rechte, der einzig Geliebte sei. Geh’ doch, Moritz, es ist lächerlich von Dir; Ansichten sind’s, die höchstens noch ein liebeskranker Backfisch oder eine halbverdrehte alte Jungfer ungestraft aussprechen darf.“

„Es mag sein,“ erwiderte er schroff, „daß Viele so sind, aber ich will nicht daran glauben.“

Er war vor Frieda stehen geblieben und sah zu ihr hinunter mit aufleuchtenden Augen.

„Frieda, sprich Du ein Wort zu Ehren Deines Geschlechts!“

„Ich weiß ja gar nicht, was Ihr meint.“ Die kleine Frau wandte den schönen Kopf wie verlegen zur Seite.

„Hegebach hat heute um Else angehalten, und sie –“

„Um Else?“ Die erstaunten Augen flogen von ihrem Manne zu der strickenden Schwiegermama. „Also doch!“ Und sie lachte hell auf.

Unwillkürlich stutzte er. Was sollte dies fast krampfhafte Lachen, das schon ein halbes Weinen war? Dicke schwere Tropfen rannen ja über die erbleichten Wangen.

„Du hast ihr natürlich abgeredet, Moritz,“ kam es zwischen dem Lachen hervor.

[158] „Abgeredet? Nein, Frieda, im Gegentheil; ich habe versucht, ihr die Nothwendigkeit dieses Schrittes zu erklären, aber es hat mir leid gethan hinterher.“

„Freilich!“ Die junge Frau lachte nicht mehr. „Ich wüßte auch gar nicht, wie es werden sollte auf der Burg. ohne Else von Hegebach; es wäre ja undenkbar!“

„Was meinst Du damit?“ scholl die Stimme der alten Dame dazwischen.

„O, nichts, Mamachen – Moritz hat mich wohl verstanden.“

„Ich bedaure, nein, Frieda,“ erwiderte er ruhig.

„Aber ich!“ Frau von Ratenow hatte sich erhoben und stand nun vor der Schwiegertochter. „Ich habe viel Nachsicht mit Dir gehabt, mein Kind, für Deine Launen und Capricen, mit denen Du das ganze Haus tyrannisirst, habe Dich stets entschuldigt, weil ich annahm, daß Du Deinem Gatten herzlich zugethan seiest. Daß er sich von Dir quälen ließ, war seine Sache, er hat’s nicht besser gewollt. Aber wenn Du wagen solltest“ – sie erhob mächtig ihre Stimme – „ihn auch nur in Gedanken einer Unehrenhaftigkeit zu zeihen, wenn Du es wagen solltest, den Ruf des Mädchens anzutasten, das unter meinem Dache groß geworden – Frieda, bei Gott! ich vergesse es, daß Du meines einzigen Sohnes Frau, daß Du die Mutter seiner Kinder bist!“

„Halt ein!“ sagte Moritz, die drohend erhobene Hand der alten Dame sanft herunterziehend. „Frieda weiß nicht, was sie spricht, sie meint es anders.“

Die junge Frau verharrte leichenblaß in ihrem Stuhle; es sprach ein leidenschaftlicher Trotz aus ihren Mienen.

„Nein!“ rief sie aufspringend, „ich meine es nicht anders, ich weiß, was ich gesagt habe. – Seitdem Else Hegebach im Hause ist, ist er ein Anderer geworden, hat er nur noch Augen und Aufmerksamkeiten für sie; ich muß es doch wissen, besser als Du und die Andern!“

„Schweig!“ gebot die alte Dame so würdevoll und ruhig, daß der schöne Mund unwillkürlich verstummte. „Was habe ich einst gesagt, Moritz,“ wandte sie sich zu dem Sohne, „als Du um Dein Weib freitest? Werde nicht müde, sie zu ziehen, damit sie Dir nicht über den Kopf wachse! Jetzt erntest Du die Saat Deiner grenzenlosen Nachgiebigkeit, Deiner Tändeleien; es giebt Weiber und Kinder, denen Güte wie Gift ist –. Und das ist eine Liebesheirath gewesen! Die meine war es nicht, aber ich habe Deinen Vater geachtet und hätte nimmer gewagt ihn zu beleidigen. Nun fehlt nur noch, daß Du sie um Verzeihung bittest, mein Jung, und das Capitel zu einem modernen Eheroman ist fertig.“

„Du weißt ganz genau, Mutter, daß ich das nicht thun werde,“ erwiderte er düster.

Aber die alte Dame hörte es nur noch halb; sie war in ihr Schlafzimmer gegangen und riegelte hinter sich zu.

„Frieda,“ sagte er traurig, sich zu ihr wendend, „Du hast Dich in einen furchtbaren Irrthum hineinphantasirt – weiß Gott, weher konntest Du mir nicht thun!“

Sie stand noch immer da und zupfte an ihrem Battisttaschentuche, die blauen Augen in Thränen funkelnd.

„Frieda, geh’ hinüber, beruhige Dich erst,“ bat er, „und laß uns dann ruhig aussprechen. Mein Gott, wie bist Du auf so Etwas gekommen?“

Er war blaß; sie mußte sehen, daß sie den großen treuherzigen Mann bis in’s Innerste verletzt hatte, aber sie wollte es nicht sehen. Sie schüttelte seine Hand ab und verließ eilig das Zimmer; sie war zu furchtbar gekränkt, sie war eine zu unglückliche Frau – o –

„Lili,“ schluchzte sie in ihrem Boudoir und fiel der Schwester um den Hals, „es ist doch zu fürchterlich, wenn man bei allem andern Unglücke noch eine solche Schwiegermutter hat; so groß und alt Moritz ist, er hängt noch immer an ihrer Schürze wie ein kleines Kind und nimmt nicht einmal meine Partei, wenn sie mich wie ein Schulkind behandelt; aber wie sollte er auch, er liebt mich ja nicht mehr.“

Es war ein häßlicher Tag, der sich seinem Ende zuneigte, und ein häßlicher Abend folgte ihm. Frieda hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und wollte Moritz nicht sehen. Lili aagte ihm das, und ihre Augen blickten so scheu den Schwager an, wie man etwa einen Verbrecher der schlimmsten Sorte betrachtet. Die Kinder schrieen in ihrem Zimmer, und als er sie beruhigen wollte, fürchteten sie sich vor seiner finsteren Miene. Er trat dann in’s Freie; im Hause sei es ja zum Ersticken, meinte er; er ging schließlich vom Hofe herunter, die Allee entlang, in den duftigen Frühlingsabend hinein, und ohne jede Absicht schlenderte er durch das Stadtthor. In den Gassen war es noch sehr lebendig, vor den Thüren lärmten die Kinder und schwatzten die Nachbarn mit einander, und der Mond schien fast grell heute Abend.

„Holla! Liebster Ratenow !“ rief eine Stimme, und Jemand klopfte ihn auf die Schulter, „was treiben Sie denn hier? Suchen Sie Menschen, so kommen Sie mit in’s Casino; Rost giebt seine Verlobungsbowle.“

Der Rittmeister von P. stand vor ihm. Moritz war nicht in der Stimmung; er wollte nicht, er entschuldigte sich mit seinem Anzuge, und schließlich ging er doch mit.

In dem eleganten Speisesaale der Officiersmesse war es schon sehr lebhaft, als die Herren eintraten; der glückliche Bräutigam schien noch der Nüchternste zwischen den Andern, außer etwa dem Bennewitzer, welcher förmlich apathisch seine Cigarre rauchte.

„Was Tausend,“ sagte Moritz, sich mühsam zum Scherze zwingend, „Sie hier, Herr von Hegebach? Wie kommt der Saul unter die Propheten?“

„Man hat mich eingefangen, wie Sie vermuthlich auch, lieber Ratenow,“ erwiderte er, und zog für Moritz einen Stuhl heran. „Ich mochte noch nicht nach Hause fahren – Sie wissen ja, es giebt Tage im Leben, wo man auf keinem Flecke Ruhe hat.“

Moritz schwieg, er wußte wohl, was das heißen sollte, er selbst hatte ihn ja heute früh gebeten, sich bis morgen zu gedulden; Else sei so überrascht, seine Werbung wäre ihr so plötzlich gekommen, und was man noch zu sagen pflegt, wenn nothgedrungen eine Frist gewonnen werden soll.

Man war schon von der Bowle zum Sect übergegangen; Rost zeigte sich ungeheuer spendabel heute, er hatte ja auch einen so „riesig netten“ Schwiegerpapa, der ihm vor der Hochzeit noch helfen würde, sich zu arrangiren, wie er ihm heute versprochen; es kam nun auch auf ein paar Flaschen Sect mehr oder weniger nicht an.

„Haben Sie die Anzeige an Bernardi fortgeschickt, Rost?“ rief der dicke Assessor Dolling.

„Versteht sich!“ erwiderte dieser; „hoffentlich gratulirt er telegraphisch, denn seine Briefe sind nachgerade unausstehlich – worauf der Alles kommt in seiner weltschmerzlichen Verfassung, es ist unglaublich!“

„Seine Briefe sind immer noch besser als er selbst,“ rief einer der jungen Herren, „er thut überhaupt weiter nichts mehr, als arbeiten oder Geige spielen. Ich habe, als ich neulich auf Urlaub war, ein paar Mal versucht, ihn ein Bischen herauszubringen: wozu ist man denn in einer halbwegs anständigen Stadt? Aber Gott bewahre, er sagte sehr von oben herab, das Treiben ekele ihn an, und das Tivolitheater sei ihm überhaupt ein Horror.“

Die meisten der Herren lachten. „Ich habe ihn nicht mehr incommodirt,“ schloß der junge Officier und füllte sein Glas. „Uns von der Cavallerie genirt so etwas nie!“

„Ich glaube nämlich ganz sicher, daß er den Abschied nimmt,“ bemerkte sehr langsam ein Anderer, „nämlich ich bin ganz zufällig dahinter gekommen; er hatte bei meinem Onkel angefragt, der nämlich so eine Art Musiknarr ist, ob er wohl glaube, daß sein Tatent groß genug sei, um als Virtuos, als Künstler etwas zu erreichen.“

„Und da hat,“ fiel der Assessor ein, die Weise des Sprechers nachahmend, „der Onkel hoffentlich gesagt: ‚Lieber Bernardi, Sie sind nämlich nicht recht gescheidt, Sie kratzen just nicht gerade schlecht auf dem Wimmerholz, aber zu einem Virtuosen nämlich gehört denn doch mehr heutzutage.‘“

Lieutenant von Rost, der gar nicht leicht aus der Ruhe kam, wechselte plötzlich die Farbe.

„So ein Mensch!“ sagte er leise zu seinem Nachbar links, „erst hat man ihn mit Müh’ und Noth vor einer großen Thorheit bewahrt, jetzt will er noch eine größere begehen – er ist einfach verrückt.“

Aber seine ärgerliche Bemerkung wurde übertönt durch das brausende „Hoch!“, das die Cameraden auf das Wohl der jungen Braut tranken.

[159] „Fräulein Annie Cramm hoch! Und zum dritten Male hoch!“ scholl es von so und so viel animirten Stimmen.

„Und ein Hoch allen schönen Frauen!“ rief der Rittmeister von P., und wieder stießen die Gläser an einander.

Moritz erhob sich plötzlich. Es war ihm nicht möglich, noch länger hier zu bleiben, in diesem Tumult, bei seiner Stimmung.

„Sie wollen fort?“ fragte der Bennewitzer. „So komme ich mit, wenn Sie gestatten.“

„Sie logiren hier im Hôtel?“ erkundigte sich Moritz auf dem Flur, während noch immer begeisterte Hochrufe aus dem Saale herüberschallten.

„Ja! Aber ich begleite Sie noch, Ratenow.“

Es war nun ganz still auf den Straßen, nur der Mondschein lag über der Stadt, und ein feiner leichter Nebel hing wie ein silberner Schleier an den Dächern und umspann feenhaft die Umrisse der Häuser und Bäume. Sie gingen stumm neben einander her; bei Beiden wollte sich das rechte Wort nicht finden zum Beginne eines Gespräches.

„Mein lieber Ratenow,“ sagte endlich der Aeltere, „ich möchte nicht gern, daß Sie, gerade Sie, mich falsch beurtheilten. Sie sahen mich vorhin so merkwürdig an. Ich bin weder eitel genug um zu glauben, ein so junges Mädchen, wie Else von Hegebach, werde mit Wonne in meine geöffneten Arme sinken, noch bin ich in dem Alter, wo Einen die Erwartung des entscheidenden Wortes von ein paar rothen Lippen ruhelos umher jagt und man für den Fall, daß sie etwa abschläglich lauten könnten, mit Wollust an einen Selbstmord zu denken pflegt. Ich habe dazu viel zu traurige schwere Schicksalsschläge ertragen müssen. Die Gründe, die mich leiteten, um meine Nichte zu werben, sind nur zur Hälfte egoistischer Natur; mich drängte im Großen und Ganzen das Bestreben, meinen Vetter und sein Kind theilnehmen zu lassen an der Hinterlassenschaft unseres Onkels, und dies ist die einzige Art und Weise, wie es gesetzlich geschehen kann. Aber –“ er blieb stehen und legte die Hand auf die Schulter seines Begleiters, „ich füge hinzu, daß ich diesen Plan nicht gefaßt haben würde, wäre das junge Mädchen mir nicht in hohem Grade sympathisch, ich sage: sympathisch, lieber Ratenow; in meinen Jahren spricht man nicht mehr von Leidenschaften.“

Sie schritten wieder vorwärts. Moritz war stumm geblieben: er wußte ja genau, daß der Mann dort die Wahrheit sprach; er wußte, daß er die Wahl unter Vielen hatte, er war noch immer ein stattlicher Cavalier; er war ein Mann, der ein edles großes Herz besaß, er durfte noch Anspruch machen auf ein Glück, und dennoch –.

„Ich habe es mir in den letzten Wochen beständig ausgemalt, wie es sein wird, Ratenow,“ fuhr der Bennewitzer fort mit warmem Klang der Stimme; „ich habe Else’s Gestalt durch meine einsamen Gemächer schreiten sehen und habe ihre Stimme so glückverheißend an mein Ohr tönen gehört; ich bin hinaufgestiegen in die Zimmer, die ich für meinen Vetter bestimmt habe, und ich rechnete die Reiseroute aus, um den staunenden Kinderaugen die Welt jenseits der Alpen zu zeigen. Weiß Gott, Ratenow, es würde mir eine unsagbare Freude sein, diese junge Seele einzuführen in die tausend Schönheiten, mit denen Natur und Menschenhand die Welt geschmückt haben, und –“

Er stockte.

„Mit meinem ältesten Jungen hin ich einmal gereist über den Schwarzwald in die Schweiz, und ich werde nie die Freude vergessen, die mir das ungeheuchelte Entzücken, dieses naive Staunen der jungen Menschenseele verursachte; ich möcht’s wohl noch einmal sehen – –. Ratenow,“ fragte er plotzlich, „kommt da nicht Jemand?“

Sie standen am Eingange der Allee; die dunklen Stämme hoben sich scharf ab im Mondenlichte, und in dem leichten Nebel bewegte sich allerdings, rasch, fast laufend, eine Gestalt ihnen entgegen.

„Es ist eine Frau,“ sagte Moritz, „es ist Else!“ fügte er nach einer halben Minute hinzu. „Else, um Gotteswillen, Else, wo willst Du hin? Wie siehst Du aus?“

Sie hing plötzlich an seinem Halse; er fühlte das Zittern und Beben ihres Körpers.

„Moritz, zum Vater! Bringe mich zum Vater!“

„Was ist geschehen, Else? Rede doch!“

Er löste die Arme von seinem Nacken und schaute in ihr todtenbleiches Gesicht.

„Krank!“ sagte sie mit bebenden Lippen; „die Siethmann kam, sie wollte mich rufen, da bin ich fortgelaufen – bring’ mich hin, Moritz!“

Er zog ihren zitternden Arm in den seinen. „Komm, mein Deern.“

„Ich gehe mit,“ sagte der Bennewitzer. „Ist schon ein Arzt geholt? Wissen Sie es nicht, Else?“

Sie schüttelte den Kopf und lief voran, die Männer hatten Mühe ihr zu folgen. Sie war ohne Hut und Mantel, und in dem ungewissen Lichte hatte es etwas Unheimliches, wie sie so dahin stürmte. Sie war schon die Treppe hinauf, als die Herren eben in die Hausthür traten. Auf dem dämmerigen Flur oben kam ihnen der Arzt entgegen.

„Treten Sie ein, meine Herren,“ bat er leise; „ich habe nach der Tochter geschickt – er wird den Morgen nicht erleben.“

Sie standen in dem kleinen unwohnlichen Gemach neben dem des alten Mannes, der Mondschein fiel voll herein und lag als breiter weißer Streifen auf den Dielen, und darin zitterte der Schatten der jung belaubten Zweige vor den Fenstern draußen. „Tick tack, tick tack,“ sagte die alte Schwarzwälder, und durch die halb geöffnete Thür des Nebenzimmers drangen Laute wie ein qualvolles Stöhnen.

„Papa!“ schrie dann eine Stimme auf, „geh doch nicht fort von mir, laß mich nicht so allein, so furchtbar allein!“

Der Arzt that rasch einen Schritt auf die Thür zu, dann blieb er wieder stehen – der Sterbende sprach langsam, stockend, fast abgerissen unverständlich.

„Nein, nein, Papa, stirb nicht, stirb nicht! Ich muß Dir noch etwas sagen, lieber Papa! Höre mich doch – kannst Du mich noch hören?“

Der Arzt ging hinein. Nach einem Augenblick kam er wieder zurück und winkte dem Bennewitzer. Er trat ein und seine Augen suchten das Mädchen. Sie lag vor dem Lehnstuhl, in dem der Vater ruhte, und hielt seine Kniee umklammert, die rechte Hand des alten Mannes lag auf ihrem Kopfe, seine halberloschenen Augen waren dem Eintretenden zugewandt.

„’s ist rasch gekommen, Vetter, aber ich bin viel – ruhiger, wie sonst, weil – Else, Deine Hand! Ich habe nichts gethan für Dich im Leben, armes Kind, vergieb mir, und Du warst immer gut und gehorsam, vergieb mir, Else, mache es mir leicht, das Sterben – es war so schwer – das Leben.“

Sie hob den Kopf und sah, wie um Erbarmen flehend, umher, aber die müden Augen erfaßten den Blick nicht mehr, verstanden nicht, was sie wollte. Sie fühlte nur, wie mühsam seine Hand nach der ihren tastete und, als er sie erfaßte, den matten Versuch machte, sie zu erheben und hinüberzuziehen, um sie in eine andere Hand zu legen. Die völlige heilige Majestät des Todes überschauerte sie plötzlich bei dem Anblick der furchtbar veränderten Züge, willenlos gab sie sich hin unter den Einfluß, dann fühlte sie, wie eine warme Männerhand die ihre umschloß, und wie die Rechte des Sterbenden kraftlos auf beiden ruhte.

„Wilhelm, lieber Wilhelm,“ sagte eine bewegte Männerstimme, „ich will sie schützen und schirmen – das verspreche ich Dir!“

„Else!“ flüsterte der Sterbende, „Du bleibst nicht allein! Kein – armes – verlassenes Mädchen - nein, Else –“

Sie lag wie kraftlos da, den Kopf auf seinem Knie, die Hand noch immer in der des Bennewitzers; es war, als woge ihr ein blutrother Nebel vor den Augen, und sie vermochte nicht mehr klar zu denken. Dann hörte sie Moritzens Stimme noch einmal: „Es ist vorbei, komm Else, meine alte Deern!“ und sie fühlte, wie man sie emporhob, und dann nichts mehr.

Als sie erwachte, saß Frau von Ratenow vor dem Sopha, auf das man sie gebettet; die alte Dame im Morgenkleide und Haube hatte den Kopf gegen die Lehne gestützt und schlief. Durch die Fenster brachen glühendroth die Strahlen der aufgehenden Sonne und überhauchten das kleine Zimmer mit einem verschönernden Glanz.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 11, S. 173–175

[173] Das junge Mädchen fuhr jäh empor; die Scenen der Nacht standen wie mit einem Zauberschlage vor ihrer Seele. Ach, es ist schrecklich; wenn ein paar Stunden Schlaf die traurige Gegenwart hinweggescheucht haben, doppelt schwer überfällt dann beim Erwachen die Wucht des Leides die geängstigte Seele, sie auf’s Neue erschreckend, auf’s Neue zu Boden schleudernd.

Sie strich sich über die Stirn; ob es denn Wahrheit? Und wie um sich zu überzeugen, stand sie auf und schlich an der schlummernden Frau von Ratenow vorüber in das Nebenzimmer.

Eine starke Zugluft wehte ihr entgegen, die Fenster waren geöffnet, und über das, was dort auf dem Bette lag, hatte man ein weißes Laken gebreitet. Unbeweglich starrte sie es an; eine furchtbare Kälte stieg ihr zum Herzen, und unwillkürlich schlangen sich ihre Hände in einander. „Vater unser, der Du bist im Himmel,“ klang es in ihrer verstörten Seele, sie fühlte, sie müsse beten, und hatte doch nicht die Macht, ihre Angst, ihre Bitten in eigne Worte zu kleiden – „und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern!“

Dann flogen erschreckend grelle Töne in das Gemach, dort unten auf der Straße blies der Trompeter, wie allmorgendlich, die Reveille.

„Dem Papa seine Soldaten müssen aufwachen,“ hatte Tante Lott dem kleinen Mädchen einst erklärt, wenn die munteren Klänge hinübergeschallt waren bis in die Burg.

„Komm, Else, mein altes Gör, das weckt ihn nimmermehr!“ sagte Frau von Ratenow’s Stimme, und sie zog das Mädchen an die Brust. „Ihm ist wohl, mein Kind – nicht wahr, wir gönnen ihm den Frieden?“ –

Das Begräbniß war vorüber. Die Herren des Gefolges kamen vom Kirchhofe zurück und verabschiedeten sich vor der Pforte desselben von Moritz und dem Bennewitzer.

Lieutenant von Rost schlenderte über den Fahrweg, um seine Braut und Schwiegermutter zu begrüßen, die jenseits desselben spazieren gingen; vielleicht nicht blos aus dem Grunde, um frische Luft zu schöpfen, sondern um ein bischen zu sehen von der Leichenparade. Frau Cramm liebte das, und Annie nicht minder; ein großes Feuer, eine Trauung oder ein Begräbniß trieb sie sicher in die Nähe des Schauplatzes.

Der Bräutigam grüßte und ging neben Annie her, ohne ihr den Arm zu bieten; besonders ritterlich war er nicht veranlagt, und er hatte auch von vornherein seine Braut nicht verwöhnt mit dergleichen Dingen, was Annie jedoch tief und schmerzlich empfand; es wäre doch hübsch gewesen, so recht innig und zärtlich selbander durch die Straßen zu ziehen, damit die Leute auch sähen, wie sie sich lieben.

„Lieber Sohn,“ begann Frau Cramm, „hörtest Du nicht, wie es Fräulein von Hegebach geht? Sie soll ja förmlich versteinert sein im Schmerz, wie Annie mir erzählt.“

Die junge Dame nickte eifrig. „Ja, denke Dir, Leo, ich war vorhin dort – sie sprach gar nicht und sieht aus zum Erbarmen; sie hat sich doch mit dem alten Mann nur ‚so so‘ gestanden und au fond gar keinen Grund zu dieser Verzweiflung! Aber sie ist wie zerschmettert – begreifst Du das?“

Er ließ den Kneifer fallen. „Es wäre möglich,“ erwiderte er, „zwei so erschütternde Vorgänge auf einmal.“

„Zwei?“ Mutter und Tochter riefen es wie aus einem Munde.

Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Sie hat sich am Sterbebette des Vaters mit dem Bennewitzer verlobt.“

Ein doppelter Laut des Erstaunens traf sein Ohr. „Hat das Mädchen ein Glück!“ rief die rundliche ältere Dame im schwarzen Sammetpaletot.

„Es ist erstaunlich, nicht wahr?“ fragte Lieutenant von Rost mit einer Miene, die es stets zweifelhaft ließ, ob er es ironisch oder ernsthaft meine.

„Ein großes Glück!“ wiederholte Frau Commerzienrath Cramm. „Und das herrliche Bennewitz und die kostbare Equipage! Im vorigen Jahr war ja sogar Prinz H. dort zur Jagd!“

Annie schwieg. Sie dachte daran, wie Else in der Pension so oft bis zur Ermüdung über den Büchern gesessen und gelernt für das Erzieherin-Examen, wie sie sich stets so einfach gekleidet. Ja wahrhaftig, das ist Glück! Wer hätte das gedacht!

So flog denn die Kunde von einer Verlobung der kürzlich Verwaisten mit dem Oheim durch das Städtchen, in Windeseile; und sie selbst saß in ihrem Mädchenstübchen in dem langen schleppenden Trauerkleide, und über der tiefschwarzen Crêprüsche leuchtete ihr bleiches Gesicht förmlich geisterhaft, mit dem unendlich wehen Zug um den Mund.

Viel hatte sie noch nicht gesprochen seit jenem Morgen, aber Tante Ratenow desto mehr. Sie hatte auch nicht geweint, aber sie war umhergegangen mit der verstörten Miene, hatte sich von einem Platz auf den andern gesetzt, die Hände im Schooß und finster zur Erde blickend; kaum daß Nahrung über ihre Lippen gekommen, kaum daß sie Nachts ein wenig geschlummert. Sie [174] sah immer und immer wieder das verfärbte Antlitz des sterbenden Vaters, sie fühlte das ängstliche Tasten nach ihrer Hand und wie sich die Kette um diese schloß, diese unsichtbare entsetzliche Kette, die sie ihr Leben lang tragen sollte. War es nicht mehr als grausam, die heilige Macht der Todesstunde, die zwingende Gewalt eines letzten Willens zu benutzen, um ein Menschenherz unglücklich zu machen zeitlebens? „Vater, Du hast mich nicht lieb gehabt!“ stöhnte sie auf. Und dann sah sie wieder das glückliche Lächeln, als er ihre Hände in einander gefügt, den letzten, ach so leichten Athemzug, als sei die arme Brust von einer schweren Last befreit; er starb zufrieden, er starb ruhig – und sie mußte leben, leben! Es war entsetzlich!

Noch hatte sie den nicht wiedergesehen, in dessen Hand der Vater ihre Rechte gelegt; und Frau von Ratenow hatte nicht weiter in sie gedrungen. Sie vertrug sich nicht wohl, diese tiefe stumme Trauer, mit dem bräutlichen Glück. Aber nun vom Begräbniß zurückgekehrt, hatte der Bräutigam doch Verlangen mit der zu sprechen, die ihm anvertraut war in jener ernsten Stunde.

Frau von Ratenow, ebenfalls in tiefer Trauer, stieg die Treppen empor, um Else diesen gewichtigen Besuch zu verkünden. Sie hielt ein paar Zweiglein Cypressen in der Hand, die hatte der Bennewitzer vom Sarge genommen, ehe man ihn hinabgesenkt – ein letzter Gruß für die Tochter.

Die stattliche Frau klopfte weniger resolut als sonst an die Thür und trat dann ein. Else saß am Tische und hatte Schreibpapier vor sich liegen und die Feder; nun schob sie den angefangenen Brief in die Mappe und erhob sich. Frau von Ratenow drückte den Cypressenzweig in die kleine Hand und strich über die blasse Wange.

„Hegebach läßt Dich grüßen; er meint, es würde Dir ein Bedürfniß sein, mit ihm vereint an das Grab zu treten; der Wagen wartet noch angespannt, Else. Willst Du Dich zurecht machen? Er wird Dich abholen hier oben.“

Bei den Worten „mit ihm vereint“ zuckte sie zusammen, und eine dunkle Röthe überzog einen Moment das bleiche Gesicht. Sie antwortete nicht, aber sie schüttelte leise den blonden Kopf.

„Warum hast Du alle Rouleaux hernieder gelassen,“ fragte die alte Dame, „als ob Gottes Sonne etwas Entsetzliches wäre?“ Und sie zog die Vorhänge aus einander, daß blendendes Sonnenlicht hereinströmte und sich um das Mädchenhaupt wob wie ein Heiligenschein. Sie mußte die Augen schließen, so unbarmherzig hell schossen die Strahlen herein.

„Sieh hinaus, Else!“ Frau von Ratenow faßte sie an der Hand und zog sie zum Fenster. „Schau, wie die Knospen springen an den Apfelbäumen, und wie blau der Himmel ist! Man soll die Todten ehren, Kind, aber der Lebendigen nicht darüber vergessen, und Du hast Pflichten gegen das Leben, fasse Dein Herz in die Hand!“

Das Mädchen hob nicht den Blick, sie war womöglich noch blasser geworden.

„Ich gehe nun hinunter, Else, ich habe noch ein paar Worte mit Frieda zu reden; von neulich her. Derweilen schicke ich Dir Deinen Bräutigam herauf. In solchen Tagen tritt die Etiquette in den Hintergrund, und zudem ist er kein junger Fant. Wenn Ihr zurück kommt vom Kirchhofe, so trinkt Ihr eine Tasse Kaffee bei mir. Gott befohlen, Else.“

Sie war gegangen. Wie im wilden Schmerz griff das Mädchen an die Stirn und krallte die kleine Hand in das blonde weiche Haar. Gab es denn keinen Ausweg mehr? Ihre Augen flogen fast entsetzt durch das Zimmer; nun sollte sie ein Versprechen einlösen, dem ihr Herz so fremd gegenüber stand! Ach, frei sein, frei sein nur noch einmal! Es war so entsetzlich zu wissen, daß jeder solcher Gedanke eine Sünde. Ganz mechanisch nahm sie das zierliche schwarze Mantelet um und setzte das Trauerhütchen auf. Dann sanken die Hände, die die Schleife binden wollten, schlaff hernieder – dort auf der Schwelle. – –

„Onkel!“ stammelte sie.

Er war herüber geschritten zu ihr und hatte ihre beiden Hände in die seinen genommen; nun zog er sie an die Lippen.

„Meine theure Else,“ sagte er weich, „es war eine schwere Stunde, in der wir uns gefunden, aber eine ernste und heilige zugleich, die Bürgschaft für eine Zukunft im treuen und herzlichen Zusammenleben.“

Er sprach warm, aber es klang dennoch steif, was er sagte, fast pedantisch. Es war, als höbe sich die Brust des Mädchens wie erleichtert, aber sie schwieg.

„Ist es Dir recht, Else, wenn wir jetzt zusammen das Grab Deines Papa’s besuchen?“

Sie nickte. Er nahm den Sonnenschirm vom Tisch und reichte ihr denselben, und dann bot er ihr den Arm; sie legte kaum fühlbar die Hand hinein, so verließen sie das Zimmer und schritten die Treppe hinunter, durch den Flur bis zum Wagen. Er hob sie hinein in die schwellenden Kissen aus weicher silberfarbiger Seide und breitete sorglich die köstliche Decke über ihre Kniee. Sie hatte die Augen noch nicht aufgeschlagen, jetzt, im raschen Vorüberfahren, hob sie den Blick; Frau von Ratenow stand am Fenster und winkte mit der Hand.

Ein unsäglich elendes Gefühl kam über das Mädchen, als sie so dahin rollte in dem eleganten Fuhrwerk; wie verkauft, wie ihrer selbst nicht würdig kam sie sich vor, und mit einer raschen Bewegung zog sie den Crêpschleier vor das Gesicht; es war ihr als schäme sie sich, daß die helle klare Frühlingssonne ihr in die Augen scheine.

Sie bemerkte nicht den dargebotenen Arm beim Eingang des Kirchhofes, sie schritt hastig vorwärts.

„Wo willst Du hin, Else?“ fragte er, „das Grab ist auf dieser Seite.“

Aber sie war schon an einem andern Hügel niedergesunken und hielt die Hände in einander gerungen, wie im verzweifelten Gebet. Wenn sie noch lebte, dann – eine Mutter kann ihr Kind nicht hineinstoßen in ein liebeleeres Leben, nein, niemals!

Er stand abseit, ruhig wartend. Es dauerte lange, bis sie sich erhob, sich umwandte und ihm folgte zu dem frischen Hügel, an dem noch die Erdschollen unordentlich lagen, ein trauriger Anblick, den man unter zahllosen Kränzen zu verbergen gesucht hatte.

Sie verharrte auch hier ohne ein Wort, ohne eine Thräne; er faßte nach ihrer Hand, sie entzog sie ihm leise.

„Wollen wir fahren?“ fragte er nach einer Viertelstunde tiefen Schweigens. Sie bejahte und schritt wieder rasch voran durch die schmalen Wege zwischen den Gräberreihen. Am Wagen zögerte sie, sie wäre viel lieber gegangen. Er bot ihr schweigend die Hand zum Einsteigen und setzte sich schweigend neben sie. – Er wußte, was es heißt, von einem frischen Grabe heimzukehren, er fand ihr düsteres Wesen nur zu begreiflich; sie hatte überhaupt etwas Scheues, Ernstes, zuweilen sogar Herbes. Sie sollten erst wieder lachen lernen, die braunen Kinderaugen, wenn sie nicht mehr auf Noth und Sorge zu blicken brauchten, wenn das berauschende Parfüm eines sorglosen, sonnenhellen Daseins um die blasse Stirn wehte in den behaglichen Räumen auf Bennewitz und in dem köstlichen Park. Sie würde es wieder finden, das Lächeln, auf den Reisen; Paris wollte er ihr zeigen zu allernächst, sie war doch eben auch nur ein sterbliches Mädchen, und Paris - nun Paris, das ist ein undefinirbar verlockendes Wort für ein Frauenohr.

Sie hatte wieder das Gesicht in den Schleier gehüllt und sah nicht rechts noch links. Vor der Reitbahn, an der sie hinfuhren, standen Lieutenant von Rost und der Rittmeister von H. Sie grüßten tief und blickten dem Gefährt nach und dem schwarzen Schleier, der einen Moment durch das Fenster des Wagens flatterte.

„Noch hat sie es nicht gelernt,“ sagte Rost, „wie eine grande dame in den Polstern zu liegen; sie saß wie ein gescholtenes Kind auf der Schulbank. Na, lange wird’s nicht dauern, die Weiber haben ein unglaubliches Geschick für so etwas.“

„Glauben Sie, daß es von ihrer Seite Passion ist?“ fragte von H.

„Pah!“ machte Rost und sah seinem Pferde entgegen, das eben der Bursche heranführte.




Frau von Ratenow war indessen wirklich bei Frieda gewesen; die Laune der jungen Frau schien so unverbesserlich wie ein Landregen, der am Siebenschläfer fällt. Sie hatte kaum ein Wort der Theilnahme gehabt für die Verwaiste. Lili war einmal hinauf gekommen mit dem Vorsatz, sehr kühl zu condoliren; aber dem abgehärmten stillen Mädchen gegenüber war ihr gutes flatterhaftes [175] Herz dennoch übergeflossen; sie hatte rothgeweinte Augen, als sie wieder zu Frieda kam.

„Mein Gott, weswegen denn?“ sagte ärgerlich die junge Frau, „sie hat ja doch ihr Glück dabei gemacht! Fange Du nicht auch so an wie Moritz, der mit einer Miene diese Verlobung verkündet, als sei mindestens ein Weltunheil im Anzuge.“

„Aber Frieda! Man sieht doch nicht so aus, trotz aller Trauer, wenn man ein Glück sein nennt! Nein Frieda, Du bist schlechter Laune und willst Jemand haben, den Du ärgern kannst. Ich kenne Dich ja doch, kleine Schwester, gelt? Sie hat Dir einmal einen Courmacher weggefangen, Friedchen. Wie? Auf Moritz kannst Du im Ernste doch gar nicht eifersüchtig sein; guter Gott, er hat sich im Leben noch um keine Andere echauffirt, als just um Dich.“

Aber weder Neckerei noch Zuspruch hatte vermocht, die schlechte Laune der schönen Frau zu bannen; es ging ja Alles drunter und drüber, seit Else hier, und jetzt war gar keine Aussicht, daß sie das Haus verließ. Man mußte womöglich noch der Trauer wegen Rücksicht nehmen, sie war eben jetzt keine Person mehr, die sich übersehen ließ, sie war die Braut eines Mannes, der immerhin zu den Tonangebenden gehörte in jenen Kreisen, die in der Provinz als die ersten galten. Und Frieda hatte auf ihr dunkelblaues Costüm eine Korallenbroche gesteckt, denn sie trauerte nicht mit; was ging sie auch der alte verkümmerte Mann an, der seine zwei müden Augen geschlossen!

Die alte Dame aber war zu ihr eingetreten mit einem solchen Ausdruck von Befriedigung in ihrem vollen Antlitz, daß die schwarze Crêphaube einen ganz wunderlichen Contrast dazu bildete. Alles das, was sie für das Mädchen erhofft, war in Erfüllung gegangen, das arme kleine Gör hatte wirklich und wahrhaftig das große Loos gezogen. Und wie hübsch sie sich benahm, so ernst und so gefaßt und dennoch so stolz, und wie „niedlich“ sie aussah in den tiefschwarzen Gewändern! Nicht einmal mehr hatte sie versucht, wie vor dem Tode des Vaters, die Abwehrende und Spröde zu spielen – ach ja, solcher Blick in ein Auge, das sich schließen will für immer, hat eine ernste hochheilige Macht, und läßt alles wie Tand und Kinderspiel erscheinen, was Einen noch werth gedünkt bis dahin. Else hatte gewiß gern die stützende Hand erfaßt, die sich ihr bot just in dem Augenblick, da ihr Lebensschifflein steuerlos zu treiben begann auf dem wilden Meere des Lebens!

„Sie ist ein gutes kluges Kind, die Else, Gott segne sie!“ Die Traner um den Hingeschiedenen war bei der alten Dame nicht allzutief. Freilich, Eines that ihr leid, sie hätte ihm gern das Glück gegönnt, ein paar Jahre noch recht behaglich zu leben, aber Gott wußte auch hier wohl das Richtige; sie hatten sich ja doch einmal nicht besonders vertragen, der Bennewitzer und er, möglicher Weise hätte er die völlige Harmonie gestört. Und kränklich war er immer gewesen – ja, ja, er war erlöst – mochte er sanft ruhen.

Sie ließ sich mit einem sehr freundlichen „Guten Morgen“ in einen von Frieda’s zerbrechlichen Fauteuils nieder und erkundigte sich mit heller Stimme nach dem Befinden der Enkelchen, so daß die junge Frau förmlich verwundert ihre blauen Augen auf sie richtete.

„Na, Friedchen,“ fuhr sie behaglich fort, „was sagst Du eigentlich zur Else? Deine närrischen Mucken von neulich sind doch hoffentlich verflogen, wie?“ Und sie griff nach der Hand der jungen Frau. „Höre, Schatzkind, mir ist eine große Last von der Seele genommen, Du siehst es mir wohl an, und – wenn mich was freut, das weißt Du ja, so habe ich es gern, wenn auch andere Leute vergnügt sind. Du kannst Dir einmal etwas ganz besonders Hübsches zum Geburtstage wünschen, Friedchen. Ja? Na, nur heraus mit der Sprache – Lili, helfen Sie ’mal.“

Die junge Frau machte noch immer keine freundliche Miene, obgleich es verheißungsvoll genug lautete, was da in ihre Ohren klang, denn nobel war Mama Ratenow immer in ihren Cadeaux.

„Du bist sehr gütig, Mamachen,“ kam es zögernd über die vollen Purpurlippen; „ich –“

„Nun, Du hast Zeit, Dich zu besinnen; übereile Dich nicht. Ich hatte so daran gedacht, wie es wäre, wenn Moritz mit Dir eine Reise machte, eine Saison in Baden-Baden, nach der Schweiz und den italienischen Seen – wie? Auf die Kinder will ich wohl achten. Na, überlege Dir es, mein Kücken. Guten Morgen! Ich will nur ’mal nach Moritz sehen, er ist bei den Lämmern. Guten Morgen, Kinder!“

Ja freilich, sie verstand es; sie wußte für jeden Menschen die Melodie zu finden, nach der er gern tanzte, und sie wußte auch, daß niemals die Wirkung ausblieb. So auch hier. Die beiden Schwestern saßen plötzlich eng an einander geschmiegt auf der Chaiselongue und blätterten in der neuesten Modezeitung; da war ein so wunderhübsches elegantes Reisecostüm; wenn man das in einer andern Farbenzusammenstellung wählte, vielleicht in bleu gensd’armes? Moritz reiste ungern, freilich, es war ihm zu unbequem, und er scheute die Ausgaben, denn Frau Frieda reiste nicht billig – nun aber konnte er nicht anders. Reisen! O Wort voll Entzücken! Reisen – Baden-Baden – !

Moritz war wirklich der Einzige, der halsstarrig blieb.

„Was ist es nur mit Dir, Jung?“ fragte die Mutter, „wie kannst Du Dir die dumme Eifersüchtelei mit Frieda so zu Herzen nehmen? Sie ist auf dem besten Wege, vernünftig zu werden.“

Er griff sich wie ärgerlich an den Kopf. „Du hast mich in falschem Verdachte, Mutter. Ich habe diese Laune Frieda’s einfach ignorirt, wenn ich auch nicht umhin kann, einzugestehen, daß mich ihr Benehmen verletzte. Es mag übrigens sein, daß sie eine Spur von Recht hatte – ich war vielleicht zu voreilig besorgt um des Mädchens Geschick.“

Sie gingen zusammen über den Hof während dieses Gespräches; die Frühlingssonne lag golden auf dem alten Herrnhause; die großen Linden am Thorwege hatten smaragdgrüne, fast transparente Blätter; auf den Dächern der Wirthschaftsgebäude sonnten sich die Tauben in langer Reihe, und plötzlich schwangen sie sich empor und ihr Flügelschlagen glich silbernen Funken auf dem tiefblauen Himmelsgrunde.

Ein Wagen rollte pfeilschnell durch die Einfahrt und hielt vor der Freitreppe.

„Das Brautpaar, Moritz,“ sagte Frau von Ratenow, rascher vorschreitend. „Wo willst Du hin, Moritz?“

Der Sohn hatte die Mütze vom blonden Scheitel genommen und ging grüßend dem Pferdestalle zu.

„Ich will nach der Sultana sehen, der Roßarzt kommt heute, um den Fuß noch einmal zu untersuchen.“

„Komisch!“ murmelte die alte Dame, eilig weiter gehend, und sie holte gerade noch das junge Paar an der Hausthür ein und drückte die kleine Mädchenhand im schwarzen Lederhandschuh.

Sie sah merkwürdig aus, die Else, so seltsam starr und entschlossen. Herr Gott ja, ihr Vater – aber dies war doch unnatürlich, hätte sie nur wenigstens geweint! – Und so saß sie auch in dem Fauteuil beim Kaffee in dem behaglichen Zimmer der Tante; nach dem Gartensalon standen die Flügelthüren geöffnet, und die ganze weiche warme Frühlingsluft zog bis hier herüber; auf den Steinfließen der Terrasse lag voll und heiß der Sonnenschein, und einzelne Strahlen fielen wie scharf begrenzte Streifen in das Gemach, und darinnen tanzten Millionen Sonnenstäubchen.

Das Mädchen hatte den feinen Kopf gewandt und sah regungslos dort hinein mit den heißen Augen, ohne ein Wort zu sprechen, ohne den leisesten Antheil an der Unterhaltung zu nehmen. Was sollte sie auch dabei?

Sie kam sich vor wie Eine, die, ausgestoßen aus einem blühenden Garten, in winterliches Eis und Schnee versetzt wurde; sie stand darinnen und fror, fror bis in’s innerste Mark. Und von jenseits winkten blühende Rosen und fragten:

„Warum ließest Du Dich zwingen?“

Und die Schwalben flogen vorbei und zwitscherten:

„Ist das Dein Muth gewesen, schämst Du Dich nicht?“ –

Und sie schämte sich; wie ein Gluthstrom packte sie die Scham, die echte mädchenhafte Scham, daß sie aufsprang und hinaus eilte auf die Terrasse und in den Garten durch die lieben alten Wege, immerzu in hastigen Schritten.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 12, S. 189–191

[189] „Beste Frau von Ratenow“ sagte der Bennewitzer, als Else den Gartensalon so plötzlich verlassen hatte, „ist meine Braut krank? Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, diese stumme Verzweiflung macht mich ängstlich – sollte es wirklich die Erschütterung über den plötzlichen Todesfall allein sein, die sie so völlig verändert hat?“

Die alte Dame schüttelte sorglos das Haupt.

„Mein lieber Hegebach! Die Mädchen von heutzutage sind anders als zu unserer Zeit; da war noch frisches kerniges Leben, heute gehört eine Portion Weltschmerz zum guten Tone. Und im Uebrigen – denken Sie, es ist der Begräbnißtag, und sie hat trotz Allem und Allem schier lächerlich zärtlich an dem Vater gehangen.“

„Meinen Sie, gnädigste Frau?“ fragte er langsam und setzte sich etwas bequemer in das Polster des tiefen Lehnstuhles, als er sich vorher erlaubt hatte in Gegenwart des jungen Mädchens. „Ich weiß es nicht; sie kam mir noch vor Kurzem wie ein Kind vor; es war wohl der Ausdruck der Augen, der es hauptsächlich machte. Als ich heute hinaufkam zu ihr, um sie abzuholen, da traf mich ein Blick – ja, Sie werden mich sentimental schelten, gnädige Frau, aber ich kann diesen Blick nicht wieder bannen, es lag so etwas Vorwurfsvolles, Fragendes darin. Ich habe schon einmal ein Paar Augen mich so anschauen sehen, ich hab’s nie vergessen können. In Rußland war es, ein junges Zigeunerweib stand am Wege und bettelte. Mein Kutscher, ein roher Gesell, hieb ihr mit der Peitsche über den Kopf; sie zuckte nicht mit der [190] Wimper, aber ihre großen dunklen Augen wandten sich zu mir, eine Welt voll Weh lag in diesem Blicke. Und diese Augen über dem schmerzverzogenen Munde, diese fragenden vorwurfsvollen – Else hatte sie, als ich heute eintrat bei ihr. Und ich – ich kann nicht anders, ich muß es aussprechen, es ist mehr darin, als die Trauer um den verlorenen Vater.“

„Hegebach!“ klang es im Tone des tiefsten Vorwurfes. Es war ein unglaublich unheimliches Gefühl, das die stattliche Frau bei seinen Worten überkam. Sie schüttelte den Kopf und sah ihr vis-à-vis wie prüfend an, aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie nahm in ihrer Verlegenheit die Kaffeekanne und schenkte ihre Tasse voll bis zum Rande; sie stand auf, präsentirte ihrem Gaste eine Cigarre, und dabei fragte sie: „Wo kann sie sein, die Else? – Wollen wir einen Gang machen durch den Garten?“

Sie wanderten in den Wegen umher, aber Else erblickten sie nicht. Frieda und Lili kamen mit den Kindern vom Spazierenfahren zurück; sie sahen es über die Mauer hinweg, und sie sahen auch Moritz fortreiten; er grüßte zu ihnen hinüber und rief, daß er nach den Saatäckern wolle.

„Ich begreife nicht, wo Else sein mag; sie ist ein wunderliches Mädchen.“ Und „Else! Else!“ scholl die kräftige Frauenstimme über den Garten hin.

Es blieb still.

„Ich bitte, liebste Frau von Ratenow, lassen Sie meine Braut; sie wird nicht aufgelegt sein zum Sprechen, ich kann es ihr nachfühlen.“

Sie gingen schweigend weiter. Hier und da blieb er stehen und sah auf die knospenden Sträucher und nannte die botanischen Namen. Die erregte Frau an seiner Seite antwortete nicht darauf.

„Ich möchte mich heute frühzeitig verabschieden.“ Der Bennewitzer war stehen geblieben und zog die Uhr. „Ich bitte, grüßen Sie Else herzlich von mir.“

„Ich werde sie suchen lassen, lieber Hegebach.“

„Nein, ich muß sehr bitten – vielleicht weint sie sich aus; stören Sie sie nicht, gnädige Frau, ich komme morgen wieder, nie soll man eine Stimmung erzwingen wollen.“

Er beauftragte den Gärtnerburschen, der vorüberging, das Anspannen seines Wagens zu bestellen, rauchte ruhig weiter und fragte nach ein paar weitab liegenden Sachen.

„Apropos, lieber Hegebach!“ unterbrach die alte Dame, „was sagten Sie doch, wie heißt der Goldschmied in Berlin, bei dem Sie die Verlobungsringe bestellten?“

„Haller und Compagnie,“ erwiderte er, „sie werden vor acht Tagen nicht fertig sein.“

„Natürlich nicht,“ erklärte sie, „weil in solchen Geschäften sich Alles häuft. Der Thomas hier am Markte hätte sie auch geliefert, und ebenso gut und rascher. Aber darin sind Sie wie alle Anderen, Hegebach.“

Er lächelte, aber er antwortete nicht.

„Ich glaube, der Wagen fuhr schon vor,“ sagte er dann, „gestatten Sie, daß ich mich empfehle; auf Wiedersehen morgen, gnädige Frau, und grüßen Sie meine kleine traurige Else.“

Er küßte ihr die Hand, stieg elastisch die Stufen zur Terrasse empor und verschwand im Innern des Hauses. Nach einer Weile rollte sein Wagen eilig über den gepflasterten Hof.

„Natürlich! Er hat es übel genommen,“ sagte Frau von Ratenow, die noch immer am Fuße der Verandatreppe stand; „es ist ja aber auch ein unverantwortliches Benehmen von dem Kinde. Herr Gott, was hat man für Aerger mit dem jungen Volk – sie sollte meines Vaters Tochter gewesen sein!“ Und sie wandte wieder um und ging mit sehr erregten Mienen und großen Schritten in den Gartenwegen umher. Gut – heute wollte sie nichts mehr sagen, aber morgen – es war ja doch unerhört unschicklich, so davon zu laufen, und es war sogar gefährlich.

„Und was sollte zum Beispiel das heißen von dem Bennewitzer, diese Geschichte von den Augen? Daß er in seinem Alter dem Kinde noch in die Augen gafft wie ein Fähnrich, das hätte er auch just nicht nöthig; es stand ihm verzweifelt schlecht, dieses Weichherzige, Schmachtende, er war früher nicht so.“ Und sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stand nach ein paar Minuten plötzlich wie ein düsteres Gespenst im Milchkeller, so daß die Mamsell fast in die Kniee sank vor Schreck; sie hatte überall die Gnädige vermuthet, nur nicht hier just, sie trank doch da oben mit den Brautleuten Kaffee?

„Na, fallen Sie lieber gar in Ohnmacht,“ sagte sie mit ihrer lauten Stimme, „’s ist Mode jetzt.“ Und sie ging von Schüssel zu Schüssel und guckte in alle Butterfässer. Sie war ganz schlechter Laune geworden, die Gnädige. Sie konnte nicht einmal stricken, wie sonst; sie sah immer das blasse Gesicht des Mädchens und hörte den Bennewitzer von ihren Augen faseln. Es ging auch nicht anders, sie mußte es ihr sagen, in aller Güte. Aber sagen mußte sie es!

Sie erhob sich schon, um hinaufzugehen, da kam Moritz und setzte sich so recht breit in den Stuhl seines seligen Vaters, ihrem Platze gegenüber, und er hatte allerhand Angelegenheiten, sie mußten erst abgesprochen werden. Seine Frage: „Ist Hegebach schon fort?“ beantwortete sie mit einem kurzen: „Wie Du siehst!“ und er sprach dann eilig weiter von Esparsette und anderen Futterkräutern – sie konnte ihm doch nicht sagen, wie sich das Mädchen benommen.

„Wo ist Else?“ fragte er wieder dazwischen.

„Vermuthlich oben. Aber wie kommst Du denn dazu, die Sultana von dem jungen Roßarzte behandeln zu lassen? Ich sah ihn da vorhin aus dem Stalle treten.“

„Ich wollte meinen Liebling nicht länger warten lassen, und der Kreisthierarzt ist krank.“

„So, so!“ sagte sie, aber sie dachte schon an etwas ganz Anderes. Und dann kamen die jungen Damen mit den Kindern; Lili war so lustig und die Kleinen waren so drollig; es war ein Lachen und Kichern und Jubeln in dem dämmerigen Zimmer. Als sie endlich „Gute Nacht!“ sagten, die Kleinen, war es schon spät, und auf den Dächern des Hofes lag blendend weiß der Mondenschein.

„Speisest Du mit drüben?“ fragte Moritz, „und kommt Else herunter?“

„Ich danke,“ erwiderte sie, „die Sophie mag für uns Beide hier serviren, die Else ist doch noch nicht in der Verfassung – weißt Du.“

„Dann gute Nacht, Mutter!“

Die alte Dame erhob sich eilig von ihrem Sitze, sie mußte mit Else reden. Rasch stieg sie die Treppen empor und klinkte die Thür zu des Mädchens Zimmer auf; es war ganz erfüllt mit blendend weißem Lichte, die Fenster standen weit geöffnet, und mit den Mondesstrahlen hatte sich der süße Veilchenduft hinein geschmeichelt. Es war still innen, nichts regte sich.

„Else?“ fragte sie leise und sah prüfend im Zimmer umher. Da lag das Mädchen auf dem Bette; die alte Dame schritt hinüber und beugte sich über sie. Wahrhaftig, sie schlief, sie schlief! Und in der Hand hielt sie einen kleinen verwelkten Veilchenstrauß fest an die Brust gedrückt. Am Fußende des Bettes aber stand geöffnet die alte Truhe, und halb herausgezogen hing da ein zerknittertes weißes Kleid mit rosa Schleifen.

Sie kannte das Kleid, und sie kannte den Veilchenstrauß, und sie sah das Mädchen vor sich, wie sie es an jenem Abende gesehen mit den seligen glücklichen Kinderaugen. Regungslos stand sie, es war ihr plötzlich wunderbar zu Muthe, der alten Dame; so wie sie es seit lange, lange nicht mehr gekannt; – machte es der Veilchenduft und die Nachtigall, die draußen sang in langgezogenen süßen Tönen? Wie auf Elfenschuhen schlich sie hinaus und den Corridor hinunter, und dann stand sie in ihrem finsteren Zimmer und hatte die Hand an die Stirn gelegt, eine lange Weile.

„Unsinn!“ sagte sie endlich leise und ging zu dem Tischchen, wo die Schwefelhölzer standen. Und „Unsinn!“ wiederholte sie noch einmal laut, und, risch! sprühte eine helle Flamme auf unter ihren Fingern. „Morgen früh sage ich ihr es aber, und das ordentlich!“




In aller Morgenfrühe war ein Regen gefallen und trübe Wolken verhüllten die aufgehende Sonne, aber grün war es darnach geworden, und wie grün!

Im Seitengebäude waren die Mägde schon wach, die Knechte des Hofes begannen zu futtern, im Herrenhause aber herrschte noch Todtenstille; nur den Corridor entlang kam ein leiser schwebender Schritt und die Treppen ging er hinunter; durch den [191] Flur und die Küche huschte er, und durch das Gesindezimmer in’s Freie.

Es war empfindlich kühl, und Else von Hegebach zog den Schleier vor das Gesicht und ging, quer über den Hof, zum Thore hinaus. Die Mamsell, die just in den Milchkeller wollte, sah ihr kopfschüttelnd nach.

„Ich glaube, sie will schon auf den Kirchhof,“ sagte sie zu dem Küchenmädchen.

„Sie hatte eine Reisetasche in der Hand,“ meinte die Andere. Und dann gingen sie hinunter.

In der Thür des Pferdestalles aber stand ein großer blonder Mann und sah ihr nach mit den ehrlichen blauen Augen und ernstem Gesichte. Er wußte, was sie wollte, und er rührte keinen Fuß, um ihr nachzueilen, um sie zu halten „Wohin aber?“ fragte er halblaut, und so stand er regungslos, bis die schwebende dunkle Gestalt am Ende der Allee verschwunden war. Dann betrachtete er noch einmal das kranke Pferd und klopfte ihm den glänzenden Hals, als es ihn ansah mit den klugen Augen, und als er nach einer halben Stunde langsam über den Hof in das Haus schritt, hörte er das grelle Pfeifen einer Locomotive von jenseits der Stadt.

„Fahre wohl, Else, meine alte Deern,“ sagte er leise. „Ob Du klug gethan? Ich weiß es nicht – aber daß Du recht thust, das weiß ich.“

Es war um die neunte Stunde, als Frau von Ratenow die Jungfer hinaufschickte und Fräulein von Hegebach bitten ließ, zu ihr zu kommen. Die alte Dame saß am Fenster, wie immer, und sah sehr ernst aus, auch ein bischen bleich. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt; beängstigende Träume mit allerlei bösen Ahnungen hatten sie gequält; das fatale weiße Kleid und der welke Veilchenstrauß, und das sonderbare Wesen des Mädchens gestern hatten eine große Rolle dabei gespielt. Und über sich selbst war die alte Dame heute am nüchternen Morgen in hellen Zorn gerathen – sie hätte das Mädchen gestern Abend wecken sollen, ihr zürnen müssen! Durfte sie an einen Andern denken, als Braut?

Und was war denn dieser Andere? Ein Bürschchen, wie sie zu Dutzenden umherlaufen, durch nichts ausgezeichnet, als durch ein bischen Talent auf der Geige. Es mußte ein Ende gemacht werden, in aller Güte – ja, aber ein Ende.

„Das gnädige Fräulein ist nicht in ihrem Zimmer,“ rapportirte das Mädchen.

„So such’ im Garten!“ war der Befehl.

„Ach Gott!“ Die Dienerin blieb stehen, „ich glaube nur, dort wird das Fräulein auch nicht sein, gnädige Frau. Die Mamsell sagt ja, Fräulein von Hegebach wäre vor Thau und Tag schon auf den Friedhof gegangen.“

„Unsinn!“ Die alte Dame erhob sich. „Wann soll das gewesen sein?“

„Gegen vier Uhr, gnädige Frau, sagt die Mamsell.“

„Und jetzt ist es Neun! Such’ im Garten.“

Das Mädchen ging. Die Zurückbleibende setzte sich ruhig wieder nieder und blickte über den Hof hinweg. Die Jungfer kam und kam nicht. Die alte Dame wollte sich nicht ängstigen; wo sollte sie auch sein, die Else? Sie würde schon kommen.

„Ich kann das gnädige Fräulein nicht finden,“ berichtete die Dienerin. „Dörte sagt auch, sie hätte eine Tasche in der Hand gehabt.“

„Es ist gut, sie wird schon kommen – das gnädige Fräulein.“

Das Mädchen verließ das Zimmer. Eine Weile verharrte die alte Dame noch still auf ihrem Platze, dann ging sie die Treppe hinauf und trat in die Stube der Vermißten. Alles wie sonst – nichts fehlte, als die kleine Briefmappe, das Crucifix über dem Bette und ihr Gebetbuch; aber das bemerkte sie noch nicht. Die Truhe war sorgfältig geschlossen, und als Frau von Ratenow den Deckel hob, lag das zerknitterte weiße Kleid darin, sorgfältig zusammengelegt. „Sie kommt schon wieder; – Gott weiß, was sie vorhat heute früh!“

Nun trat sie noch einmal zu dem kleinen Tische unter dem Bücherbrett; da lag ein Brief! „Ein Brief – versiegelt?“ Und es war so eine kritzlige neumodische Handschrift; die alte Dame mußte erst die Brille aus der Tasche holen. „An Frau von Ratenow,“ las sie.

Sie setzte sich hin und löste das Siegel, langsam und ohne Hast, aber sie war bleich geworden bis in die Lippen.

 „Liebe, liebe Tante!

Halte mich nicht für allzu undankbar, weil ich heimlich Dein Haus verlasse, in dem mir so unzählige Gutthaten zu Theil geworden sind während meines ganzen Lebens! Mir blieb keine Wahl. Ich stand waffenlos und müde Euch Allen gegenüber; nur soviel Kraft fand ich noch – um zu gehen. Ich kann nicht mit einer Lüge im Herzen leben. Die Wahrheit zu sagen – mündlich zu sagen, vermochte ich nicht; ich wollte es thun, als ich gestern mit Herrn von Hegebach an Papa’s Grabe stand – und ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst, Tante. Ich bitte den lieben Gott darum, Du wirst dann milder urtheilen über mich!

Von D. aus, wohin ich meine Schritte lenke, werde ich an Herrn von Hegebach schreiben. Ich weiß, er ist zu edeldenkend, um mir nicht gern ein Versprechen zurückzugeben, das in einem Moment gelähmten Willens und ohnmächtiger Angst mir entrissen wurde.

Lebe wohl, liebe Tante, ich bin und bleibe in steter inniger Dankbarkeit Deine Dich hochverehrende Nichte
Elisabeth von Hegebach. 

N. S. Ich kann in D. jederzeit die Stellung einer Hülfslehrerin antreten; ängstige Dich nicht wegen meiner Zukunft.“

Die zitternden Hände ließen das Briefblatt sinken. „Daß Gott – wie war es möglich!“

Noch einmal nahm sie das Schreiben vor die Augen, als habe sie nicht recht gelesen: dann sah sie nach der Uhr, und wie unter einer schweren Last erhob sie sich und suchte ihr Zimmer auf. Sie klingelte und befahl der Jungfer mit abgewandtem Gesichte:

„Ich lasse meinen Sohn bitten herüber zu kommen.“

„Der Herr Baron sind ausgeritten,“ war die Antwort.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und fing dort an zu räumen, ein Necessaire, Negligé und allerhand Nothwendiges zur Reise. Aber sie griff immer etwas Verkehrtes und konnte das Richtige nicht finden; dabei faßte sie sich öfter an die Stirn, und dann suchte sie das Coursbuch; um elf Uhr erst ging der Zug via Halle.

Sie klingelte noch einmal und bestellte den Wagen, und der Johann sollte sofort mit einem Billet nach Bennewitz.

„Herr von Hegebach ist in der Stadt, ich sah schon seine Equipage heute früh,“ bemerkte schüchtern das Mädchen.

War denn Alles verhext heute? „Es ist gut,“ sagte sie wieder, aber der Zorn begann sich mächtig in ihr zu regen. Das war der Dank für alle ihre Liebe! Sie lief davon, wie es in Romanen vorkommt, sie stieß in grenzenloser Unüberlegtheit Alles, Alles von sich, was ihr, der Heimathlosen, wie ein großes unverhofftes Glück in den Schooß gefallen; sie compromittirte sich und das Haus, in dem sie eine Heimath gefunden. Das sanfte Mädchen mit den stillen braunen Augen, wo hatte sie diese unselige Energie her? Aber man durfte nicht nachgeben, der Brief an den Bennewitzer mußte verhindert werden, um jeden Preis.

Sie ging an den Schreibtisch und warf ein Telegramm auf das Papier an die Vorsteherin des Institutes zu D., Else zu ersuchen: keine Zeile zu schreiben, ehe sie nicht Rücksprache mit ihr genommen; sie käme mit dem Nachtzuge und bäte um Logis. Sie schickte das Mädchen mit der verschlossenen Depesche fort und schrieb an den Bennewitzer; er mußte doch in aller Welt wo aufzufinden sein, im Hôtel, auf dem Rathhause oder im Landrathsamt; er durfte nicht herkommen, man mußte ihm irgend etwas vorspiegeln. Wie wurde doch dieser ehrlichen geraden Natur das Lügen so schwer; sie zerriß schon den dritten Bogen. Else hat Migräne, hatte sie zuerst schreiben wollen; aber, mein Gott, er erfuhr sicher, daß sie ausgegangen. Sie habe plötzlich eine kleine Reise unternehmen müssen – Pah! wo soll sie hinreisen? Er mußte ja merken, daß irgend Etwas nicht in Ordnung. – Nein, sie konnte nicht lügen, mochte kommen, was da wollte, sie sah keinen Ausweg.

„Wenn Moritz doch erst da wäre!“

„Eine Empfehlung von Herrn von Hegebach.“ Das Mädchen brachte ein Bouquet von Maiblumen in kostbarer Manschette an Fräulein von Hegebach und einen Brief an Frau von Ratenow.

„Trage den Strauß in das Zimmer des gnädigen Fräulein,“ befahl sie und dann erbrach sie das Couvert.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 13, S. 210–214
[210] Der Brief des Bennewitzer lautete: „Mein Vorsatz, gnädigste Frau, heute bei Ihnen zu speisen, wurde mir leider unmöglich gemacht. Ich muß augenblicklich zurück nach Bennewitz, da soeben die Baucommission der M.’schen Eisenbahn die Strecke besichtigt, die über mein Terrain führt Verzeihen Sie die Eile, ich hoffe morgen mit Ihnen und meiner Braut in Ihrem trauten Heim ein paar Stunden verbringen zu können.
Ergebenft 
Hermann von Hegebach.“ 

„Gott sei Dank, es ist Frist gewonnen!“ Frau von Ratenow hatte wieder frischen Muth, sie konnte noch reisen um elf Uhr, sie konnte auch wohl auf das gütige Zureden der Schwester Beate in D. hoffen. Das Mädchen durfte nicht ihr Glück so mit Füßen von sich stoßen. Sie begann hastig ihre Vorbereitungen weiter zu treffen. Herr Gott, was mußte man nicht Alles thun um solch einen Trotzkopf! Wie ihr das Eisenbahnfahren verhaßt war, und in Halle mußte sie ein anderes Billet lösen! Ach, und der entsetzliche Trubel in Halle! Auf einmal kam ihr eine andere Idee – sie hatte das Trappeln eines Pferdes gehört und ging an’s Fenster. Wahrhaftig, er war es!

„Moritz!“ rief sie mit laut schallender Stimme über den Hof.

Er grüßte und nickte. „Gleich, Mutter!“

Und dann kam er in seiner ganzen Pomadigkeit daher, und sie hörte ihn noch im Flur mit dem Gärtner sprechen. Endlich trat er ein.

„Mein Gott, Jung, wie Du langsam bist!“ sagte sie ärgerlich.

„Hattest Du Eile? Verzeihe, Mütterchen.“

„Es ist ein Viertel auf elf Uhr, Moritz, und – – willst Du mir einen Gefallen thun, Moritz? Siehst Du, das Reisen wird mir schon sauer – fahr’ Du nach D., sprich Du mit Else, sie hat immer am meisten auf Dich gegeben. Du weißt noch gar nichts, Moritz? – nicht, daß die Krabbe ausgerissen ist? Oder doch? – Moritz, wußtest Du Etwas?“ Sie sah ihn forschend an.

Er blieb so ruhig bei ihren hastigen Worten.

„Ja wohl, Mutter, ich sah sie fortgehen.“

„Moritz! Und Du hast sie nicht gehalten, nicht mit aller Gewalt zu verhindern gesucht, daß sie ihren dummen sentimentalen Ideen folgte?“

Da stand er, so groß und breitspurig.

„Nein, Mutter!“ Und er nahm die Reitpeitsche wieder vom Tisch und bog sie in den Händen hin und her, so trotzig, wie er es als Junge gethan, wenn mal etwas nicht nach seinem Kopfe ging, und dennoch so überzeugend. „Nein, Mutter, dazu hatte ich kein Recht!“

„Mein Gott, Moritz!“ Die alte Dame war zornesroth geworden.

„Kein Recht!“ wiederholte er, „Du nicht und ich nicht, Mutter; das Recht hat, Gott sei Dank, Niemand bei unseren Gesetzen, ein Mädchen gegell ihren Willen zu einer Heirath zu zwingen.“

„Es ist um den Verstand zu verlieren! Was Ihr da alles für schöne Redensarten macht! Was zwang sie denn im entscheidenden Moment?“

„Alles! Die Menschen, die Umstände, das Leben und der Tod, Mutter. Und ihr eigen Herz schrie: ‚Nein!‘ Doch Niemand wollte es hören.“

„Aber warum, Moritz? Siehst Du denn den Grund ein? Ist es nicht in ihrer Lage ein Wahnsinn?“

„Einen Grund? Ja, frage danach nicht, Mutter; wer hat das Geheimniß ergründet, das einen Menschen zum andern hinzieht, einen von dem andern abstößt?“

„Du sprichst wie ein Versemacher, Moritz; sieh Dich doch um in der Welt, es ist Tag, heller Tag; das Menschenleben ist prosaisch, kein Idyll, es ist ein Kämpfen und Jagen, und Jeder sieht, wo er bleibt.“

„Und das, was diese Räder treibt, ist die Liebe, Mutter, und sie läßt sich nicht wegleugnen aus der Welt, wenn sich auch die Realisten noch soviel Mühe geben. Liebe und Treue – – das liegt einmal bei uns Deutschen so im Blute, Mutter,“ und er nickte ernsthaft mit dem Kopfe. „Ich kann Dir das nicht so sagen, dazu gehören schönere Worte, als ich sie im Vorrath habe.“

„Liebe?“ Die alte Dame fuhr auf. „Liebe,“ wiederholte sie, „Du meinst den kleinen Lieutenant? Was ist er gegen den Bennewitzer? Eine Null, ein Nichts – Salonverbeugungen macht er, und ein bischen geigen kann er – voilà tout.“

„Ich kenne ihn nur als einen liebenswürdigen Menschen,“ beharrte Moritz, „aber gleichviel, Mutter, auch das ist ein Mysterium. Die Liebe fragt nicht nach äußeren Dingen, nach Stellung, nach Liebenswürdigkeit; und dann – eine Null, Mutter? Gestehe doch offen, wenn Bernardi nun, nehmen wir zum Beispiel an, des Bennewitzer’s Sohn wäre, wie dann?“

„Dann wäre es eben etwas Anderes, mein Jung; hör’ auf mit dem sentimentalen Krims-Krams. Willst Du fahren?“ fragte sie kategorisch, „willst Du Else noch einmal Alles, Alles an’s Herz legen? Denn papperlapapp – ihren Bernardi kann sie doch nicht heirathen. Er hat sich sicher auch längst getröstet.“

„Was das Eine betrifft, so gebe ich Dir Recht, Mutter – heirathen kann er sie nicht, voraussichtlich nicht. Ob er sie vergessen schon, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn heute früh brachte Rost’s Bursche in Bernardi’s Auftrage einen wunderschönen Kranz für das Grab. Hinfahren zu Else aber – nein, Mutter, ich habe Dir eben meine Ansicht gesagt, ich rede dem Kinde nicht zu.“

„Gut, so fahre ich!“

„Thue es nicht, Mütterchen; es ist nicht recht.“

„Soll sie mir später einmal Vorwürfe machen, wenn sie eine alte nervöse Gouvernante geworden ist?“ fragte sie zurück. „Ich thue meine Pflicht – basta!“

„Es ist umsonst, Mutter, besonders jetzt in ihrer furchtbaren Aufregung.“

„Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott!“ sagte sie. „Du bist noch immer der alte Phantast!“ Und sie ging in ihr Schlafzimmer.




Es war derselbe Weg, den sie gekommen, und den sie nun wieder zurücklegte im schwindelnden Tempo des Schnellzuges. Aber damals war Herbstnebel, und sie fuhr in den Abend hinein, das Herz voll seliger Erwartung, heute war’s ein Frühlingsmorgen, und die Sonne schien so erbarmungslos hell auf die Wagenpolster und zeigte jeden Riß und jede abgeschabte Stelle; der kleine Spiegel dort im Goldrahmen wies ihr ein blasses Gesicht und einen müden Zug um den Mund, und das war sie, war Else von Hegebach. Wie erschöpft lehnte sie sich in die Kissen, die Augen unverwandt auf die vorüberfliegende Landschaft gerichtet. Daß dort außen die Welt im vollsten Lenzeszauber lag – das sah sie nicht; es war so schauerlich düster und leer in der jungen Seele.

Nun hatte sie die Brücke abgebrochen hinter sich; nun hatte sie Niemand mehr, kein Herz, das sie verstand, nichts, nichts! Selbst Tante Lott hatte in einem wunderlichen, halb sentimentalen, halb jubilirenden Tone geschrieben, es sei doch ein großes Glück, das ihr am Rande des Grabes zu Theil geworden, ein beneidenswerthes Glück, solch Loos gezogen zu haben! – Glück! das nannten die Leute Glück! Was denn? Den Namen eines Mannes, sein Hab’ und Gut zu theilen, nicht sorgen zu brauchen für des Lebens tausendfache materielle Bedürfnisse – das war ihnen Glück! Und dafür sollte sie Alles geben, ihre Freiheit, ihr Denken, ihr Hoffen, sich selbst mit Leib und Seele? Es überkam sie ein nervöser Schauer, sie schloß die Augen. „Nimmermehr!“ sagte sie so laut, daß sie erschrak vor ihrer eignen Stimme und die alte Dame ihr gegenüber verwundert aufschaute.

Sie hielt die Wimpern gesenkt, sie merkte es nicht; sie sah nur einen dunkelrothen Schein vor ihren Augen, und in diesem Schein sich nähernd und wieder zurückweichend, sobald sie es erfassen wollte, das Bild eines dunkellockigen Männerkopfes mit schwermüthigen Augen und dem schwarzen Schnurrbärtchen über [211] der Lippe; und aus dem Rollen und Sausen der Räder klang es wie Schlittenglocken, und wie Veilchenduft wehte es um sie herum. Und doch hatte er sich von ihr gewandt, hatte sie verlassen – weil sie ein armes Mädchen!

Sie fuhr plötzlich empor.

„Liebes Kind, sind Sie krank?“ fragte eine theilnehmende Stimme, und ein altes Frauenantlitz neigte sich über sie.

„Nein! Nein!“ wehrte sie hastig ab, dunkel erglühend. „Ich schlief nur nicht in der Nacht, und –“

„Verzeihen Sie mir, Sie stöhnten so angstvoll, liebes Fräulein.“ Die Dame setzte sich wieder auf ihren Platz. Nun griff sie nach einer Schachtel, ein ganzes Heer kleiner Veilchensträuße lag darin. „Meine Enkelkinder haben sie mir gepflückt, darf ich Ihnen eins anbieten?“ Und sie hielt dem Mädchen die süßen blauen Blumen entgegen.

Die kleine Hand faßte danach, aber es kam kein Dank. Die Geberin sah nur, wie sie den schwarzen Schleier wieder hastig vor das Gesicht zog, und darunter die Blumen an die Augen preßte; und nach einer Weile meinte sie Schluchzen zu hören, aber so ein sonderbares, wie wenn man weint mit trockenem Auge. „Auch schon Leid, und noch so jung,“ flüsterte sie und blickte zum Fenster hinaus.

Auf den Bahnhöfen war überall reges Leben; zuweilen füllte sich das Coupé aüf eine kurze Strecke, dann ward es wieder leer. Und nun verließ auch die alte Dame den Zug. Sie blieb auf dem Perron stehen und schaute auf den langsam weiter rollenden Train hin; sie hätte gern noch einmal das traurige Kinderantlitz gesehen; vergebens; sie saß wohl noch immer so regungslos in den Polstern, wie bisher.

Und nun kam die vorletzte Station, und endlich, endlich das Ziel. Else stand plötzlich auf dem Perron des wohlbekannten Bahnhofes, es war ihr, als träume sie. Blau erhoben sich die Bergkuppen des Thüringer Waldes dort drüben, wie sie es so hundertmal gesehen. Ach, der schöne Wald dort oben, der große, weite einsame Wald; wie selig hatte sie ihn durchwandert! Und hier lag sie vor ihr, die menschenleere saubere Straße mit den netten alten Häusern, wo hinter jedem Fenster Blumen in Fülle blühten; dort unten das schmucklose Kirchlein und daneben der schattige grüne Friedhof. Alles noch unverändert; nur sie – nur sie –!

Hastig schritt sie vorwärts, die Straße hinab, an dem langen Zaun vorüber und durch den Anstaltsgarten. Kein Mensch zu sehen – Gott sei Dank! Noch waren sie Alle bei der Arbeit und in den Schulstuben. Die schmäle blendend weiße Treppe im Nebenhause knarrte leise, als das Mädchen darüber ging; wie das vertraut an ihr Ohr schlug! Sie kannte es so gut, dies Knarren, und horch! Da schmetterte hellauf der Kanarienvogel, der kleine gelbe Hans, in Schwester Beatens Stüblein.

Sie pochte und sie trat dann langsam über die Schwelle des kleinen Gemaches, in der schwarzen Trauerkleidung und dem düsteren Schleier um das blasse Antlitz.

„Elisabeth?“ fragte eine tiefe ruhige Stimme, „bist Du es wirklich, Elisabeth?“

Und eine kleine alte Frau in der Tracht der Herrnhuterinnen trat vor sie, und ein paar unendlich milde Augen schauten in ihr vergrämtes Gesicht.

„Schwester Beate,“ wollte sie sagen, aber sie vermochte es nicht, sie schlang nur beide Arme um den Nacken der alten Frau, und die ganze Qual der letzten Zeit löste sich in ein fast krampfhaftes Weinen auf.

„Du bist in Trauer, armes Kind?“

„Mein Papa –“ stammelte sie.

Die kleine Herrnhuterin drückte ihr sanft die Hand und führte sie zu dem altmodischen Sopha. „Beruhige Dich erst, Elisabeth; wir sprechen nachher. Komm, nimm eine Tasse Kaffee. Daß Du kämst, wußte ich – es ist eine Depesche da.“

„Von wem?“ Das Mädchen sah entsetzt die Sprecherin an. „Was will man? Was steht in dem Telegramm?“ setzte sie hastig hinzu.

„Ich soll Dich verhindern, einen Brief zu schreiben, Kind; und dann – Deine Tante kommt heute Abend hier an.“

Else saß stumm und zitternd. „Sie lassen mich nicht!“ schluchzte sie endlich auf. „Schwester Beate, helfen Sie mir, daß ich nicht schlecht werde, so schlecht wie ein Mädchen nur werden kann – helfen Sie mir, daß ich nicht zu Grunde gehe!“

„Elisabeth, Du bist außer Dir,“ klang ermahnend die ruhige Stimme der Schwester.

Else verstummte, und die Hände, die sich unwillkürlich in einander gerungen, sanken gelöst in ihren Schooß. Sie schaute finster und forschend in das leidenschaftslose Frauenantlitz vor ihr.

„Schwester Beate,“ begann sie mit völlig veränderter Stimme, „Sie sagten mir bei meinem Scheiden, ich würde immer bei Ihnen eine Zuflucht finden, Sie würden mir in Ihrem Pensionat stets ausreichende Beschäftigung geben können. Ich komme heute, Sie darum zu bitten.“

„Es trifft sich günstig, liebe Elisabeth; in der vierten Classe ist die Stelle der Schwester Angelika frei geworden.“

Die Sprechende hielt bei diesen Worten dem jungen Mädchen ein Tellerchen mit Herrnhuter Gebäck einladend hin.

Sie wies den Teller zurück. „Wo ist Schwester Angelika?“ fragte sie.

„Abgereist, nach Afrika. Elisabeth, Du solltest doch essen, Du siehst so ermattet aus.“

„Nach Afrika? Als Missionärin vermuthlich.“

„Ja, sie wird ihren Gatten unterstützen, der in Natal eine Schule hält; das Loos traf sie, und so ist sie gegangen. Vor drei Wochen reiste sie ab.“

Das klang so ruhig, das war so einfach gesagt, als ob Schwester Angelika in einen Nachbarort zur Kirche gefahren wäre. Else kannte sie gut, das zarte blonde Mädchen, und sie wußte auch, daß die Gemeinde ihre Töchter durch das Loos zu verheirathen pflegte. Sie hatte nie darüber nachgedacht, jetzt packte es sie, wie etwas der Menschheit Unwürdiges.

„Und sie ging gern, Schwester Beate?“ fragte sie und griff mit der Hand an die schmerzende Schläfe.

„Gern? Das hat sie wohl Gott allein nur gesagt: aber sie weiß, daß es sein Wille ist, sie ging freudig.“

Es wurde still in dem kleinen Zimmer. Erdrückend schwer dünkte dem Mädchen die Luft darinnen. Schwester Beate saß jetzt über den Aufsatzheften vor dem Tisch am Fenster und corrigirte. „Du hättest einen Augenblick ruhen sollen, Elisabeth, Du siehst bleich aus und abgespannt,“ sprach sie dazwischen. Das Mädchen schüttelte den Kopf und legte, zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter.

„Schwester Beate,“ begann sie mit zitternder Stimme, „Sie haben mir einmal gesagt – es ist noch gar nicht lange her – Wahrheit sei das Einzige, was uns retten könne aus Noth und Bedrängniß, sie stehe über allen andern Tugenden?“

Der kleine Frauenkopf unter dem blüthenweißen Häubchen nickte bejahend, ohne aufzuschauen. „Gewiß, liebe Elisabeth, Du warst immer ein ehrliches gutes Kind, soweit Menschensinn das beurtheilen kann.“

„Es klingt wunderlich, Schwester Beate, was ich Sie fragen will; aber nicht wahr, in Angelika lebte noch kein anderes Bild vorher, sie trat nicht mit einer Lüge vor den Altar?“

Jetzt sah sie auf, die stille Herrnhuterin. „Nein, Elisabeth, ihr Herz ist wie ein unbeschriebenes Blatt; wir leben still hier und abgeschieden und die Leidenschaften kommen nicht über unsere Schwelle, die draußen die thörichten Menschenherzen quälen und peinigen; wir kennen sie kaum vom Hörensagen. Du mußtest das wissen, Elisabeth; was willst Du mit Deiner Frage?“

Das Mädchen lag plötzlich vor ihr auf den Knieen und barg den Kopf in die Falten des grauen Wollkleides.

„Ich wollt’, ich wäre nie hinausgegangen, ich wollt’, ich hätte ihn nie gesehen!“ schluchzte sie.

„Steh’ auf, Elisabeth, und fasse Dich.“

Die Herrnhuterin strich mitleidig zärtlich über das Haar des Mädchens.

„Helfen Sie mir, Schwester Beate,“ flehte Else noch einmal und sah sie an mit den gerötheten nassen Augen, „daß ich nicht schlecht werde und nicht lüge! Sagen Sie meiner Tante, daß ich ihm schreiben muß und die Wahrheit aussprechen, um jeden Preis.“

„Ihm – Elisabeth?“

„Ja, dem, den sie meinen Bräutigam nennen seit drei Tagen.“

Die Schwester Beate erwiderte nichts darauf.

„Du bist immer mein Liebling gewesen, Elisabeth,“ sagte sie dann, „aber wird es Dir gefallen hier? Denke es Dir nicht so leicht, wenn man erst draußen war in dem bunten Leben, sich hier einzurichten in der Stille; als Lehrerin, nichts weiter als [214] die Pflicht vor Augen und den Zeiger der Uhr, der die Stunden der Arbeit weist. Vor Jahren kam auch einst eine liebe Schülerin weltmüde und matt mit krankem Herzen zurück und bat, ich solle sie behalten immer, immer. Es ging vortrefflich im Anfange, sie arbeitete, um die traurigen Gedanken zu vergessen; ihren zerstörten Nerven that die Ruhe und Regelmäßigkeit wohl. Dann kam die Zeit und heilte das wunde Herz, und die Gesundheit kam und lockte in das frische fröhliche Leben da draußen, immer sehnsüchtiger wurden die Blicke und eines Tages sagte sie: ‚Ich gehe, Schwester Beate, ich muß hinaus, hier kriecht man und draußen fliegt man!‘ Und sie ging. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden, ich erzähle Dir dies nur, um Dir klar zu machen, daß hier kein Ort ist Deine Wunden zu heilen, die die Welt geschlagen; wenn Du die Stellung annimmst, Else, so verpflichtest Du Dich auf wenigstens zwei Jahre. Ueberlege Dir das wohl.“

Sie lag noch immer auf den Knieen, und im tollen Wirbel begannen die Gedanken hinter ihrer Stirn zu kreisen; wie luftige duftige Gewänder schwebte es vor ihren Augen, wie rothe Rosen und flatternde Schleifen; sie hörte Töne in wiegenden wogenden Melodien und Lachen und Singen – das war das Leben, das war die Jugend. Und wie ein farbloses Bild sah sie plötzlich die Schulstube vor sich mit ihren kahlen Wänden; grau in grau, einförmig rollte sich das Leben ab – und sie war so jung! Wie Blei lasteten die letzten Worte der Schwester auf ihrer Seele. –

Horch! Da scholl vom Nebenzimmer ein Ton in das stille Gemach, goldhell und schwingend; eine Geige sang da drinnen, eine Geige! Sie schluchzte plötzlich wieder auf, und drückte den blonden Kopf in ihre verschränkten Arme, die noch auf dem Schooß der alten Frau ruhten. Da waren die Dornen der Purpurrosen, die wehen Dornen!

„Ich habe nichts mehr da draußen, nichts mehr, Schwester Beate!“ stammelte sie, „ich bleibe bei Euch.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 14, S. 238–241

[238] Man hatte im Stift Logirstuben. Das Gasthaus des kleinen Ortes war sehr primitiv, und eine oder die andere Mama sah doch immer einmal im Vorüberreisen nach dem Töchterlein. Auch Elsen hatte man eines der Zimmer geöffnet und daneben das schönste dieser bescheidenen Gemächer für Frau von Ratenow gerüstet.

Um neun Uhr sollte der Zug kommen, und die Vorsteherin war selbst an den Bahnhof gegangen, um die gestrenge Tante zu [239] empfangen. Else saß inzwischen in ihrem Stübchen und schaute mit unendlicher Bangigkeit in die ziehenden Wolken, die den Mond bald verdeckten, bald einen Augenblick sein rundes volles Antlitz freigaben, für welch neckisches Spiel er ihre Contouren mit zartem Silbersaum umrandete. Was sollte nun werden? Schwester Beate hatte endlich alle Details erfahren und sie sagte sich auch, daß das arme Kind keine Wahl gehabt hatte. Sie kannte Frau von Ratenow genugsam aus ihren kernfesten Briefen, um nicht genau zu wissen, daß es noch einen schweren Kampf geben werde.

Nach Else’s Meinung mußte man schon vor einem Weilchen zurücksein vom Bahnhofe. Nun saßen gewiß die Beiden, die ihres Schicksals Fäden in der Hand hielten, in dem traulichen Stübchen und fochten für ihr sogenanntes Glück.

„Else! Else!“ rief da eine leise Stimme, „bist Du hier, oder nicht?“

Sie fuhr herum, und ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen die kleine Mädchengestalt dort in der Thür und erkannten das kokette Frühjahrshütchen und das schmale aristokratische Gesicht unter demselben.

„Lili?“ fragte sie verwundert.

„Nun, Herr Gott ja, ich bin’s!“ lautete die Antwort; „ich hab mir’s just so ausgemalt Dich zu treffen, wie ich Dich treffe, in den Mond sehend, natürlich!

Mond, du bist glücklicher als ich,
Du siehst ihn, und ich seh’ ihn nicht!“

fuhr sie fort und riß das Hütchen vom Kopfe. „Lieber Himmel, giebt’s denn hier nicht ein Sopha? Ich bin zum Sterben müde. O Else, es ist eine haarsträubende Idee von Dir gewesen, die Flucht zu ergreifen.“

„Du hast Tante Ratenow begleitet, Lili? sie – ist sie da?“

„Na gewiß!“ Und die zierliche Gestalt warf sich auf das weiße Linnen des Bettes und streckte sich nach Herzenslust. „Das heißt, sie wäre natürlich mit allem Glanze in Halle sitzen geblieben ohne mich; Moritz hat das wohl gewußt, sonst hätte er mich mit dieser Reise gewiß verschont. Das ganze Coupé voll Mütter, Ammen und Babies, und dazwischen stets wie ein indischer Pagode, die Tante auf Deiner Fährte, und ich –. O Else, warum hast Du mir das gethan? Heute Abend ist Souper bei Cramms, und ich esse so gern Krebsragout mit Spargel!“

Else antwortete nicht; sie setzte sich stumm neben das Bett, auf welchem Lili ruhte, und sah ihr angstvoll in das Gesicht, aus dem die großen Augen trotz aller Klage höchst vergnügt blickten.

„Höre, Elschen, Du sorgst doch eigentlich sehr ausgiebig für interessanten Stadtklatsch,“ fuhr die Kleine fort. „Ich muß Dir gestehen, als Moritz heute Morgen die Alarmnachricht brachte und zugleich den Befehl für mich, Tante auf der Verfolgung des Flüchtlings zu begleiten, da hatte ich weiter keinen Wunsch, als heute Mittag im Officierscasino mitznessen; ich bin überzeugt, der Wirth macht ein Geschäft, man trinkt in der Aufregung ein Glas nach dem andern. Und Rost wird Dich sicher schon gezeichnet haben, so etwa als Nonne hinter dem Sprachgitter, und den Bennewitzer davor knieend, mit gerungenen Händen, mit Federbusch, Wams und Schwert, und darunter steht: ‚Ritter, treue Schwesterliebe widmet Euch dies Herz!‘ – Es ist ja g’rad’ hochmodern, das Altdeutsche. Wie Du aber nun auf diese Idee gekommen bist, das möchte ich gern wissen süßes Kind.“

Sie bekam keine Antwort; Else stand schon wieder am Fenster.

„Ich begreife Dich nicht,“ fuhr die kleine Schwätzerin fort, „ich finde den Bennewitzer zum Heirathen ganz wunderbar chic; ich versichere Dich, wenn er mich gewollt hätte – au moment! obgleich ich auch eine sogenannte Herzensliebe – hier –“ sie zeigte auf die Brust – „sitzen habe. Man muß sie haben, weißt Du, Else; an wen soll man sonst denken, wenn man Gedichte liest, zum Beispiel Geibel oder Strachwitz? Dazu ist sie höchst nothwendig; aber gleichviel, ich hätte den Bennewitzer doch geheirathet. Wie reizend, wenn Er uns nachher wiedersieht, gefesselt an einen Andern; es muß ihm ganz ‚heinisch‘ zu Muthe werden; ‚ewig verlornes Lieb – ich grolle nicht!‘. Man braucht darum noch lange nicht elend zu sein, das ist nur bei den Poeten so – aber interessant ist es, höchst interessant, Else! – Else, sei mir nicht böse,“ schmeichelte dann plötzlich die flüsternde Mädchenstimme, und zwei weiche Arme umschlangen sie; „ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe, und wenn Du mir versprichst, nicht mehr zu weinen – Du denkst, ich sähe es Dir nicht an? Ich sage Dir, wie die Hexenaugen hast Du Dir Deine schönen lieben Gucken geweint – so erzähle ich Dir etwas, das Dich riesig freut.“

„Mich freut nichts mehr, Lili,“ klang es traurig zurück, und die Stirn preßte sich an die Fensterscheiben.

„Ich habe ihn gesehen, Else,“ flüsterte es noch leiser, „leibhaftig und in Lebensgröße!“

„Den – den Onkel?“ stöhnte das geängstigte Mädchen. Es war ihr entsetzlich, nun hören zu müssen, wie er diesen Schlag in’s Gesicht, von ihrer Hand geführt, aufgenommen. Sie sah ihn vor sich, so deutlich, wie er neben ihr gestanden am Grabe des Vaters und sie so gütig, so mitleidig angesehen. Da hatte sie schon die Hand erhoben zu diesem Schlage, und hatte sie dann kraftlos wieder sinken lassen.

„Den Bennewitzer? Den armen abgesetzten Toggenburger? Den meine ich nicht,“ fuhr die Kleine fort und schmiegte sich enger an die zitternde Gestalt. „Ihn nennen wir Mädchen doch nur Einen, den einzig Einen! Else, geh’, stell’ Dich nicht so kindisch an, Du bist ja neunzehn Jahre alt und warst in Pension. Ja so,“ kicherte sie, „bei den Herrnhutern, das vergesse ich immer; da lernt man so etwas nicht, da sind wohl die Pensionsmädel bis zum achtzehnten Jahre lauter kleine frischgewaschene Unschuldsengel? Ich war in G. und konnte von unserem Schulzimmer just auf den Casernenhof sehen, und Jede von uns nannte Einen dort unten Ihn. – Also, ihn habe ich in Halle gesehen – Else, begreifst Du es? Den Geigenkasten hatte er in der Hand und Civil trug er, na – nicht just das Allermodernste, aber darüber drückt man bei den Herren vom Militär ein Auge zu; es ist praktischer für eine große Stadt, sie können darin zum Beispiel Omnibus fahren ohne aufzufallen durch Eleganz – na Else, was sagst Du?“

Else rührte sich nicht.

„Und gesprochen habe ich ihn – fahre nicht so erschreckt herum, Else, Tante hat’s nicht gesehen, sie conferirte schon mit dem Packträger auf dem jenseitigen Perron. Ich löste die Billets – da stand er im Gewühle –; hübsch ist er, Else, wirklich. Ich kannte ihn zu wenig, um ihn anzusprechen, hatte nur einmal flüchtig mit ihm getanzt, aber – man weiß sich doch zu helfen. Bums! lag mein Regenschirm zu seinen Füßen, im Vorübergehen; natürlich hob er ihn auf. ‚O, ich danke tausendmal, Lieutenant Bernardi!‘ – Er stutzte. ‚Ich habe große Eile,‘ sprach ich, und nannte meinen Namen: ‚Lili Teesfelde, reise mit Tante Ratenow nach D., Else Hegebach wieder einzufangen, sie will absolut in’s Kloster gehen!‘. Du hättest ’mal sein Gesicht sehen sollen! ‚Ja ja, in’s Kloster,‘ nickte ich, ‚weil sie ihren Onkel nicht heirathen will. Leben Sie wohl, Lieutenant Bernardi!‘ – Ich ließ ihn stehen und drängte mich heldenmüthig durch das schreckliche Gewimmel der Billethalle, aber wie ich eben in das Damencoupé schweben will, da steht er auch an unserem Zuge und steigt in das Nebencoupé. Ein Glück, daß Tante am jenseitigen Fenster saß. Ich mußte sehr oft Luft schöpfen, er auch; auf den Stationen nämlich. Tante fragte unterweilen über die Ammen und Babies hinweg: ‚Sprichst Du da, Lili?‘ Worauf ich dann – na, ich kann verwundert aussehen, sage ich Dir – kurz und gut, er weiß tout und – ich sollte doch recht gut, recht herzensgut mit Dir sein! Das sagte er noch, als ich vorhin ausstieg; er fuhr weiter. Und wenn ich Dir nun noch erzähle, daß er einen Kranz geschickt auf Deines Papa’s Grab, und daß er jetzt auf Urlaub nach Hause geht, so habe ich Dir Alles gesagt.“

Else hatte aufgehört zu weinen. Wie ein goldner Schleier war es auf sie herabgesunken; sie riß das Fenster auf und bog sich hinaus und schaute in den silberübergossenen Frühjahrsgarten hinunter; eine Nachtigall schlug süß und voll im Lindenbaume, und ihr Herz pochte zum Zerspringen. Er dachte ihrer! Er hatte von ihr gesprochen am elendesten Tage ihres jungen Lebens! O, des großen, allzu großen Glückes!

Und dann fuhr sie zurück, klirrend stieß sie das Fenster zu und schlug aufweinend die Hände vor das Gesicht. Was half es ihr? Sie war ja doch nur ein armes Mädchen!




[240] Die kleine Herrnhuterin saß der stattlichen Dame gegenüber in dem einfachen Zimmer. Sie hatten Beide rothe Gesichter, sie konnten sich nicht einigen. Frau von Ratenow hatte geglaubt Hülfstruppen anzuwerben, und stieß, wenn auch nicht auf einen Feind, so doch auf eine Macht, die gesonnen schien, völlig neutral bleiben zu wollen, und die, obgleich sie Manches, was die alte Dame in ihrer unentwegten Meinung betonte, als recht anerkannte, dennoch bedenklich zu Gunsten Else’s plaidirte. Als ob sie Moritz hörte, so antwortete ihr die kleine ruhige Person dort, nur vielleicht ein Bischen salbungsvoller.

„Nun hören Sie nur auf, Liebste,“ unterbrach sie endlich ungeduldig das sanfte Sprechen der Schwester, „wir verstehen uns doch nicht, das sehe ich ein. Sie mögen Recht haben von Ihrem Standpunkte aus, und Sie können ja auch schließlich meine und des Kindes Lage nicht beurtheilen. Sie drehen sich hier im ewigen Rundgange um Ihre einfachen Interessen, wir leben in der Welt, und die will ihr Recht, auch von Else.“

„Aber um den Preis des Friedens, der höher ist als alle Vernunft!“ wurde ihr erwidert.

Frau von Ratenow erhob sich.

„Ich möchte schlafen gehen,“ sagte sie, „ich hoffe, daß Sie wenigstens nichts gegen mein Vorhaben thun. Else muß morgen mit heim, sie muß.“

„Gewiß, Frau Baronin, Else soll selbst entscheiden.“

„Ich denke; ich werde den Trotzkopf wohl unterkriegen,“ setzte die alte Dame noch hinzu. „Aber, sagen Sie, meine Beste, haben Sie Arzt und Apotheker im Orte?“

„Gewiß! Fühlen Sie sich unwohl, Frau Baronin?“

„Eh, es wird vorübergehen, ’s ist nur für alle Fälle; zuweilen kommt ’mal ein Hexenschuß und macht mich unfähig zu jeder Bewegung, und es war ein gräßlicher Zug in dem Coupé. Na, wollen ’s Beste hoffen.“

„Aber da will ich doch gleich ein wenig flüchtiges Liniment –“

„Ja nicht, meine Beste, erst im Nothfall. Ich gebe nichts auf solche Mittel – zu Hause darf kein Doctor an mich heran, mein Schäfer ist mir zuverlässiger; er kann böten und streichen und besprechen. – Was gucken Sie mich denn so erstaunt an? ’s ist so, Liebste! – Die Else will ich nicht mehr sehen, ich habe gerade genug Aufregung heute. Sagen Sie ihr, daß sie morgen in mein Zimmer kommt – die andere Kleine ist ja wohl bei ihr? Na, denn gute Nacht.“

Sie waren an der Schlafkammer der alten Dame angelangt, und diese machte bei den letzten Worten ohne Weiteres die Thür vor der Nase der kleinen Herrnhuterin zu. Schwester Beate hörte sie nur noch einmal aufstöhnen, als habe sie Schmerzen und recke die Glieder. Sie schüttelte den Kopf und ging eine Thür weiter.

Fräulein Lili hatte am Tischchen zwischen den Fenstern Platz genommen, aß Butterbrod und weiche Eier und trank ein Glas Milch mit dem ganzen köstlichen Appetit der Jugend. Else saß mit verweinten Augen daneben und betrachtete, ohne an der Mahlzeit theilzunehmen, die Mücke, die so gar eilfertig war, sich die Flügel an der bescheidenen Stearinkerze zu verbrennen. Das zierliche Figürchen Lili’s war elastisch vom Stuhle emporgesprungen, als Schwester Beate eintrat, und sie machte einen Knix vor der einfachen ernsten Frau dort, als stehe sie vor einer regierenden Fürstin.

„Ich komme, um den Damen eine gute Nacht zu wünschen,“ sagte diese. „Morgen früh will Deine Tante Dich sprechen, Elisabeth; sie hofft, Du begleitest sie heim. Ich lege Dir nochmals an das Herz, überlege Deinen Entschluß mit Beten. Gute Nacht, meine lieben Kinder, der Herr behüte Euch!“

Lili sah ihr nach mit großen Augen, dann wandte sie sich zu Else, die noch trüber als vorhin ausschaute.

„Du, Else, ist es wahr – giebt es hier ein Gebäck, das man Bruder- und Schwesterherzen nennt und, wenn der Teig extra gut, sogar gerührte Bruder- und Schwesterherzen?“ Und sie setzte sich hin und aß seelenvergnügt weiter. „Bitte, bitte, laß mir morgen früh ein Paar zum Kaffee bringen, und zwar ‚gerührte‘; es fiel mir eben so ein.“

Ueber das traurige Gesicht Elsens huschte ein Lächeln. „Du bist unverbesserlich, Lili!“ sagte sie.

„Ach, Gott sei Dank,“ rief das kleine bewegliche Mädchen, „Du kannst noch lachen! Ach, Else, Else,“ und sie knieete vor dem Mädchen nieder, „Ihr seid Alle so fromme Leute und habt nicht ein Bischen fröhliches Gottvertrauen! Und ich weiß es doch, es muß noch gut werden mit Dir, ich weiß es zu genau.“

„Du weißt es?“ fragte Else.

„Ja.“

„Woher denn?“

„Das kann ich nicht definiren; es liegt in der Luft, in der Frühlingsluft vielleicht, in dem Blühen und Wachsen da draußen, die Vögel singen es und das Wasser rauscht’s. Nun, armes Herz, vergiß die Qual, es muß sich Alles, Alles wenden!“

Else schüttelte den Kopf und sah in das frische Mädchengesicht, dessen dunkle Augen in Thränen schimmerten.

„Du wunderst Dich über mich, Else? Ich bin Dir immer so oberflächlich erschienen? Ich sage Dir ganz offen, ich gab mir keine Mühe um Dich; Du warst so bodenlos langweilig in Deinem Schmerz um den Ewiggeliebten, längst Verlornen, endlich – und so weiter; Du warst so schrecklich passiv. Wie ich Dich aber so blaß sah und so vergrämt trotz des bräutlichen Glückes, das sie Alle so bis in den Himmel priesen, da dauertest Dü mich, und wie Du gestern davon gelaufen bist, da hattest Du auf einmal mein ganzes Herz gewonnen – das ist doch noch Etwas, Else, das thut nicht eine Jede; hundert Andere hätten sich ruhig die Schlinge zuziehen lassen und wären Frau von Hegebach geworden. Aber nun verlaß Dich auf mich, Else, ich helfe Dir – und Moritz hilft Dir, sogar Frieda ist Dir nicht mehr ganz so böse.“

„War sie es überhaupt?“ fragte Else ganz erstaunt.

„Aber Kind,“ rief Lili, „hast Du denn ein Brett vor dem Kopfe gehabt? Böse! – Rasend war sie, rasend eifersüchtig auf Dich, sobald Moritz nur Deinen Namen nannte. Der Arme hat schlimme Zeiten gehabt.“

Else’s blasses Gesicht war purpurn erglüht. Mit einem Schlage stand das Benehmen der jungen Frau, das ihr immer so räthselhaft gewesen, in grellem Lichte vor den Augen, und auch Moritzens scheues Ausweichen. Sie stöhnte schmerzlich auf: „Auch das noch!“

„Beruhige Dich, süßes Kind, es war eine rührende Versöhnungsscene gestern zwischen dem Ehepaare; Frieda weinte wie ein Schulkind, und Moritz hat immerzu gefragt: ‚Siehst Du es ein, Frieda, daß Du thöricht warst?‘ Und sie hat pater peccavi gesagt, so sanft, wie ich es ihr nie zugetraut hätte. Und, nicht wahr, Else, Du kommst mit morgen, Du bleibst nicht hier? es muß ja schauerlich langweilig sein zwischen all den gerührten Bruder- und Schwesterherzen! Sieh, ich denke so: Der Bennewitzer hat’s nun schon gemerkt, und Moritz wird ihm, wenn er fragt, die volle Wahrheit sagen, und dann ist das Verhältniß unhaltbar. Komm mit, Else, liebe Else.“

„Nein,“ sagte das Mädchen sich erhebend, „niemals! Ich kann nicht.“

Lili wollte antworten, da kam krachend ein schwerer Gegenstand an die Nebenthür geflogen.

„Alte Leute wollen schlafen!“ rief Frau von Ratenow mit Donnerstimme, „hört auf zu schwatzen, ich bin todmüde!“

Else ging schweigend zu Bett; Lili kicherte noch fort und fort. Das resolute Wesen der Tante war ein unerschöpflicher Quell der Heiterkeit für sie.

In der Nacht fuhr sie empor; der Mond schien hell in’s Zimmer und aus dem Bette nebenan drang leises Schluchzen herüber. Sie berührte mit der Hand die weichen blonden Haare, die über das weiße Kissen verstreut lagen. „Else, Else, weinst Du?“ fragte sie leise. Da ward es still. –

Frau von Ratenow war gerade aufgewacht am andern Morgen, da kam ein expresser Brief; die kleine Vorsteherin legte ihn selbst in ihre Hände.

„Barmherziger, des Bennewitzers Handschrift!“ Woher wußte er, daß sie hier? Ach Gott, und ihr war so schwer in allen Gliedern; mühsam setzte sie sich ein wenig hoch. „Bitte, Schwester Beate, meine Brille – ich kann mich nicht rühren.“

Die kleine Herrnhuterin überreichte ihr das Gewünschte und ließ sie allein. Es wurde still im Zimmer, man hörte nur das leise Knistern des Papiers in der Hand der alten Dame.

Es waren nur wenige Worte, die sie las, aber sie machten das Gesicht der Lesenden blaß bis in die Lippen. Sie hielt plötzlich die Hand vor die Augen, ihr schwindelte. Alles umsonst! Alles vorüber! –

„Lili!“ rief sie, ihre Stimme klang wie ein Aechzen. Das junge Mädchen kam eilig, noch im Frisirmantel mit aufgelöstem [241] Haar. „Gieb das Else, und mach’ Dich dann zurecht.“ Sie schob ihr den Brief hin.

„Willst Du gleich reisen, Tante? Soll ich es Else sagen?“

„Else?“ Sie fuhr aus den Kissen empor. „Was geht mich Else an!“ rief sie mit lauter Stimme. „Wer Wind säet, wird Sturm ernten! Undankbarkeit und Starrsinn hasse ich bis in den Grund meiner Seele!“

„Tante!“ schrie Lili auf, zum Tode erschrocken über den Ausdruck des Frauengesichtes.

„Geh’!“ rief die alte Dame, „in einer Stunde reisen wir!“

Das Mädchen stand zitternd vor Else, die eben ihre blonden Zöpfe aufsteckte. „Lies,“ sagte sie, „o mein Gott, Tante ist so böse, so böse.“

Die kleine Mädchenhand ließ die schweren Flechten fallen und griff nach dem Papier.

 „Meine gnädige Frau!

In aller Eile; — der Brief soll noch mit dem Postzuge gehen. Ich bitte Sie, meiner Nichte in meinem Namen die Freiheit zurückzugeben. Das Andere mündlich — später.
 Ihr ergebenster
 H. von Hegebach.“

Einen Moment hob sich des Mädchens Brust wie befreit von einem furchtbaren Druck. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht, und ein Zittern lief über ihre Gestalt.

„Else! Else!“ rief Lili, und umschlang sie; aber sie machte sich los und faßte die Klinke zu Frau von Ratenow’s Zimmer. Da war die Thür verschlossen.

„Bist Du es, Lili?“[1] fragte die alte Dame.

„Nein, Else ist es, Tante!“ rief sie flehend.

Es blieb still drinnen.

„Tante!“ schluchzte das Mädchen halb erstickt.

Wieder keine Antwort. Man hörte nur Schritte und das eilfertige Rüsten zur Abreise.

„Tante, ein Wort!“ Ihre Hand zerrte und riß an der Thür wie in Todesangst. Vergebens. Da wandte sie sich um, einen Augenblick verharrte sie regungslos, die starren Augen zum Fenster gewandt; dann sah sie Lili an; es war, als wollte sie lächeln, aber die Thränen stürzten ihr dabei aus den Augen; die ganze Wucht des Verlassenseins überkam sie in diesem Augenblick. Nun hatte sie wirklich nichts mehr auf der Welt. —

Eine Stunde später schritt Frau von Ratenow an Lili’s Arm, den Zug erwartend, auf dem Perron des Bahnhofes mühsam auf und ab. Die alte Dame hatte Schmerzen, man sah es an dem fest zusammengepreßten Munde; es war ihr nicht gut, sie hätte weinen mögen, wenn sie allerwege zu weinen überhaupt im Stande war. Sie hatte nur einmal geweint; das war nicht, als sie ihren Mann in die Grube legte, das war, als sie einst ein kleines schreiendes Kindchen von der todten Mutter hinweg in ihre Arme nahm. „Ach was, es hat noch niemals Dankbarkeit gegeben in der Welt!“ Und sie begann zu schelten auf den Zug, der so lange blieb, auf den Kellnerjungen, der sie so angaffte, auf den niederträchtigen Kaffee in der Pension und auf ihren schmerzenden Kopf, und Lili ging still neben ihr mit einem jammervollen Gesicht und verweinten Augen, und sie wandte sich so oft als möglich nach dem spitzen Giebelhause zurück hinter den maigrünen Bäumen, als müsse sich dort ein Fenster öffnen und ein Mädchenkopf herauslugen, um mit sehnsüchtigen Augen herüberzuschauen.

„Nichts weiter mehr hab’ ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann —.“

Die Worte, die Else einst gesungen, sie wollten Lili nicht aus dem Sinn heute. Und dann kam der Zug. —

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 15, S. 256–259

[256] Acht Tage später fuhr ein Herr mit dem Schnellzuge an dem kleinen einsamen Herrnhuter Dörfchen vorüber. Der Train hielt nicht an, aber der junge Mann stand am Fenster des Coupé’s und sah so aufmerksam dorthin, als wäre es die schönste Stelle des grünen Thüringerlandes, das er eben durcheilte. Dann setzte er sich wieder, schob einen Violinkasten etwas bei Seite und zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr einen Brief und begann zu lesen:

 „Mein lieber Bernardi!
Du hast mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und obgleich ich nicht gern Briefe schreibe, am wenigsten gern Briefe mit sentimentalem Inhalt, so will ich es doch versuchen, wenn es Dich beruhigen kann, wie Du sagst.

Viel Beruhigendes ist freilich nicht an der Sache, für Dich nämlich. Ich gestehe sogar, daß mein abgebrühtes Soldatenherz ein klein wenig gerührt wurde, als ich eines gewissen Ballabends gedachte, an dem ich Dir einen vernünftigen Rathschluß zu geben mich berufen fühlte.

Es ist wirklich so – die kleine Else von Hegebach verließ eines Morgens in aller Frühe ihr warmes Nestchen auf der Burg, die sorgsamste der Tanten und einen väterlichen Bräutigam, um in der Stille einer Herrnhutercolonie über – ich weiß nicht was, vielleicht weißt Du es – zu weinen. Alle vernünftig denkenden Leute, und Du weißt, wie viele dergleichen zu bergen unsere Mauern das Glück haben, zucken die Schultern und lächeln. Es ist so gar nicht mehr Fashion heutzutage, vor einem reichen Freier Reißaus zu nehmen; der Roman fängt ja jetzt erst jenseits des Altares an, und dann ist er um so pikanter. Das kleine resolute Mädchen hat sich die allerhöchste Ungnade der alten Frau von Ratenow zugezogen, die in ihrer praktischen Lebensauffassung an dem gesunden Verstande ihres Pflegekindes gerechtfertigte Zweifel hegt. Sie selbst ist todtkrank von ihrer Verfolgungstour zurückgekehrt; man hat sie aus dem Wagen in das Bette getragen. Heutigen Nachrichten zufolge geht es noch immer nicht gut.

Daß unsere Geselligkeit, besonders die kleinen Causerien der Damenwelt, ausreichenden Stoff zum Medisiren haben, brauche ich Dich nicht zu versichern; daß der Name ‚Bernardi‘ vielfach mit genannt wird, ahnest Du vielleicht. Und leider wohl mit Recht. ‚Das ist’s, was mir die Stirne trübt,‘ sagt ein Dichter. Denn was nun? Es ist schade um das hübsche Mädchen; wen aber, um Gotteswillen, soll ein Vorwurf treffen? Es ist nicht Deine und nicht ihre Schuld. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch Alles! Warum bist Du nicht ein Reichsbaron mit einem halben Dutzend Gütern? Warum braucht der Mensch soviel zu seinem jammervollen Dasein? Ja, warum? Ich will aufhören zu fragen, ich werde wahrhaftig sentimental. Das kleine Mädchen mit den suchenden braunen Augen will mir nicht aus dem Sinn; Du hättest sie erst am Begräbnißtage sehen sollen.

Denke nicht, daß ich bereue Dir damals die Wahrheit gesagt zu haben, gewiß nicht; es war meine Pflicht. Sie wird ja hoffentlich vergessen, wenn auch schwerer als Andere. Und laß Du den Kopf nicht hängen; Du kannst ihr nicht helfen, man ist der Sclave seiner Verhältnisse.

Lebewohl, Bernardi.
Dein von Rost.“ 

Wie oft der Brief schon gelesen war, wie oft! Nun wurde er wieder in die Tasche gelegt, und der Besitzer dieser Tasche saß und schaute auf einen Fleck, als könne er dort die Antwort finden auf die „Warum?“, die in dem Schreiben gefragt waren. Eine Unzahl von Plänen ging abermals durch des jungen Mannes Kopf; es war, als knirsche er mit den Zähnen im ohnmächtigen Zorn, „der Sclave seiner Verhältnisse“!

Der Zug sauste an einem Wärterhause vorbei, am Waldesrand; in der Maiensonne, unter zartbelaubten Birken, saß auf der Thürschwelle ein junges Weib und hielt ein Kind im Schooß; der Mann stand salutirend an der Barrière, und die Blicke der Frau sahen lachend auf die vorüberfliegende Wagenreihe. Es überkam ihn auf einmal ein bitterer Neid. Die Kinder des Volkes, die lieben sich und heirathen sich und sind glücklich; wenn sie nichts zu essen haben, hungern sie mit einander, wie sie mit einander arbeiten. Und warum nicht? Else hätte auch mit ihm gearbeitet und mit ihm gehungert, das hatte er in den lieben Augen gelesen. Lächerlich! Hinter den Kindern der Vornehmen schleppt es hinterdrein, das schwere samtene Kleid der Standespflichten, das aus tausend Lappen und Läppchen zusammengesetzt ist zu einem prächtigen Ganzen, das den Reichen so unvergleichlich wohlthuend und bequem dünkt und den Unbemittelten niederdrückt, daß er es nur mit Müh und Noth auf seinen Schultern festhält, und ohne welches man sich nicht sehen lassen darf in jenen Kreisen – ja nicht! Wie viel Elend und Kummer, wie viel getäuschtes Hoffen, wie viel Entsagung bedeckt es!

Freilich, es ist so nöthig; ohne dieses Kleid ist die Gesellschaft nicht denkbar, es gehört zum Ganzen, es wäre lächerlich dies zu bestreiten. Die Meisten tragen es ja auch leicht, die Wenigen, die darunter zu ersticken meinen – pah! Nun, sie ersticken eben, oder sie werden’s auch schließlich gewohnt. Else wird sich trösten, und für ihn – es kommt vielleicht bald ein Krieg.

„Else wird sich nicht trösten!“ sagte eine innere Stimme da. „Else wird ihre Jugend vertrauern und ein einsames, verbittertes altes Mädchen werden, das sonnige reizende Geschöpf.“ Und er dachte weiter, fast fieberhaft, wie alle Tage bisher. Ja, was dann? Sollte er einen andern Beruf wählen?

Da stand plötzlich die Frau von Ratenow vor ihm, und die Funken ihrer Brillantbroche spielten zu ihm herüber, wie an jenem Abend.

„Glauben Sie denn, daß man in einem andern Stande von der Luft lebt? Und glauben Sie, daß Sie sich befriedigt fühlen, wenn Sie den bunten Rock ausziehen?“

Und nun rechnete er sich vor, wie schon unzählige Male: Kaufmann – ohne Capital? Oekonom – um zeitlebens Inspector zu bleiben? Künstler – wollte er das Heer Mittelmäßiger vermehren, die in sich selbst zusammengedrückt sind, weil sie fühlen, sie erreichen das Ziel nimmer, das sie gewollt? Erbarmungslos klang es, und dennoch wahr!

Am liebsten nähme er den Abschied und ginge nach drüben, aber sein alter Vater und die Mutter, die sich so jeden Pfennig abgedarbt, um seinen brennenden Wunsch zu erfüllen, Soldat zu werden!

Fahrt wohl, ihr Träume, fahr wohl, Else! Der Sclave seiner Verhältnisse – was kann ein Sclave thun?

„Er ist noch verdrießlicher wiedergekommen, als er ging,“ sagten die Cameraden, als sie am andern Morgen nach dem Dienst plaudernd die Straße entlang schritten, um in ihr Stammlocal zu gehen. „Närrischer Kerl! Er klaubt wahrhaftig noch immer an seiner unglücklichen Liebe,“ fügte der Eine lächelnd hinzu, „unglaublich heutzutage!“




Es war wiederum Herbst. Im Burggarten trieben die Winde ihr Spiel mit den Blättern, und purpurroth hingen die Reben des wilden Weines um die Veranda. Im Zimmer der alten Frau von Ratenow flackerte ein leichtes Kaminfeuer, und die Bewohnerin saß, aufrecht wie sonst, am Fenster und schaute strickend über den Hof hinweg. Das Gesicht war nicht mehr so voll, sie hatte gealtert; die fatale Krankheit im Frühjahre war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Langsam, langsam hatte sie sich erholt. Sie war dann im Sommer in Baden-Baden gewesen, um sich dort grenzenlos heim zu sehnen. Frieda und Lili, die sie begleiteten – Moritz war zu Hause geblieben – hatten gänzlich freien Willen gehabt, des Tages dreimal die Toilette zu wechseln, Brunnenpromenaden und Nachmittagspartien mit den schnell geschlossenen Bekanntschaften zu machen. Sie war schon froh, wenn sie allein im Garten vor dem Hause saß und nichts von dem albernen Trubel und Lärm sah und hörte.

Zu Hause ging es besser. Tante Lott war wieder da, und nun konnte sie sich aussprechen, wenn einmal die Rede auf Else kam; so recht ordentlich. Und Tante Lott war unermüdlich, dies Thema immer und immer wieder anzuschlagen.

[258] „Du mußt mir doch in der Sache Recht geben, Lott, das Kind hat in sündhaftem Uebermuthe ihr Glück mit Füßen getreten.“

„Ja, Ratenowchen – aber –“

„Aber? Hier giebt’s kein ‚Aber‘, dächte ich –; jetzt laß sie ausessen, was sie sich eingebrockt. – Sich und uns Alle so zu compromittiren!“

„Ratenowchen, wie kannst Du nur so sprechen!“ schloß Tante Lott dann weinerlich; „wie kannst Du nur ihre Briefe nicht lesen wollen! Sie schreibt so, daß mir die Thränen in die Augen kommen, wenn ich sie mlr ansehe.“

Und dann erfolgte keine Antwort, und das Gespräch war einmal wieder vorüber, um nach ein paar Tagen just wieder so zu beginnen und zu enden.

Tante Lott correspondirte sehr fleißig mit dem armen Liebling. Sie berichtete jede Kleinigkeit von der Burg und beförderte gewissenhaft alle Grüße an ihre Adresse, die Else ihr auftrug. Nur einen Wunsch konnte sie dem Kinde nicht erfüllen; ein freundliches Wort von Tante Ratenow für sie erlangte das alte Fräulein nicht. Und ob der Bennewitzer nicht allzu böse auf Else sei, darüber konnte sie sich auch keine Gewißheit verschaffen.

Der Bennewitzer war völlig undurchdringlich. Er kam nach wie vor zu Frau von Ratenow, und neuerdiugs spielten sie Schach zusammen. Er rauchte im Salon ruhig seine Cigarre und überraschte einst die alte Dame mit der Mittheilung, daß er sich zu Hause jetzt, wie ein richtiger Großpapa, Schlafrock und lange Pfeife angeschafft habe.

„Aber bester Hegebach!“ Frau von Ratenow sah ihn ungläubig an; er war noch so jung und so hübsch in ihren Augen; dabei kam es ihr aber doch vor, als säßen an den Schläfen dort bedenklich viel graue Haare. Nach Else hatte er nie wieder gefragt. Wenn aber Tante Lott, die auf des Mädchens Bitten die Gräber der Eltern hin und wieder besuchte, an die Hügel kam, so waren sie immer mit den schönsten Blumen geschmückt, und die Todtengräberfrau erzählte, das lasse der Bennewitzer Herr thun. Tante Lott hatte dies gewissermaßen gern gehört und ihm einmal dafür gedankt. „Wozu das?“ fragte er da, „es sind ja meine Verwandten!“

Im Uebrigen war Alles beim Alten auf der Bnrg. Frieda hatte jetzt eine Gouvernante für die Kinder, tanzte und ging in Gesellschaft noch ebenso gern, wie im vorigen Jahre. Moritz spielte sein Whist und hielt sein Plauderstündchen mit der Mutter, – nur der Zankapfel war aus dem Hause verschwunden. Der leichte Mädchentritt erscholl nicht mehr auf der Treppe; sie konnte so hübsch die Treppe hinuntergehen, die Else; es war eigentlich kein Gehen, es war ein Fliegen oder Huschen, die schöne Gestalt war plötzlich unten, man wußte nicht wie. Sie sang nicht mehr ihre kleinen Lieder im Salon und spielte nicht mehr Verstecken mit den Kindern in den tiefen Fensternischen. Es fehlte doch etwas, etwas Holdes, Liebliches, das empfanden sie Alle; aber Keiner sprach es aus. Zuweilen nur meinte Tante Lott in der Dämmerung, die Thür müsse aufgehen und sie hereinspringen und mit der hellen klingenden Stimme „Tantchen Lott, liebes Tantchen Lott!“ sagen. Und zuweilen schrak Frau von Ratenow empor, dann hörte sie auch jene Stimme, aber angstvoll und flehend: „Tante, nur ein Wort, ein Wort!“ Und dann ward ihr so unsagbar zu Muthe, halb zornig, halb weh.

Nein! Wenn allerwege noch etwas aus dem Mädchen werden sollte, so mußte die Strenge sie ziehen. Der Bennewitzer war sicher auch ihrer Meinung; und sie könute vielleicht doch noch nachgiebig werden in dem melancholischen Neste dort.

Heute. war es still im Hause; Frieda und Lili waren vorhin bei der alten Dame gewesen, um sich zu zeigen in knisternder schwerer Seide, in Blumen und Spitzen, in dem vollsten Glanz einer Festtoilette; Beide ganz gleich in Hellblau und Silber, bis auf die zierlichen Stiefelchen. Sie hielten Wagenräder von Bouquets in den Händen, und die gelbliche gloire de Dijon schaute aus dem dunklen Haar und schmückte den Ausschnitt der Kleider.

Annie Cramm heirathete heute.

Die Trauung sollte um drei Uhr stattfinden, das Diner um vier Uhr, und die ganze Stadt war auf den Füßen, um brautschauen zu gehen. Man hatte sich so fabelhafte Dinge erzählt von der Pracht, die dort zu sehen sei, und Tante Lott saß schon seit halb zwei Uhr in der Kirche, um ja noch einen guten Platz zu bekommen.

Die alte Frau von Ratenow war ganz allein; sie dachte an das Brautpaar, das eben getraut wurde, und was für ein erbärmlich Ding von einer Frau doch eigentlich diese Annie Cramm sei, und wenn sie noch soviel Spitzen und Brocat an sich habe. Das würde nun so ein gleichgültiges Nebeneinanderher, eine Ehe ohne Salz und Schmalz. Nun, sie wollten’s nicht besser, und – sie können sich ja das Leben so behaglich machen; Sorgen haben sie wenigstens nicht. Und ihre Gedanken flogen zu Else; sie sah das Mädchen neben Bernardi, und sie hörte ihr Lachen, und unwillkürlich drängte ihre Phantasie die Beiden an Stelle des andern Paares, das wohl jetzt an der reichbesetzten Tafel im Hochzeitshause die Ehrenplätze einnahm. Und plötzlich stand diese Tafel drüben in der Halle, und sie saß ihnen gegenüber, und –

„So ein Unsinn!“ Sie räusperte sich ganz laut und begann zu stricken. Aber das Bild war so reizend, es kam wieder. Als ob es etwas Schöneres giebt, wie so ein junges, eben getrautes Paar, das sich von Herzen lieb hat!

„Ja, ja, die Else war doch eigentlich nicht schlechter, als die Annie Cramm – nur kein Geld hatte sie. Unsinn! Man soll eben den Verhältnissen Rechnung tragen.“

Es wurde allmählich dämmerig, da rollte ein Wagen auf den Hof.

„Der Bennewitzer? Ei, ich meine, er ist zum Diner?“ – Aber da kam er schon herein und küßte ihr die Hand. „Was denn?“ fragte sie. „Ist’s schon vorbei?“

„O, nicht doch, Gnädigste,“ und er zog sich den Stuhl ganz nahe an den Fensterplatz der alten Dame. „Ich halte nur Sehnsucht, mit Ihnen zu plaudern, Ihnen mein Herz auszuschütten.“

Sie horchte auf endlich sprach er! Sie konnte Else entschuldigen, sie konnte – Herr Gott – vielleicht – sie wagte nicht, es auszudenken.

„Das Diner war wirklich vorzüglich und die Weine exquisit; man muß es dem alten Commerzienrath lassen, er hat Geschmack. Uebrigens ein merkwürdiger Mann, der Bräutigam respective junge Ehemann; beim Dessert verließ er plötzlich seine schönere Hälfte und setzte sich zu mir.“

„Allerdings merkwürdig!“ gab die alte Dame zu.

„Ja, nicht wahr? Er spricht indessen nicht schlecht, hat vernünftige Ansichten und scheint praktisch.“

„Das hat er heute bewiesen,“ bemerkte Frau von Ratenow trocken.

„Wie? Ach so – na ja – chacun à son goût. - Er sprach übrigens auch von Else.“

Da war es heraus, endlich ihr Name von seinen Lippen!

„Sie hatte nämlich gestern ein kleines Präsent geschickt. Aber davon wollte ich ja gar nicht reden mit Ihnen, gnädige Frau, verzeihen Sie die Abschweifung.“

Frau von Ratenow sah ihn verdutzt an; hatte der Bennewitzer zu viel von dem „exquisiten“ Weine?

„Ich weiß nicht, ob Sie sich in meine Lage versetzen können,“ fuhr er fort, behaglich rauchend, „ich glaube es fast nicht – oder doch? Die Frauen haben darin etwas voraus, sie sind mitleidiger, als das sogenannte starke Geschlecht. Ich fühle mich so unsäglich vereinsamt; ich weiß nicht, für wen ich arbeite und lebe; es ist, als ob mein ganzes Haus mich melancholisch ansieht, als ob jede Kaminöffnung den Mund zu einem ungeheurer Gähnen aufthut, um mich zu fragen: wozu sind wir eigentlich da? Es kann nicht mehr so fortgehen, Gnädigste, denn es macht körperlich und geistig krank.“ Er schwieg einen Augenblick. „Auf dem Halse hab’ ich das Bennewitz ja doch, und da ist mir nun der Gedanke gekommen, noch einmal –“

Er verstummte. Die Asche seiner Cigarre war abgefallen und glimmend auf seine Kleider und den Teppich gestiebt; er schnippte sie mit den Fingern ab und trat die Funken aus.

„Zu heirathen –“ ergänzte die alte Dame gepreßt.

„Nein!“ sagte er kurz, und lehnte sich in den Stuhl zurück.

Frau von Ratenow fuhr herum und sah ihn an; es war schon zu dunkel, sie konnte nur erkennen, daß er an ihr vorüber wieder zum Fenster hinausschaute.

„Nein?“

[259] „Sicher nicht, gnädige Frau; ich denke etwas Anderes zu thun, etwas, womit unsere Persönlichkeit nicht in so nahe Beziehungen zu treten braucht und keine herbe Abweisung zu fürchten hat – denn das thut weh. – Sie wissen, ohne Eitelkeit ist kein Mensch, und bei allem vernünftigen Raisonnement – ein kleiner Stachel bleibt.“

Die alte Dame saß in athemloser Erwartung.

„Ich will es noch einmal versuchen, ein junges Leben an mich zu ketten, aber auf andere Weise, – ich will ein Kind adoptiren.“

Wie ein Blitz fuhr es vor den Augen der alten Frau hernieder.

„Hegebach, Sie wollten, Sie könnten –?“ rief sie freudig. Dann verstummte sie. „Aber, mein Gott, Mädchen gelten ja nichts nach dem Erbvertrage?“ sagte sie zweifelnd.

„Mädchen? Wer spricht von einem Mädchen?“ fragte er.

Keine Antwort, nur ein rasches heftiges Athemholen. Je nun, der Mann war im Rechte; warum hatte Else sich so unverantwortlich benommen? Aber bitter, bitter ist es! O, das unselige Kind!

„Was sagen Sie zu meinem Plan, gnädige Frau?“

„Vortrefflich!“ erwiderte sie mühsam, und der Jammer um das arme Mädchen, das sich nun wirklich ganz allein durch das Leben schlagen sollte, erlöschte fast allen Zorn in ihrem Herzen.

„Jetzt aber gilt’s zu suchen,“ sprach der Bennewitzer.

„Sie werden viel Bewerber finden.“

„O sicher!“ Er lachte kurz auf. „Das bischen Hab und Gut lockt sie hervor, wie der Regen die Pilze. Es müßte ordentlich erquickend sein, Menschen zu finden, die Nein! sagten. Was? Nun, auf jeden Fall, Gnädigste, ich stelle meine Auserkorenen zu Ihrer Begutachtung, und ich werde in der nächsten Zeit suchen. Apropos, wie geht es eigentlich meiner Nichte?“

„Ich – ich weiß es nicht; vermuthlich gut,“ antwortete Frau von Ratenow. Des Bennewitzers Benehmen empörte sie heute förmlich.

„Mein Gott, gnädige Frau, Sie zürnen ihr noch immer? Es ist unrecht von Ihnen, wahrhaftig! Wissen Sie auch, daß ich dem Kinde tausendfach in Gedanken abgebeten habe, was wir an ihr sündigten? Ja, wir, sag’ ich, Gnädigste, Sie und mein Vetter und ich. Die einzige Entschuldigung ist, wir meinten es gut.“

„Was hat sie davon!“ klang es in der Seele der alten Frau.

„Ich muß mich empfehlen.“ Er stand auf. „Nicht wahr, Sie sagten doch, ich thue recht daran, gnädige Frau? Man muß Etwas haben, woran das Herz hängt.“

„Ja, ja, bester Hegebach, und möge es Sie nie gereuen.“

Und als sich die Thür hinter ihm geschlossen, da blieb die alte Dame mitten im Zimmer stehen. „Entweder hat er ein bischen im Kopfe, oder er hat den Hegebach’schen Sparren nun noch auf seine alten Tage bekommen; einen Sparren haben sie Alle, die Hegebachs, weiß Gott!“ – Sie schrieb noch an demselben Abend einen Brief an Else. Das arme Kind! So um Alles zu kommen! Aber sie war ja selbst schuld. Das wurde ein wunderliches Schreiben, halb vorwurfsvoll und halb zärtlich, und die Bitte enthaltend, das Mädchen möge zurückkehren.

Die alte Dame that kein Auge zu in dieser Nacht; sie ging am andern Tage tief nachdenklich umher, sie sprach bei Tische fast kein Wort, und das Hauptthema des Gespräches bildete doch des Bennewitzers neuestes Project.

„Der Mann hat vollkommen Recht,“ sagte Moritz, „es versteht sich doch von selbst, daß er sein Gut einem Menschen vererben will, der ihm nahe steht; es fällt ja sonst dem Fiscus anheim. Aber er hätte Else irgend ein Nadelgeld auswerfen können aus seinem Privatvermögen,“ setzte er hinzu.

„Ja,“ stimmte Tante Lott bei, „es ist eine unedle Rache, sie so ganz ihrem Schicksal zu überlassen; er ist doch ihr Onkel.“

„Als ob Else das annehmen würde!“ Lili verzog ihren kleinen Mund verächtlich.

„Oho!“ sagte Frau von Ratenow, die bis dahin geschwiegen, „sie wird es jetzt wohl wissen, was es heißt, durch eigne Kraft für sich zu sorgen; gern wird sie es nehmen – aber er wäre ein Narr, wenn er es geben wollte, das meine ich.“

„Das glaubst Du ja selbst nicht, Mutter,“ sagte Moritz, und faßte nach ihrer Hand.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 16, S. 269–271

[269] Frau von Ratenow hatte gleich nach dem Essen ihren Wagen bestellt. Er hielt, zur großen Verwunderung ihres Sohnes, vor der Freitreppe.

„Wo willst Du hin, Mütterchen?“ fragte er, als die alte Dame im Pelz – der Herbsttag war kühl – und in ihrer Nebelkapuze aus der Hausthür trat, gefolgt von einer Dienerin mit Decken und Fußsack.

„Spazierenfahren!“ entgegnete sie kurz.

Moritz antwortete nicht, er kannte zu genau ihre Art; sie hatte irgend etwas Besonderes vor. Er half ihr respectvoll in den Wagen, mußte sich aber ein Lächeln verbeißen; es war ja ein zu gräuliches Wetter, das die Mutter zu einer Spazierfahrt verlockt haben sollte.

Der Wagen rasselte vom Hofe; Frau von Ratenow war noch immer beschäftigt sich warm einzuhüllen. Am Stadtthor warf sie die Decken wieder ab, und sah aus dem Fenster. „Fahr die Chaussee nach Büstrow zu, Jochen, ein bischen rasch aber.“

Das Gefährt rollte auf der bezeichneten Chaussee hin; die jungen Obstbäume zu beiden Seiten derselben flogen vor den Blicken der einsamen Frau vorüber, der Herbstwind fauchte durch die leise klirrenden Wagenfenster; weit, weit in der Ferne hob sich der Büstrower Kirchthurm über eine Eichwaldung empor. Es sah Alles so unfreundlich aus, so herbstlich müde unter dem wolkenverhangenen Himmel, und Jochen fuhr weiter. Dicht vor Büstrow ließ Frau von Ratenow halten.

„Ist das der Bennewitzer Weg?“ fragte sie.

„Jawohl, gnädige Frau.“

„Fahr zu, Jochen.“

Jochen lenkte ein und fuhr rasch, denn eben fielen die ersten Regentropfen; und daß es eine regelrechte Husche werden würde, das sah man den schwarzen Wolken an. Nach zehn Minuten hielt Jochen vor dem stattlichen alten Giebelhause. Ein Diener sprang herzu und half der Angekommenen beim Aussteigen.

„Ich bin’s, Seeben,“ nickte sie dem verwunderten alten Manne zu. „Ist der Herr zu Hause?“

„Jawohl, belieben Frau Baronin nur einzutreten.“

„Kannst ein wenig ausspannen, Jochen,“ befahl sie dem Kutscher, und nun betrat sie das Haus. Es war ihr wohlbekannt von früher, aber es überraschte sie dennoch wieder durch seine wohnliche Anmuth und durch seine vornehmen Verhältnisse. Was hatte der Bennewitzer im Laufe der Jahre aus diesem vernachlässigten alten Fachwerkhause geschaffen! Was war überhaupt aus der sogenanten Sandbüchse für ein Prachtgut geworden unter seiner Leitung!

„Die dumme Else!“ murmelte sie, als sie in einem Salon stand, so elegant, gediegen und behaglich, wie nur ein Mensch seine Umgebung gestalten kann, der über Geschmack, Schönheitssinn und reiche Mittel zu verfügen hat.

„Ich werde den Herrn gleich benachrichtigen,“ flüsterte der Diener und rückte einen der lichtbraunen Seidenfauteuils zum flammenden Kamin, „er ist eben einen Augenblick beschäftigt.“

Frau von Ratenow setzte sich und betrachtete das große Bild über dem Kamin. „Seine erste Gattin,“ sagte sie zu sich. „Hegebach hatte immer Geschmack,“ dachte sie weiter und schaute auf die Frauengestalt, die ihr aus dem Rahmen entgegenzutreten schien; eine edelschöne Gestalt im leichten weißen Kleide, den Kopf etwas zurückgewandt, so daß das Antlitz im Profil sich zeigte; im Hintergrunde sah man Haus Bennewitz aus Bäumen auftauchen. Auf dem Kaminsims zu Füßen des Bildes prangte eine Jardinière voll köstlicher duftender Rosen.

Er habe sie wohl sehr geliebt, dachte die sinnende Frau, und ob es nicht schwer sei für eine Nachfolgerin, wenn sie die Aufmerksamkeiten des Gatten noch mit der Verstorbenen theilen müsse. Na, er wollte ja nicht heirathen!

Sie fuhr empor aus ihren Gedanken; aus dem Nebenzimmer scholl lautes Sprechen, gleich darauf öffnete sich die Thür und eine Frau im Alter von etwa vierzig Jahren trat in den Salon, gefolgt von einem schlanken bildhübschen Jungen von ohngefähr fünfzehn Jahren. Sie schritten stumm grüßend an Frau von Ratenow vorüber, die mit sehr gemischten Gefühlen ihnen nachsah, halb staunend, halb verdutzt. Sie machte plötzlich eine Bewegung mit dem Kopfe und murmelte: „Ach so!“, als hätte sie eben etwas Wichtiges, wenn auch nicht gerade Angenehmes entdeckt. Es war ihr mit einem Male sehr ungemütlich zu Sinne, als ob sie höchst unnützer Weise hierher gekommen, als ob sie und Alles, was sie gewollt, entsetzlich überflüssig sei.

Da stand der Bennewitzer schon vor ihr und zog ihre Hand an seine Lippen.

„Meine beste Frau von Ratenow, was verschafft mir die seltene Ehre Ihres Besuches?“

„Ja, das fragen Sie einmal, Hegebach! Nicht wahr, es ist wunderlich von mir, Sie so plötzlich zu überfallen?“

„Reizend ist es, gnädige Frau!“

Er drückte sie wieder in den Sessel und nahm ihr gegenüber Platz.

„Ich will mich auch nicht lange aufhalten, Hegebach; ich glaube fast, ich störte Sie in – in einem wichtigen Moment.“

„Durchaus nicht, die Sache hat völlig Zeit,“ erwiderte er.

„Es ist ein hübscher Knabe, Hegebach.“

„Der hier eben vorübergegangen?“ fragte er. „Ah, ein prächtiger Junge!“

„In der That!“ pflichtete sie bei. Dann schwiegen sie, der Bennewitzer war zur Klingel gegangen.

Nun kehrte er zurück. „Ich bin glücklich, daß Sie gekommen sind, Gnädigste,“ begann er, „ich wäre möglicher Weise sonst noch zu Ihnen gefahren. Ich bin unruhig und aufgeregt, Sie wissen ja, weshalb. Es ist inmmerhin ein Schritt, der doch wahrhaftig nicht gleichgültig zu nennen ist. So etwas Fremdes plötzlich neben sich stellen zu wollen, von ihm all das zu erwarten, was sonst nur die Bande des Blutes zu fordern berechtigt sind, Liebe, Nachsicht, Ehrfurcht; diesem fremden Wesen das geben zu müssen, sein zu wollen, was man den eignen Kindern gewesen – es ist [270] etwas Eigenes, gnädige Frau, und es ist nichts Leichtes, glauben Sie das?“

Die alte Dame nickte. Sie war noch immer in Gedanken bei dem hübschen Jungen, der da vorhin durch das Zimmer geschritten. Sie konnte auch den Zweifel nicht länger ertragen. „Verzeihen Sie, Hegebach,“ begann sie mit einem tiefen Athemzuge, „war das nette Kerlchen vielleicht einer der Candidaten für Ihre Sohnesstelle?“

„Wer?“

„Der mit seiner Mutter eben hier –“

„Ach, meine Gnädigste. Nein, nein! Ich bin zwar Vormund und habe ein reges Interesse an ihm, er war der beste Freund meines armen Heinrich, aber –“

„Verzeihen Sie, Hegebach!“

Frau von Ratenow schöpfte Athem.

„Aber ich habe bereits anderweitig Verhandlungen angeknüpft und erwarte stündlich Nachricht.“

Die alte Dame saß wieder wie auf Kohlen. „Nun, mein bester Hegebach, ich wünsche alles Glück!“ Sie erhob sich plötzlich, es war schon tiefe Dämmerung. „Ich möchte eilen, heim zu kommen; sie wissen nicht, wo ich geblieben bin. Es hat auch keinen Zweck noch zu verweilen, ich – Sie werden mir verzeihen, Hegebach, ich war gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen – ich – ich hatte einen Plan, nun ist das zu spät. Nichts für ungut, Hegebach.“

Er antwortete nicht, es war stille im Gemach, nur die schwere Seide rauschte, wie sie sich den Mantel zuknöpfte, und die Uhr tickte leise.

„Adieu, Hegebach; Sie wissen, alte Frauen steckeu ihre Nasen gern in anderer Leute Sachen, aber gut gemeint war es.“

Er folgte ihr stumm bis zur Thür. „Warum so eilig?“ fragte er endlich gepreßt, „wollen Sie nicht eine Erfrischung nehmen, gnädige Frau?“

Sie dankte; sie hatte die Hand schon auf den Drücker gelegt, dann wich sie einen Schritt zurück; der alte Diener trat mit der Lampe ein und überreichte dem Hausherrn eine Depesche.

„Noch einen Augenblick, Gnädigste,“ bat er dringend und öffnete, zum Lichte tretend, das Couvert. „Lesen Sie,“ sagte er dann, „ich bin wieder einmal unglücklich gewesen,“ und er gab ihr das Blatt.

Sie nahm die Lorgnette und las:

„Ablehnende Antwort, vergeblich zugeredet.
 von Rost.“

„Was soll das heißeu?“ fragte sie hastig.

„Einen Korb von meinem auserkornen Sohne!“ Er war blaß geworden.

Tante Ratenow starrte auf die Depesche, es flimmerte ihr vor den Augen; sie las den Abgangsort, sie las die Unterschrift, es war wie ein Jubelsturm in ihrem alten Herzen.

„Und es liegt Ihnen gerad etwas an Diesem?“

„An Diesem, just an Diesem,“ sagte er, „sehr viel!“

„Geben Sie mir Vollmacht, Hegebach; Sie kennen ihn kaum, lasseu Sie mich -“

„Ich kenne ihn fast gar nicht,“ bestätigte er, „mich bestimmte nur Eines, ihn zu wählen, das –“

„Hegebach!“ Die alte Frau trat auf den Mann zu, der da noch immer neben dem Tische stand, die Hand leicht aufgestützt, wie in tiefem Nachsinnen; „Hegebach!“ Sie wollte weiter sprecheu, aber sie fing plötzlich an zu weinen. Sie weinte vor Freude, und sie ärgerte sich sofort darüber, daß ihr die Thränen so unaufhaltsam aus den Augen drangen; es war ihr nichts unangenehmer, als wenn man sie auf einer Weichherzigkeit ertappte, und resolut trocknete sie sich die Thränen ab und begann zu schelten:

„Ich müßte Sie eigentlich sitzen lassen, Hegebach, wahrhaftig! Seh mir Einer an, so ein Heimlichthuer! So geht’s aber immer, mein Bester, wenn Zwei von dem sogenannten starken Geschlecht sich zusammenthun, um etwas sehr Kluges auszubrüten. Rost! Der mag schönes Zeug zusammengeschwatzt haben, einen bessern Abgesandten konnten Sie nicht finden! Und warum sollte ich denn von alledem nichts wissen? Beichten Sie gefälligst, Hegebach!“

Er lächelte. „Wir wollten Sie überraschen, Gnädigste, denn an Den hätten Sie doch nicht gedacht.“

„So?“ fragte sie, und unter Thränen lachte auch sie nun. „Aber trotzdem, die alte Ratenow muß wieder einmal das Beste thun bei der Sache.“

Ja freilich, das mußte sie. Moritz erfuhr am späten Abend noch mit Kopfschütteln, daß seine Mutter verreisen wolle, den nächsten Morgen. Und sie reiste, und sie kehrte wieder nach drei Tagen. Dann kam der Bennewitzer und dann verreisten sie gemeinschaftlich. Diesmal wußte man wenigstens wohin; es ging nach Berlin.

„Mama will dem Bennewitzer wohl einen Sohn verschaffen, weil es mit der Frau doch nichts geworden ist?“ erkundigte sich Frieda; „wenn ich mir nur Eins dabei erklären könnte, Moritz.“

„Und dieses Eine?“

„Ich glaubte bisher immer, daß Mama ihn unter die Haube bringen wollte, das hätte sie Else’s wegen gethan. Was sie nun aber davon hat, ihm bei der Adoption eines Sohnes behülflich zu sein, das ist mir räthselhaft! Es geht sie doch gar nichts an – nicht wahr, Moritz?“

Moritz war so ungalant, nicht zu antworten. Er pfiff nur leise vor sich hin.

Am Abend kam das junge Rost’sche Ehepaar. Draußen regnete und stürmte es, und dann saß es sich köstlich in Frieda’s blauem Boudoir.

Sie waren rasch von ihrer hochzeitlichen Reise heimgekommen; Annie kannte schon Alles, und das Wetter war schlecht; außerdem hatte Rost so merkwürdige Reiserouten verfolgt. Anstatt nach Wien, hatte er die junge Frau nach dem obscuren H. geführt, und da war er einen halben Tag lang spurlos verschwunden gewesen. „Um ein Pferd zu kaufen,“ hatte er Annie nachher gesagt, denn bei Cavaleristen hätten die Pferde-Angelegenheiten sogar in den Flitterwochen ihre unbestrittene Berechtigung. Und dann – Annie erzählte es halb lachend, halb ärgerlich – hätte er seine Reisepläne noch damit gekrönt, daß der Unmensch sie nach Berlin geführt; „nach Berlin, das ich so genau kenne, wie mein Vaterstädtchen. Da riß mir aber die Geduld!“

„Uebrigens, wir sahen auch Ihre Frau Schwiegermama,“ setzte sie wie fragend hinzu.

„Freilich, Mama hat eine geheime Mission dort.“ Und Frieda schüttelte den Kopf.

„Der Bennewitzer war auch in Berlin,“ sagte Annie wieder.

„Auch Bernardi läßt sich allerseits empfehlen,“ fügte der junge Ehemann hinzu, und setzte den Kneifer auf, um Frieda anzusehen.

„In Berlin?“ rief diese mit ungeheucheltem Erstaunen.

Und Moritz lachte leise vor sich hin. Dann beurlaubte er sich; er wollte die heimkehrende Mutter vom Bahnhofe abholen.

„So, mein Jung,“ sagte diese, als sie eine Stunde später neben dem Sohne im Wagen saß, der rasch durch den dunklen Winterabend der Burg zurollte, „nun kommt’s in die Reihe. Aber Mühe hat’s gekostet nach allen Richtungen hin; was glaubst Du, Moritz, bis an den Kaiser mußte Hegebach gehen. Haben die Menschen spitzfindige Gesetze ausgeklügelt, um sich unter einander das Leben schwer zu machen! In ein paar Wochen hat der Bennewitzer einen Sohn, Moritz, und was für Einen!“




Es wurde Winter.

Das kleine Herrnhuter Dorf lag einsam unter den kahlen Bäumen; man konnte durch die entblätterten Aeste deutlich die fernen Berge sehen; die hatten schon Schnee auf den Gipfeln. In den Stuben des Pensionates knackten die Thüringer Buchenscheite in den Oefen, und die Lampen mußten zeitig angezündet werden.

Else von Hegebach kam eben aus der Schulstube. Um sie herum und an ihr vorüber stürmten wohl dreißig kleine Mädchen, sprangen mit wahrer Wonne in dem frisch gefallenen Schnee des Gartens umher, und sogleich begann ein hitziges Gefecht mit Schneebällen. Das junge Mädchen blieb in der Hausthür stehen, sah zu, wie das stiebte und flog und wie das traf, und hörte, wie sie jauchzten, die Kinder. Ueber ihr blasses Gesicht zog ein Lächeln, so hatte sie es einst auch gemacht. Sie schöpfte tief Athem in der kräftigen Schneeluft; das thut gut nach der dumpfen Schulstube.

[271] Dann ging sie quer durch den Garten auf das Hintergebäude zu, erstieg das knarrende Treppchen, und nun war sie allein in ihrer Stube, und die liebste Stunde des Tages war für sie gekommen. Da las sie oder schrieb Briefe, oder sie saß am Fenster und schaute in die Ferne und dachte –. Ja, an was denkt man wohl, wenn man allein ist und nebenan eine Geige singt, in alten süßen Melodien? Und Miß Brown, die englische Lehrerin, pflegte immer um diese Zeit eine Stunde zu phantasiren auf der Violine. Zuweilen konnte es Else nicht hören; das waren die Tage, wo Herzeleid und Sehnsucht sie mit aller Gewalt packten; die Tage, wo sie meinte, sie könne das Leben so nicht ertragen für immer und immer. Dann brannte der arme Kopf, und dann brannte das Herz und die Augen thaten weh vom trostlosen Weinen. Und sie mußte sich fragen: warum denn nur sie kein Glück habe, so gar kein Glück?

Dann floh sie die Geigentöne und lief in Sturm und Regen hinaus, wer weiß wie weit! Oder sie flüchtete zu Schwester Beate und saß dort stundenlang und stumm.

„Ich kann die Geige nicht hören, Schwester Beate.“

„Aber, Elisabeth, ich gebe Dir ein anderes Zimmer!“

„Nein, ja nicht, ja nicht!“ wehrte sie dann ab.

Heute stand sie, wie in Gedanken versunken, vor der einfachen Commode, deren obersten Kasten sie herausgezogen hatte. Nun nahm sie mehrere Papiere zur Hand und setzte sich damit an das Fenster. Sie mußte sie immer und immer wieder lesen, die Briefe, die sie vor ungefähr acht Wochen erhalten und die ihr so viel zu denken gaben:

 „Liebe Else!

Du weißt, daß ich nicht meinetwegen böse auf Dich war, sondern lediglich, weil Du Dir selbst etwas zufügtest, und zwar nichts Gutes. Na, das ist nicht mehr zu ändern, Du mußt es tragen, was Du Dir aufgepackt hast, und Gott wird ja wohl Deine Wege weiter in Gnaden lenken, wenngleich ich nicht fromm genug bin, zu glauben, daß unser ganzer Lebensweg von Gottes Hand schon fertig aufgezeichnet besteht, wie ein Bauplan etwa, wenn wir noch in den Windeln liegen. –

Das ist Türkenglaube!

Ich sage, Gott gab uns Verstand zu prüfen und zu handeln. Du hast ihn nicht richtig gebraucht, Deinen Verstand, sondern Dich von Deinem recht thörichten Herzen unterkriegen lassen – die Folgen sind schlimmer, als ich es gedacht; doch still davon, Du wirst es noch zeitig genug erfahren, und Reue wird Dir nicht erspart bleiben –.

Nun bitte ich Dich, Else, komm wieder zurück! Du sollst die Heimath Deiner Jugend nicht verlieren. Mach’ Dich frei von den Verpflichtungen dort; Du bist auch hier nützlich, und es ist doch immer kein fremdes Brod, das bekanntlich sieben Krusten hat.

Ich denke, Du kommst bald; die Winterabende sind lang und ich möchte gern, daß Du mir wieder vorliest wie im vorigen Jahre. Gott befohlen!
 Deine allezeit treu gesinnte
 Tante Ratenow.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte sie halblaut und legte den Brief zur Seite. „Ich bin doch kein dressirter Pudel, der über den Stock springt, wenn ihm Jemand denselben vorhält? Nein!“

Sie saß noch ein Weilchen, dann griff sie zu dem zweiten Briefe; es war Lili’s kritzlige Handschrift. Sie überschlug die Beschreibung von Annie Cramm’s Hochzeit, und ihre Augen blieben an dem Schlusse des Briefes hängen:

„Es kam auch ein Telegramm von Bernardi,“ las sie. „Aber nun staune, Else: der neugebackene Ehemann scheint nämlich Brüderschaft mit dem Bennewitzer getrunken zu haben; er ließ plötzlich seine theure Gattin im Stiche und setzte sich zu ihm, gerade mir gegenüber. Sie schwatzten höchst angelegentlich zusammen, und zwar sehr unschicklicher Weise ziemlich leise. Ich konnte während der Zeit nicht einen Blick bei dem Bennewitzer anbringen; – schließlich stießen sie mit einander an und trennten sich. Der Bennewitzer war nach Tische verschwunden und soll, wie ich später erfuhr, bei Tante Ratenow gesessen haben -. Ja, siehst Du, Else, und nun kommt, was ich Dir eigentlich sagen wollte: Ich habe keine Hoffnung mehr, denn der Bennewitzer will sich ‚zur Ruhe‘ setzen. Weißt Du, was das heißt in diesem Falle? Er handelt bereits in einem Möbelgeschäft um einen Großvaterstuhl, er wird nicht mehr heirathen! Er wird sich einen Adoptivsohn annehmen!

Deine Tante sagt, es wäre recht so, aber innerlich ist sie wüthend, ich sehe es ihr an; denn, Schatz, sie hatte es doch nun einmal darauf abgesehen, Du solltest auf Bennewitz residiren. Und daß sie Dich in D. ließ, Dir nicht verzeihen wollte, na – das war so ein letztes Mittel, sie wollte Dich durch Hunger zähmen! So stehen die Sachen –.

Ach, liebste Else, ich furchte, wir sterben Beide als alte Jungfern, und ich habe so gar kein Talent dazu, wie Tante Lott; die ist geborne alte Jungfer –.“

Ja, das war es auch! Tante Ratenow hatte sie zähmen wollen; nun machte der Bennewitzer selbst einen dicken Strich durch die Rechnung, Gott sei Dank! Nein, nein, Tante hatte es immer gut mit ihr gemeint, aber zurückgehen zu ihr – nimmermehr! Sie dachte an alle die durchwachten Nächte, an die qualvollen Stunden, die sie dort verbracht, und dann die Erinnerung – „Nein!“ – Sie faltete ein drittes Blatt auseinander, das hatte sie geschrieben, es war das Concept der Antwort an Tante Ratenow:

 „Meine liebe, hochverehrte Tante!

Nimm vielen Dank für Deine gütigen Worte, die mich unendlich erfreuten und beruhigten. Es war mir eine schwere Last, Dein Mißfallen erregt zu haben, und nur das Bewußtsein, daß ich das Rechte that, hielt mich in allen den traurigen Tagen aufrecht, die Deiner Abreise von hier gefolgt sind. Nimm herzlichen Dank für Deine Liebe, die Du mir immer bewiesen, und heute von Neuem mir zu Theil werden läßt. Wie würde ich je vergessen, was Du für mich gethan! Aber halte mich nicht für trotzig und undankbar – ich bleibe hier, ich fühle, daß Arbeit das Einzige ist, was mich über alle die schmerzlichen Erfahrungen tröstet, die ich in dem letzten Jahre machen mußte –.“

Sie ließ das Briefblatt sinken. Ob sie nicht zu bitter geschrieben? fragte sie sich. Aber wer pflückt denn süße Frucht von einem zerschlagenen kranken Baume? Es war ihr unwillkürlich so aus der Feder geflossen.

Sie packte die Briefe wieder zusammen und saß nun ganz ruhig. Nebenan klang die Geige; Miß Brown schien sehr wehmüthig aufgelegt heute, sie hatte begonnen mit „home, sweet home“. – ilome^. -

Sie war ein langes, rothblondes sommersprossiges Wesen und hatte Augen, in denen ein Ausdruck lag, wie beständiges Heimweh. Es seien ihre liebsten Stunden, wenn sie im Dämmern Geige spielen könne, hatte sie Else mitgetheilt, und Else schloß die Augen und träumte bei den Klängen von einer andern Hand, die so meisterhaft den Bogen führte, von Tönen, die noch unendlich viel süßer und weicher waren.

Wie das Alles lebendig wurde! Da war der ungarische Tanz, und jetzt – wie kam die Engländerin zu dem deutschen Volksliede?

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Gut und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab’ ich – –“

Nun mußte sie wieder weinen; wo sie nur herkamen, alle die Thränen?

Jetzt stieg da draußen Jemand die Treppe herauf – wer konnte nur so poltern und anstoßen; wahrscheinlich brannte die Lampe noch nicht auf dem Flure; nun ging man an ihrer Thür vorüber, recht schwerfällig und tappend, wie ein Männertritt. Nebenan wurde geklopft, das Geigenspiel verstummte. „Come in!“ hörte sie Miß Brown rufen, und gleich darauf dear me und eine tiefe Männerstimme, welche wie entschuldigend um Auskunft bat.

„Bitte, mein Herr, treten Sie gefälligst näher,“ sprach sie in gebrochenem Deutsch.

Else stand plötzlich in der geöffneten Stubenthür und suchte die tiefe Dämmerung mit den Augen zu durchdringen, die Hände fest auf das klopfende Herz gedrückt. „Moritz?“ fragte sie leise und zweifelnd.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 17, S. 290–292

[290] Else, mein altes Gör, wo steckst Du denn? In dieser ägyptischen Finsterniß kann man die Hand vor Augen nicht erkennen! Ja, mein Deern, das hättest Du wohl nicht gedacht?“

Ja, das war Moritz’ wohlbekannte Stimme. Sie standen in dem kleinen Zimmer; Else konnte es noch immer nicht begreifen.

„Moritz, Du?“ – Ihre zitternden Finger brannten die Lampe an, und nun sah sie ihm in’s Gesicht.

„Ja, ich!“ Und er nahm den Mantel ab, auf dem die Schneeflocken zu schmelzen begannen, und er reichte ihr beide Hände. „Was wird er nur wollen? Das fragst Du Dich, wie? Holen will er Dich, Du Ausreißerin; ohne Dich darf ich mich nicht wieder sehen lassen auf der Burg.“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn fest an mit den Augen, die von soviel Thränen erzählten. Er lächelte und setzte sich bequem auf einen Stuhl in die Nähe des Ofens.

„Nur ein paar Tage auf Besuch, Else; Mutter muß Dich sprechen. Sie konnte nicht reisen, sonst wäre sie selbst gekommen; sie ist noch immer nicht recht tactfest – sie war doch sehr krank im Frühjahr. Da haben sie mich nun geschickt.“

„Tante hat vor längerer Zeit an mich geschrieben,“ sagte Else.

„Und Du hast ihr darauf geantwortet, ich weiß es.“

Else war roth geworden. „Ich konnte nicht anders, Moritz.“

„Mutter will weiter nichts von Dir, Else, als daß Du mitkommst; es steht Dir frei, jeden Augenblick wieder abzureisen.“

„Ich weiß nicht, Moritz, ob es geht –“.

„Es geht, Else! Zieh Dich nur warm an, und komm’.“

„Was denkst Du, Moritz? So ohne Weiteres?“

„Eh – ich bin schon seit einer Stunde bei Schwester Beate im Conferenzzimmer da unten gewesen, es ist Alles in Ordnung.“

„Ich gehe nicht gern,“ sagte sie trotzig.

„Natürlich nicht,“ erwiderte er, „wofür wärst Du denn eine Hegebach? Der Trotz liegt da im Blute.“

„Moritz!“ Die Thränen kamen schon wieder. „Ich habe noch keinem Menschen etwas anderes als Kummer und Verdruß gemacht, seit ich auf der Welt bin – gegen meine Absicht, aber es ist so; meinem Vater, Deiner Mutter und Dir, ja Moritz, Dir auch; und Du warst immer so gut. Laß mich hier, ach laß mich hier!“

Er lachte da plötzlich so herzhaft und laut, daß nebenan die Geige wie erschreckt verstummte, mitten in einem brillanten Lauf. „Du gute alte närrische Deern,“ sagte er, und nahm sie in den Arm, „also das weißt Du auch? Na, zu Deiner Beruhigung: Frieda machte zuerst den Vorschlag, ich solle und müsse Dich holen. Tante Lott hatte sich zwar erboten dazu, aber Frieda bestand darauf. Bist Du nun zufrieden? Na, weine nur, eine Viertelstunde hast Du noch Zeit dazu, und indessen werde ich der Wissenschaft halber einmal im Wirthshause Euren berühmten Liqueur probiren. Nach einer Viertelstunde, dann komme ich wieder, Else; und bitte, leuchte, die Hühnersteige ist lebensgefährlich im Dunkeln. Auf Wiedersehen – sei fix!“

Sie setzte sich trotzig auf den Stuhl; sie wollte nicht, wer konnte sie zwingen? Was hatten sie für Recht, sie wieder herauszuzerren aus dem mühsam erkauften inneren Frieden? Und so saß sie noch, als Moritz wiederkam.

Er sah sie schmerzlich erstaunt an mit den ehrlichen blauen Augen, dann nahm er die Uhr in die Hand und stellte sich an den Ofen.

„Noch zehn Minuten,“ sagte sein Mund; aber die Augen sprachen: „das hätte ich nicht gedacht!“

Sie erhob sich, nahm den Mantel aus dem Kleiderschrank und ein paar Gegenstände aus der Kommode, die sie in eine Tasche legte. Nun stand sie wieder still und sah sich im Zimmer um, und wieder schwebte das: „Ich kann nicht!“ auf ihren Lippen. Und dann war sie doch plötzlich unten auf dem Flur des Vorderhauses, reisefertig, und gab Schwester Beate die Hand.

„Behüte Dich Gott, Elisabeth!“ klang es in ihr Ohr.

„Ich komme bald zurück, Schwester Beate.“

„Wenn es Gott gefällt!“ sagte die kleine sanfte Frau.

Draußen schneite es, in feinem weißem Geriesel kamen die Flocken herab, und köstliche Schneeluft wehte um des Mädchens Stirn.

„Du hast Dich doch warm angezogen, alte Deern?“ fragte Moritz sorglich. Sie nickte und ging stillschweigend neben ihm.

Es war die allerhöchste Zeit; Else wußte gar nicht, wie sie so rasch hineinkam in das helle warme Coupé.

„Es ist ein guter Zug,“ sagte Moritz, als sie abfuhren, „wir haben nur fünf Stunden; um elf Uhr sind wir daheim.“

Daheim! Das Mädchen wandte sich ab und sah durch das Fenster. Sie hatte ein deprimirendes Gefühl falscher Nachgiebigkeit und Charakterschwäche; das machte sie fast elend. Er bemerkte es wohl, daß ihr nicht gut sei, und er wollte sie unterhalten.

„Neues weiß ich eigentlich gar nicht, Else,“ begann er. „Rost’s leben sehr gesellig; Frau Annie excellirt durch stilvolle Einrichtung und Toilette, und Lili ist auf dem Sprunge sich zu verloben, wie sie meiner Frau schreibt. Es ist eine alte Liebe, glaube ich; mein Schwiegervater hatte der Sache bis jetzt einen [291] eisernen Widerstand entgegengesetzt. Es ist nämlich – aber Du weißt es wohl – eine Schülerliebe; nun hat er es glücklich zum Privatdocenten in Heidelberg gebracht, und sie hat es richtig durchgesetzt, die kleine Krabbe; das sah immer so flatterhaft aus.“

Else blickte auf, aber sie sagte nichts; es war ihr nur noch weher zu Muthe.

„Na, und der Bennewitzer hat sein Vorhaben ausgeführt. Gestattest Du, daß ich ein wenig rauche, Else? Danke sehr. – Und er besitzt glücklich einen Adoptivsohn. – Ist es Dir zu warm hier, Else?“

„Ja; bitte, mache das Fenster auf.“

„Mutter hat ihren Senf dazu geben müssen,“ fuhr er fort, und blies den Rauch der Cigarre behaglich in die Luft; „er wäre wohl nicht damit zu Stande gekommen, wenn sie nicht geholfen; nun scheint er ja ganz befriedigt.“

„Das freut mich,“ sagte sie. Es war das erste Wort, das sie sprach.

„Nächstens will er dies Ereigniß nun großartig feiern. Du kannst denken, Else, daß es einmal wieder Stadtgespräch ist.“

Ja freilich! Und sie auch wahrscheinlich – und sie war so thöricht gewesen, mitzufahren! Sie wickelte sich in ihr Mäntelchen, zog den Schleier vor das Gesicht und lehnte den Kopf zurück in die Kissen. Sie war unendlich böse auf sich selbst.

Und der Zug raste durch die Nacht, und Moritz schlief. Und je näher sie dem Ziele kamen, desto bänger wurde ihr, unerklärlich bange –. Es war ihr dann wie ein Traum, als sie im Wagen saß, wie ein alter weher und doch so süßer Traum. Das „Guten Abend!“ des Kutschers hatte so fröhlich in ihr Ohr geklungen, und in dem kleinen Coupé roch es süß nach dem Parfüm, das Frieda so liebte. Lauter alte selige Erinnerungen überkamen sie, es wurde ihr warm um’s Herz, sie konnte nicht dafür.

Sie stand wie verwirrt in dem hohen Flure, und Moritz entschuldigte Frieda, daß sie nicht gleich bei der Hand sei, sie schliefe wohl schon, und die Mutter auch; aber Tante Lott warte oben, und ob sie sich wohl noch hinauf fände?

Und da stieg sie wieder die breiten teppichbelegten Stufen hinan, und in Tante Lott’s Thür stand eine kleine liebe Gestalt mit ausgebreiteten Armen.

„Ach, Gott sei Dank, Else, mein alter Liebling, Du bist da!“ scholl es ihr entgegen, und die kleine weinende Tante hielt sie umfaßt. „Ach, wie lieb, daß Du gekommen bist, nun ist Alles gut!“

Wie sie reden konnte, die gute Tante Lott, und wie sie nöthigte zu dem warmen Thee, und wie schweigend das Mädchen dasaß und endlich nur sagte: „Riecht’s nicht nach Veilchen?“

„Das kommt Dir nur so vor, Else, das ist der Duft der Erinnerung; – ja, ja, ach, ich kenne das!“

Und die alte Dame drängte mit Gewalt das Mädchen zur Ruhe; sie müsse schlafen, sie müsse frisch sein morgen, sie sähe so blaß aus –. Und dann lag Else im Bette und sah in dem Gemache umher, das die schneeleuchtende Winternacht dämmernd erhellte; im Kachelofen spielte noch das erlöschende Feuer und spiegelte sich in dem getäfelten Fußboden; dort stand die Truhe, und dort das Puppenschränkchen; es war so unsagbar gemächlich und traut. Wider ihren Willen fühlte sie sich so heimathlich, so geborgen –. Und dann begannen Traum und Wirklichkeit mit einander zu streiten und sie entschlief.

Es war heller Tag, als sie erwachte, und die Sonne schien golden in das freundliche Zimmer –. Es war doch so, es roch nach Veilchen.

Sie blinzelte ein wenig mit den Augen, sie konnte sich nicht recht besinnen; dann fuhr sie aus den Kissen empor. Frau von Ratenow saß auf dem Bettrande und sah so feierlich aus mit dem großen Veilchenstrauß in der Hand.

„Schön guten Morgen, Du faule Liese!“

„O Tante, entschuldige,“ stammelte Else verlegen.

„Ich freue mich, daß Du gekommen bist, altes Gör, und nun gieb mir die Hand; also kein Trotzkopf und keine Feindschaft mehr, wie? – Schlecht gemeint hat sie es nimmer, die alte Tante, das mußtest Du doch wissen! Und jetzt bittet sie Dir ab, wenn sie Dich gequält hat und gepeinigt –. Weißt Du, was das heißt, wenn eine so alte Person, wie ich, einem Kiekindiewelt sagt: ‚ich bitte schön, sei nicht mehr böse!‘?“ Bei den Worten zog sie das Mädchen zärtlich an sich und streichelte ihr über das Gesicht, und dabei fiel der Veilchenstrauß auf die Bettdecke.

„Sie sind vom Bennewitzer, Else,“ sagte sie.

Else wurde plötzlich ganz bleich.

„Ja wahrhaftig, Else! Und eine Bestellung habe ich auch an Dich; aber zieh Dich rasch an, fertig an, ich will indessen bei Lott warten.“

Mit angstvoll klopfendem Herzen machte das Mädchen Toilette. Nein, es war doch nicht möglich, man konnte nicht einen neuen Schlag gegen sie führen – ach nein; Moritz sagte ja, er habe einen Adoptivsohn – es war ihm wohl nur um eine Versöhnung zu thun.

Sie trat dann in das freundliche Wohnzimmer der Tante Lott. „O, ein wonniger Wintertag!“ sagte diese, und deutete zum Fenster hinaus.

„Just zum Schlittenfahren recht,“ bestätigte Frau von Ratenow; „wie wär’s mit einer Schlittenpartie, Else? – Doch nun komm aber! Lott, bist Du fertig? Wir frühstücken heute nämlich zusammen, Else, bei Moritz.“

Und sie nahm den Arm des jungen Mädchens und schritt mit ihr den Corribor hinunter.

„Na, helfen kann’s nicht, Elschen, sagen muß ich es Dir doch,“ sprach sie im Gehen, „der Bennewitzer läßt Dich also schönstens grüßen – wohlverstanden, der Alte, der Junge wagt es noch nicht – und er habe Deinem Vater nun einmal auf dem Sterbebette versprochen, für Dich zu sorgen, Dich zu schützen und zu behüten, und er müsse sein Wort halten. Da Du ihm nun einen so großen Korb geflochten, so hoffe er, es vielleicht ein wenig mehr nach Deinem Sinn eingerichtet zu haben, wenn Du seine Schwiegertochter wirst – – Aber Kind – sei doch nicht so ungestüm! Was ist Dir denn? Halte sie fest, Tante Lott!“

Aber das war nicht mehr nöthig, Else lehnte sich plötzlich wie bewußtlos an die Schulter der alten Dame, die eben die Thür zur Halle öffnete.

„Else! Else! Sie hat doch sonst so viel Courage, und jetzt will sie verzagen! Ja, ja, dem Bennewitzer sein Sohn spielt Geige, er ist ein ganz netter talentvoller Junge.“

Else fand sich plötzlich allein in dem schönen Gemache; sie hatte eine der hohen Stuhllehnen erfaßt und lauschte mit vergehenden Sinnen – es war ja nicht möglich! Alles, was die Tante gesprochen, was jetzt in ihr Ohr klang, das wollte flüstern von einem unendlich großen zauberhaften Glück –. Nein, es konnte ja nicht sein!

Dann verstummte es jäh, das Spiel, und dann kamen so eilige freudige Tritte hinter ihr, und dann eine Stimme, eine Stimme: „Else, was ist das Glück – wenn es nicht diese Stunde ist! –.“

Im Nebenzimmer waren sie ganz still. Tante Ratenow ging an die Portière, hob einen Moment die Falten und schaute hindurch. Dann wandte sie sich zum Bennewitzer zurück, ernsthaft mit dem Kopfe nickend, gab sie ihm die Hand, und nun standen sie Beide und schauten in den Garten.

Ticktack, ticktack, sagte die kleine Uhr – man hörte sonst nichts, kein Wörtchen von da drinnen; nur einmal ein leises Schluchzen.

„Na, nun zeigt Euch doch, Kinder!“ rief Moritz endlich; die Sache dauerte ihm zu lange. Da kamen sie, und da hing ein vor Glück und Seligkeit erglühendes Kind am Halse des Bennewitzers.

„Onkel!“ schluchzte sie, „Du hast mir vergeben – Du bist so gut, viel zu gut zu mir.“

„Ich habe Dir nichts zu vergeben, mein Kind,“ sagte er weich.

„Wie soll ich Dir danken, Onkel?“

„Dadurch, daß Du bald nach Bennewitz kommst, Else. Es ist gar so einsam dort.“

„Sie wollte mich nicht – wahrhaftig sie wollte mich nicht, gesteh’ es, Else!“ Und Bernardi zog sie aus des Bennewitzers Armen an seine Brust. „Sie sagte, sie wäre ja nur ein armes Mädchen!“






  1. WS: In der Vorlage fehlt das Hochkomma