Ein Werk der Menschenliebe in Amerika

Textdaten
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Autor: Udo Brachvogel
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Titel: Ein Werk der Menschenliebe in Amerika
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 742–745
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Werk der Menschenliebe in Amerika.


Von Udo Brachvogel.


Der Amerikaner liebt es, „in Wohlthätigkeit zu machen“. Vielleicht ist er sogar wohlthätig. Ja, wenn man nur die Thatsachen sprechen läßt, ist er es gewiß. Diese Thatsachen in Gestalt nackter Zahlen und statistischer Daten sprechen Außerordentliches. Dabei braucht man noch nicht einmal an die Girard, Cooper, Peabody und Lick zu denken. Sie sind nur die Marschälle der amerikanischen „charity“. Im Großen und Ganzen ist sie Gemeingut einer wohlorganisirten riesigen Armee, aus der Jene nur durch besondere Heldenthaten hervorragen und die sich im Uebrigen fast aus dem gesammten besitzenden Angloamerikanerthum recrutirt. Daß dabei eine Masse von Pharisäerthum und rein weltlicher Eitelkeit mit unterläuft, daß Pietismus und jene Beschränktheit, welche die helfende That nicht um der helfenden That, sondern um ihrer erhofften Eintragung in eine höhere Buchhaltung willen thut, zur Triebfeder des Erbarmens werden, daß die kirchliche Gesellschaft oder, wenn man lieber will, die gesellschaftliche Kirchlichkeit, welche in den Vereinigten Staaten herrschermächtig ist, dabei eine Art Zwang übt – das Alles kann die praktischen Ergebnisse in unsern Augen nicht schädigen. Diese praktischen Ergebnisse aber – es wurde dies bereits gesagt – sind enorm. Es würde sich der Mühe lohnen, einmal auszurechnen, wie viel regierende europäische Familien man mit dem Eigenthume der öffentlichen Wohlthätigkeits-Anstalten Amerikas auskaufen, wie viele Civillisten man mit den von ihnen verausgabten Jahressummen decken könnte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß bei der Probe noch ein Ueberschuß im Lande bleiben würde.

Der schönste Zug der amerikanischen „public charity“ ist ihre Vielseitigkeit. Sie ist wirklich bemüht, für Alle und Alles zu sorgen, was in die Classe der Mühseligen und Beladenen, der Hülfebedürftigen und Bedrängten gehört. Für jede Art von Noth, für jegliche Form der Verlassenheit hat sie helfende und rettende Anstalten. Mit dem ungeborenen Kinde beginnt sie und hört mit Werken der Pietät gegen die verwahrlosten Ruhestätten längst Geschiedener auf. Das verdiente Elend gehört ihr, wie das unverschuldete Unheil. Weder das Thier noch der Mörder sind von ihrer Sorge ausgeschlossen. Aber wie verschieden auch die Gegenstände sind, auf welche sie sich erstreckt, und wie mannigfaltig die Ziele, die sie verfolgt, überall fordert das System, nach dem sie verfährt, überall die Planmäßigkeit, welche ihre Arbeiten regelt, die gleiche Bewunderung heraus. Und läßt sich ein schöneres Bündniß denken, als das zwischen Mitleid und Besonnenheit? Kann es ein fruchtbringenderes Zusammenwirken geben, als dasjenige, zu dem sich reine Menschlichkeit und vorsichtige Weisheit – sei sie nun staatlicher oder gesellschaftlicher Natur – vereinigen? Welch ein Segen, wenn die beiden immer und überall Hand in Hand gingen! Und sie sollten es, sollten es wenigstens versuchen. Nie sollte die Letztere ihren Geboten Folge geben, ohne der milden Stimme der ersteren Gehör zu geben, nie jene einen ihrer großen auf das Allgemeine gehenden Pläne entwerfen, ohne den Anforderungen dieser Rechnung zu tragen. Nur wo sie gemeinsame Sache machen, entsteht wahrhaft Förderliches, über den Moment hinaus Wirkendes für Beide, werden Thaten im Dienste der echten Civilisation gethan.

Eine solche That im Dienste der echten Civilisation ist es, von der hier die Rede sein soll. Mit dem liebenswürdigsten Worte des Gründers der christlichen Cultur, jenem den Kindern geltenden „Lasset sie zu mir kommen!“ als Wahlspruch, trat sie in’s Leben. Mildthätigkeit und Menschlichkeit waren ihre Triebfeder; Förderung, Reinigung und Sicherstellung des öffentlichen Lebens war ihr Endzweck, ihr Schauplatz aber New-York und das Material, welches sie sich ersah, die Kinderwelt seiner Armen und Elenden, seiner gefährlichen und verkommenen Schichten, seiner Gesetzlosen und Ausgestoßenen – mit einem Worte die Jugend jenes Bodensatzes weltstädtischer Menschheit, der vor zwanzig Jahren zu einer Macht erwachsen war, welche der amerikanischen Metropole selbst vor ihren doppelt so großen Schwesterhauptstädten der alten Welt zu ebenso unbestrittener wie unheimlicher Berühmtheit verhalf.

In jene Blüthezeit des New-Yorker Verbrecherthums und der Armuth fällt die civilisatorische That, von der hier die Rede ist, in Gestalt der Gründung der „Children’s Aid Society of New-York“, der New-Yorker Hülfsgesellschaft für Kinder. Es war kaum mehr als ein Versuch zu nennen, zu dem sich in den letzten Tagen des Jahres 1852 eine Anzahl von Menschenfreunden verband, welche seit einigen Jahren das immer wüster und breiter in den Vordergrund sich drängende Unwesen und Treiben der gefährlicher Classen beobachtet hatte und, auf Gegenmittel gegen die drohende Sündfluth sinnend, eines derselben in der Gründung der genannten Gesellschaft gefunden zu haben glaubte. Ein Versuch! Aber was ist seitdem aus diesem Versuche geworden, dessen Grundgedanke „das Unheil bei der Wurzel zu fassen und der Verbrecherwelt ihren jugendlichen Zuwachs abzuschneiden“ nichts Anderes war, als die Uebertragung des großen Princips der Gesundheitslehre vom medicinischen auf das sociale Gebiet!

Mit ein paar hundert Thalern und einem oder zwei Dutzend zusammengefangener Straßenwildlinge begann das Werk, als dessen eigentliche Seele schon damals derselbe Mann zu betrachten war, der noch heute unter dem bescheidenen Titel eines Secretärs der Gesellschaft Kopf und Hand der zu so mächtigen Dimensionen erwachsenen Institution ist: Charles L. Brace von New-York. Er ist einer jener Typen, wie sie das öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten vorwiegend vor dem anderer Länder, wenn nicht nahezu ausschließlich, hervorbringt, einer jener praktischen Schwärmer, deren Dasein in einer Idee, oder richtiger, in der Begeisterung für eine Idee und in den Bemühungen wurzelt, dieselbe in das Gebiet des Wirklichen zu übertragen. Ihre Einseitigkeit ist ihre Hauptstärke. Unempfindlich und abwehrend gegen alles Uebrige, sind sie in Dem, was ihr werkthätiges Dogma bildet, Riesen, Märtyrer und Heroen. Die [743] Vorkämpfer der Sclaven-Emancipation waren solche Männer. Und gleich ihnen sind es mehr oder minder Alle, welche bisher auf amerikanischem Boden im Dienste der Humanität Rettendes, Befreiendes und Erlösendes geleistet. Charles L. Brace gehört ganz und gar zu dieser Kategorie. Er war eben im Begriff Geistlicher zu werden, Missionär. Aber an einem Decembertage des Jahres 1852 fiel sein himmelwärts gerichteter Blick auf die Erde – auf ein Häuflein kleiner Jammergestalten in einem der verwahrlosten Districte des großen Hudson-Babel – und seine Mission war gefunden. Die Idee der „Children’s Aid Society“ war die seinige.

Einige ähnlich gesinnte Männer waren schnell dafür gewonnen und im März 1853 erschien der erste Aufruf der neuconstituirten Gesellschaft in den New-Yorker Blättern. Es hieß darin: „Unser Unternehmen ist aus der tiefen Ueberzeugung entsprungen, daß irgend Etwas geschehen muß, um der überhandnehmenden Noth und Verführung zum Verbrechen unter den Kindern zu steuern. Unser Zweck ist, dieser Classe, auf der ein so großer Theil der Zukunft unserer Bevölkerung ruht, für’s Erste durch Sonntags-Meetings, Industrie- und sonstige Schulen, sowie durch Unterbringung bei guten Menschen zu Hülfe zu kommen, um später, wenn es möglich geworden sein wird, die Mittel dazu herbeizuschaffen, Unterkunftshäuser (Lodging-Houses) für heimathlose Knaben zu errichten und bezahlte Agenten anzustellen, deren einzige Aufgabe die Sorge für unsere Schützlinge sein soll.“ Die statistischen Angaben, welche dem Aufruf beigefügt waren, sowie die Schilderungen des Elends und der Gefahren, denen es in ebenso menschenfreundlicher wie praktischer Weise entgegenzutreten galt, verfehlten ihren Eindruck nicht.

Die immer offene Hand des reichen Amerikaners – ganz gleich, ob offen aus wirklichem Erbarmen, ob nur aus gesellschaftlicher Rücksicht, oder um sich mit dem Himmel abzufinden – erwies sich auch dieses Mal ebenso zuverlässig wie freigebig. Eine lebhafte persönliche Agitation und eine einmüthige Unterstützung seitens der Presse thaten gleichfalls das Ihrige zur Förderung des Unternehmens, so daß dasselbe bereits im Jahre 1856 genügenden Boden unter den Füßen fühlte, um sich mit einem eigenen Freibrief des Staates New-York ausrüsten zu lassen. Heutigen Tages aber ist die Gesellschaft nahezu eine halbe Millionärin, verfügt über die jährlichen Einkünfte eines kleinen Fürsten, hat einen ansehnlichen Grund- und Häuserbesitz, Schulen, Sonntagsschulen, Unterkunftshäuser, Asyle, Werkstätten, Bibliotheken und eine Anzahl anderer Anstalten, in denen der Kampf um die jungen Seelen gegen Elend, Armuth und Verwahrlosung ebenso tapfer, wie erfolgreich gekämpft wird.

Und es ist kein leichter Kampf. Vor Allem schwer war der Anfang. Zwar das Material, in welchem es zu arbeiten galt, war leicht gefunden. Auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Gassen, am Hafen und in den Parks der riesigen Stadt bot es sich von selber dar. In der Gestalt von Hunderten und aber Hunderten kaum über die Schwelle des Lebens getretener und doch mit ihren Kinderhänden schon auf den Brust-an-Brustkampf um’s Dasein angewiesener Geschöpfe bot und bietet es sich dar: Die Araber der Straßen, die Nomaden der Weltstadt-Sahara, die Geburten des Pflasters, Zeitungsjungen, Stiefelputzer, Musikanten, Straßenkehrer – bis hieher etwa reicht die Aristokratie in dieser primitiven Welt – Bettelbuben, Lumpensammler, Lungerer und kleine Spitzbuben, zerlumptes, baarfüßiges, halbnacktes junges Volk – und doch seines Lebens froh, doch seine Existenz als ein ebenso Berechtigtes wie die Löcher in seinen Jacken und Hosen zur Schau tragend – ein Straßengeschlecht, von dem man Alles begreifen kann, nur das Eine nicht, daß die zu ihm Gehörenden nicht auch auf diesen granitnen Seitenwegen, in diesen Gassen, neben diesen Rinnsteinen geboren sind. Aber wer will sagen, daß sie es nicht doch sind? Taufscheine – ungeheure Naivetät! Genug, sie sind da. Wie ein Wespenvolk über eine Wiese, verbreitet sich ihr riesiger Schwarm tagtäglich über das Revier der Stadt, schwirrt er mit jedem Morgenroth darüber empor, um erst in später Nacht wieder zu verschwinden.

Aber wohin verschwinden sie? Schwer zu beantwortende Frage! Die Bevorzugtesten unter ihnen, die wahren Prinzen und Scheiks haben ein Elternhaus, ja Einige von ihnen sogar Eltern darin, welche sie mit freundlichem Worte willkommen heißen, und Geschwister, die ihnen froh neben sich Platz machen. Aber wie sehr bilden diese die Ausnahme unter den Arabern des Pflasters! Ein anderer Bruchtheil mag wohl auch etwas wie eine Heimath haben – nur daß die dazu Zählenden, wenn sich’s nur eben thun läßt, vorziehen, nicht dorthin zurückzukehren, wo betrunkene oder barbarische Angehörige nichts als Elend und Rohheit mit dem kleinen Wanderer zu theilen haben. Noch Andere – und sie sind die echten Beduinen dieser jungen Nomadenwelt – wissen absolut nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollen, obschon sie Muth genug hätten, in ein Gespensterhaus oder in Satans eigene Cabine unterzuschlüpfen. Dann sind es Hausporticuse, Thorwege, Treppenabsätze, Maurergerüste, alte Kisten, umgestülpte Wagen etc., die sich bereitwillig zu nächtlichen Asylen darleihen. Auch Neubauten mit noch offenen Fenstern und Thüren, Wasserleitungsröhren, welche der Versenkung harren, Parkbänke und leere Keller bieten Verstecke, darin und darunter sich herrlich niederkauern läßt, und die dem Gaste im Sommer ein fürstliches Nachtquartier, im Winter aber eine Zuflucht gewähren, in der er doch wenigstens des ersten und grausamsten Anpralls der Elemente spotten kann.

Und er spottet so leicht und so gern. Furcht – es wurde dies schon gesagt – kennt er nicht. Er ist seinem Taufscheine (vorausgesetzt, daß er doch einen solchen habe) mindestens um die Hälfte der darauf verzeichneten Jahre voraus, und ob er auch auf dem besten Wege sei, ein vollkommener Taugenichts zu werden, was Tapferkeit anbelangt, ist er ein Spartaner, und in Betreff des leichten Sinnes beschämt er jeden Pariser. Damit ist denn auch seine hervorstechendste Eigenschaft berührt: seine vollkommene Unabhängigkeit. Die Beziehungen, in denen er und seines Gleichen zu der tausendköpfig und hundertschichtig über sie hinweg ebbenden und fluthenden Großstadtwelt stehen, sind keine anderen, als die, in denen der Indianer zu den Grenzansiedelungen des fernen Westens, oder der in Massen auf das Pflaster San Franciscos geworfene Chinese zum legitimen Californier steht. Sie leben unter den Sohlen dieser üppigen Welt – aber in vollkommener Freiheit. Und wenn man die Bezeichnung, welche die New-Yorker Polizei für sie hat – sie nennt sie „Straßenratten“ –, und daneben die Thatsache erwägt, daß ihre Reihen es sind, aus denen sich die gefährlichsten Classen der Metropole recrutiren, so vermeint man, sie thatsächlich mit leisen, aber sicheren Zähnen an den tiefsten und geheimsten Fundamenten der Gesellschaft nagen und schaben zu hören.

Dieses Geschlecht nun war das Material, welches sich den philanthropischen Männern, deren vornehmster Name oben genannt wurde, darbot, als ihre edlen und weisen Pläne in der Gründung der „Children’s Aid Society of New-York“ im Jahre 1853 Gestalt gewannen. Aber damit, daß es sich ihnen darbot, ja selbst auf allen Straßen und Plätzen, an allen Ecken und Enden darbot, hatten sie es noch nicht. Das größte Hinderniß, sich seiner zu bemächtigen, war nicht die diesem Geschlechte angeborene frühreife Nichtsthuerei, sondern jene Unabhängigkeit und jene Leichtigkeit, sich mit dem Leben in seiner dürftigsten Gestalt abzufinden, welche es noch in ungleich höherem Grade charakterisiren, als seine Nichtsnutzigkeit. Dieser Unabhängigkeitssinn und das mit ihm verbundene radicale Vorurtheil gegen Alles, was Schule, namentlich aber was Sonntagsschule heißt, in welch letzterer sie nichts Anderes als den Vorhof zum Correctionshause erblickten, mußte in erster Reihe überwunden werden.

Und es wurde überwunden. Nachdem Herr Brace mit seinen Schulen und sonstigen im Namen der neuen Gesellschaft in’s Leben gerufenen Unternehmungen gleich im ersten Jahre die erfreulichsten Erfolge erzielt, war er bereits Ende des Jahres 1853 in der Lage, den Directoren den Plan zu einem Logirhause für heimathlose Knaben vorzulegen, welcher, alsbald bewilligt, mit der dem Manne eignen Energie zur That gezeitigt wurde. Schon im Mai 1854 wurde im obern Stockwerk eines im Herzen der untern Stadt gelegenen Hauses (des alten „Sun-Gebäudes“ an der Ecke von Fulton- und Nassau-Street) das erste Unterkunftshaus eröffnet, in welchem heimathslose Knaben für einen geringen Entgelt ein Nachtquartier und gutes Essen erhalten und ein reinigendes Bad nehmen konnten. Es erhielt nach dem unter den Beschäftigungen und Erwerbszweigen seiner jugendlichen Kunden vorherrschenden Berufe den Namen Newsboys-Lodging-House – Zeitungsjungen-Logirhaus. Daß sich dieses [744] Asyl auch Demjenigen, welchem selbst die wenigen Cents, die zu erlegen waren, mangelten, ebenso gastlich erschloß, wie seinem bezahlenden Cameraden, versteht sich von selbst.

„Aber es mußte,“ wie Herr Brace selbst in seinen jüngst erschienenen Aufzeichnungen über die Wirksamkeit der verschiedenen Anstalten der Gesellschaft sagt – „es mußte Alles daran gelegen sein, die jungen Burschen als selbstständige Kunden zu behandeln, ihnen nichts in Gestalt einer Wohlthat und ohne Entgelt aufzudringen, zugleich aber auch ihnen in ihren Unterkunftshäusern unvergleichlich mehr und Besseres zu verabfolgen, als sie für ihr Geld irgendwo anders erhalten konnten.“

In einem ihrer Unterkunftshäuser! Denn nicht nur, daß die Anstalt an der Ecke von Fulton- und Nassaustreet bald das ganze Gebäude einnahm – seitdem ist längst ein mächtiger Geschäftspalast an der Stätte emporgewachsen – selbst dieser sollte sich nach einigen Jahren für den Andrang der ihm zuströmenden jugendlichen Kunden nicht mehr hinreichend erweisen, und namentlich sollten es die Schulzimmer sein (die gefürchteten, unheimlichen Schulzimmer, das Fegefeuer zu der Hölle des Correctionshauses), welche bald nicht mehr Raum und Comfort genug boten. Das schreckliche Gespenst einer zwangsweisen Besserung und Freiheitsberaubung, welches zuerst für die übermäßig verschmitzten jungen Heiden hinter dem seltsamen Geschäft mit seinen Badezimmern, billigen Mahlzeiten, guten Betten, Abendschulen und sonntäglichen Bibellesungen und Gesangsübungen gelauert hatte, war bald in Nebel zerronnen, und gerade die Abend- und Sonntagsschulen waren es, die in kurzer Zeit eine Anziehung übten, vor der ihre Besucher erschrocken zurückgebebt wären, wenn sie schlau genug gewesen wären, einzusehen, daß sie in ihren Wirkungen von denen des gefürchteten Correctionshauses kaum unterschieden waren. Nicht nur von denen besucht, welche mehr oder minder regelmäßige Nachtgäste des Logirhauses waren, sondern auch von ihren Cameraden und „Geschäftsfreunden vom Straßenpflaster“ erst aus Neugierde, dann aus Theilnahme an den Vorgängen selbst frequentirt, wurden sie sehr bald zu einer ebenso beliebten wie nutzbringenden, den höheren Zwecken der Gesellschaft dienenden Einrichtung.

Es war im Jahre 1867, als die „Children’s Aid Society“, durch den wachsenden Zuspruch ihrer Anstalt genöthigt, sowie durch die ihr immer reichlicher zufließenden Mittel dazu befähigt, das alte Sun-Gebäude aufgab und am Park-Place ein für sechstausend Dollars jährlichen Zinses gemiethetes vierstöckiges Gebäude von der Größe und Stattlichkeit, welche die Handelspaläste jener Gegend kennzeichnet, für ihre Zwecke erwarb. Doch auch hier sollte ihres Bleibens nur für einige Jahre sein. Schon 1869 sah sie sich genöthigt, die Errichtung eines eigenen genügenden Baues in Aussicht zu nehmen, der, von vornherein nur im Hinblick auf den einen Zweck, für den er bestimmt ist, errichtet, demselben auch auf eine geraume Zeit hinaus entsprechen sollte. Das Grundstück des in den vierziger und fünfziger Jahren als deutsches Einwanderer-Hôtel bekannten Shakespeare-Hauses wurde erworben und auf ihm in Gestalt eines mächtigen, unregelmäßigen Vierecks ein Stein- und Ziegelbau errichtet, der sechs hohe, luftige Stockwerke zählt und der in seiner architektonischen Neuheit und Prächtigkeit mit einem Schlage die ganze Physiognomie des winkligen und unsaubern Stadtviertels, in dem es sich erhebt, umgewandelt hat. Im Januar 1874 wurde das Gebäude seiner Bestimmung übergeben. Mit Ausnahme des Erdgeschosses dient es nur der einen Bestimmung, welche die seiner Front in Sandstein eingefügte weithin sichtbare Inschrift besagt: dem eines „Newsboys-Lodging-House“. Das erste Stock enthält den Eßsaal und die Badezimmer, das zweite den Schulsaal, das dritte und vierte die Schlafräume mit im Ganzen dreihundert Betten, das fünfte einen großen Turnsaal. Der Preis für ein Nachtlager ist sechs Cents, der für Abendbrod und Frühstück ebenso hoch. Doch verpflichtet die Abnahme des einen nicht zu der des andern. Seit Jahren schon beträgt die Durchschnittszahl der nächtlichen Gäste nie unter zweihundert und dennoch herrscht in diesem während der Abend- und Morgenstunden von wimmelndem Leben erfüllten Bienenstocke eine mustergültige Ordnung. Vollkommene Unparteilichkeit und Pünktlichkeit in der Bedienung einerseits, andererseits Freundlichkeit, mit militärisch strenger Disciplin vereint: das sind die Elemente, welche zu einer so erfolgreichen Herrschaft in dieser eigenartigen Welt geführt haben.

Außer dieser großartigen Anstalt im Herzen des unteren New-York besitzt die Gesellschaft heutigen Tages noch vier andere Logirhäuser in verschiedenen Gegenden der Stadt, die sich an Ausdehnung und Stattlichkeit der Einrichtung freilich nicht mit dem Haupthause vergleichen dürfen, in ihrer Art jedoch für die Districte, in welchen sie liegen, kaum ein geringerer Segen sind, als jenes. Eines davon ist nur für Mädchen bestimmt und gleich den Knabenhäusern mit einem Bureau für die Vermittlung von dauernden Unterbringungen ihrer jugendlichen Schutzbefohlenen in Geschäften oder Privathäusern verbunden. Sie repräsentiren ein Besitzthum der Gesellschaft von etwa hunderttausend Dollars, während sich der Werth des neuen Haupthauses allein auf nahezu das Doppelte beläuft. Rechnet man hierzu noch das im Laufe der Zeit aus den Ueberschüssen der regelmäßigen Jahreseinkünfte (darunter die Tausende betragenden Unterstützungen seitens der Stadt und des County New-York), sowie aus allerlei Schenkungen und Vermächtnissen erwachsene freie Vermögen, welches, in guten Sicherheiten angelegt, sich auf hundertachtzig- bis hundertfünfundachtzigtausend Dollars beziffert, so wird die Berechtigung, mit welcher die Gesellschaft oben eine halbe Millionärin genannt wurde, zur Genüge ersichtlich. Ihre Einnahmen, die während des ersten Versuchsjahres nicht mehr als viertausendsiebenhundertzweiunddreißig Dollars betrugen, waren für das letzte Verwaltungsjahr (1873) auf hundertzweiundsiebenzigtausenddreihundertfünfundzwanzig Dollars gestiegen, das Ausgabenbudget derselben Zeit von viertausendeinhunderteinundneunzig Dollars auf hunderteinundsiebenzigtausendachtundfünfzig angewachsen, während sich die Gesammtsumme, welche in diesen einundzwanzig Jahren von der Gesellschaft für die verschiedenen von ihr verfolgten philanthropischen Zwecke ausgegeben wurden, auf eine Million vierhundertvierundzwanzigtausendsechsundvierzig Dollars beläuft.

Um einen klaren Begriff von Dem zu gewinnen, was mit Hülfe dieser Summen geleistet worden, müssen die drei Hauptzweige der gesellschaftlichen Thätigkeit, von denen die Errichtung und Unterhaltung der Logirhäuser nur einen bilden, besonders in’s Auge gefaßt werden. Die andern beiden bestehen in der Unterhaltung von sogenannten Industrieschulen (richtiger Armenschulen) und in der Unterbringung respective Auswanderung von Knaben nach dem Westen.

Nach dem letzten Jahresbericht beliefen sich die Ausgaben für das Haupt-Unterkunftshaus auf 16,085 Dollars, zu deren Deckung die Knaben selbst 4382 Dollars beisteuerten. Die Zahl dieser Letzteren betrug 7568. Während des gesammten einundzwanzigjährigen Bestehens dieser Anstalt fanden 107,568 Knaben im Alter von sechs bis achtzehn Jahren in ihr Unterkunft, welche zu einem Gesammtausgabenbudget von 164,453 Dollars die Summe von 41,003 Dollars bezahlten.

In der Führung der Schulen der Gesellschaft – sie nennt dieselben, weil sie den Besuchern auch die Gelegenheit zur Erlangung von allerlei mechanischen Fertigkeiten bieten, „industrial schools“ – wird auf den confessionslosen Charakter dieser Anstalten ein besonderer Nachdruck gelegt. Eben so wenig spielt die Nationalität bei ihnen eine Rolle, wie das Bestehen einer Schule eigens für deutsche und einer eigens für italienische Kinder beweist. Im Augenblick bestehen im Ganzen einundzwanzig solcher Schulen, von denen zugleich fünfzehn Abendschulen sind, und an denen im Ganzen siebenundachtzig Lehrer und Lehrerinnen unterrichten. Die Kosten ihrer Unterhaltung beliefen sich während des letzten Jahres auf 68092 Dollars und ihr durchschnittlicher Besuch, bei einer Gesammtzahl von 9584 Schülern, betrug 3477 Köpfe. Die Gesellschaft betrachtet diese Anstalten theils als eine Vorschule für irgend einen praktischen Beruf ihrer nur der tiefsten Hefe und Armuth der Bevölkerung entnommenen Besucher, theils als ein Mittel, ihnen, die schon in ihren Kinderjahren bestimmten Erwerbszweigen obliegen müssen, wenigstens in den Abendstunden die Erlangung nützlicher Kenntnisse zugänglich zu machen, theils endlich als eine Vorbereitung für die öffentlichen Freischulen, für deren Besuch sie durch die „Vermenschlichung“, der man sie hier unterzieht, sowie durch die Ausrüstung mit Kleidungsstücken und sonstigem Nothwendigen fähig gemacht werden, so daß zahllose der tiefsten Armuth und Noth entsprossene Kinder auch äußerlich in Stand gesetzt werden, den ihnen zukommenden Platz unter ihren den [745] übrigen Classen des Gemeinwesens angehörenden Altersgenossen in den öffentlichen Schulen einzunehmen.

Das Emigrationsdepartement der Gesellschaft wird in seiner Thätigkeit und seinen Erfolgen gleichfalls am besten durch Zahlen illustrirt. Der erste Export von Knaben nach dem Westen fand 1854 statt. Er umfaßte zweihundertvier Köpfe. Diese Zahl war bis zum Schlusse des vorigen Verwaltungsjahres auf zweiunddreißigtausenddreihundertachtundsiebzig angewachsen. Die Gesellschaft hält eigene Agenten, welche beständig in den westlichen Staaten umherreisen, Unterkunft und oft auch Annahme an Kindesstatt bei vertrauenswürdigen Farmern und sonstigen Landbewohnern für ihre jungen New-Yorker Freunde vermitteln und so eine regelmäßige Verpflanzung jugendlicher Kraft aus dem Staube und dem Schmutze großstädtischer Noth in die gesunde Sphäre ländlichen Lebens und ländlicher Thätigkeit bewerkstelligen, welche für Alle, denen sie zu gute kommt, gleich heilsam ist.

Die Gesellschaft bringt ihre kleine Auswanderung nicht allein durch ihre Agenten unter, sondern rüstet sie auch mit allem Erforderlichen aus und liefert sie an den Ort ihrer Bestimmung ab. Der Zudrang der Knaben, welche aus freien Stücken eine Versorgung durch diese Vermittelung nachsuchen, ist ein mit jedem Jahr zunehmender, wie andererseits die Wirksamkeit derselben auch außerhalb New-Yorks bereits eine so bekannte ist, daß die Nachfrage nach auswanderungslustigen Knaben mit dem Angebote so ziemlich gleichen Schritt hält. Herr Brace weist in seinem letzten Jahresberichte mit besonderem Stolze auf dieses Resultat hin und zieht den nachstehenden Vergleich zwischen den drei Hauptzweigen der Gesellschaft:

„Unsere Industrie- und Abendschulen machen einer Classe von Kindern, die sonst davon ausgeschlossen bleiben müßten, die Erlangung einer Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten zugänglich; sie versorgen sie mit einer einfachen Mittagsmahlzeit, mit Kleidern und Schuhen und tragen für ihre Besucher auch Sorge, wenn sie krank werden. Die Logirhäuser bieten die Wohlthat von Unterkunft, Sauberkeit, Nahrung, Unterricht und heilsamer Disciplin, ohne dieselbe als Wohlthat fühlbar zu machen. Unser Auswanderungs-Departement aber umfaßt nicht nur die Ertheilung von Unterricht, Unterkunft, Nahrung, Kleidung und Disciplin, es ist nicht nur ein moralisches und sociales Palliativmittel – sondern es ist absolute Heilung, ist Radicalcur, ist Wiedergeburt aus Elend und Laster zur Tugend, zur Freiheit und zum Glück.“

Herr Brace ist allerdings ein Enthusiast. Aber hinter seinem Enthusiasmus stehen seine Zahlen, und diese sprechen die nüchterne Sprache der Welt. Sie geben uns ein Bild, das unsere Achtung, unsere Theilnahme und unsere Bewunderung erzwingt, und an dem wir nicht gut mäkeln können, wenn wir nicht selbst kalt und empfindungslos erscheinen wollen. Es ist Humanität in weisester Gestalt, ist Wohlthätigkeit ohne Sentimentalität sowohl, wie ohne sociale, politische und pietistische Nebenzwecke. Um ihnen ganz gerecht zu werden, müßte man freilich all das Unheil, die Verderbtheit und das Verbrechen, welche durch sie im Keime erstickt werden, prophetischen Blickes abschätzen und ihnen gutschreiben können. Aber es bedarf dessen nicht. Man greife in seiner Bewunderung nur getrost etwas hoch – zu hoch wird man so leicht ein Verdienst nicht schätzen können, welches durch heute gespendete Wohlthaten für die Reinigung, Veredelung und Sicherstellung der Zukunft in einer Weise sorgt, wie dies durch die „Children’s Aid Society“ von New-York innerhalb ihres Wirkungskreises seit mehr als zwanzig Jahren geschehen ist und, wie zu hoffen steht, in stets wachsendem Maßstabe auch weiter geschehen wird.