Ein Capitel aus der criminalistischen Tagesgeschichte Englands

Textdaten
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Autor: Unbekannt
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Titel: Ein Capitel aus der criminalistischen Tagesgeschichte Englands
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 603–604
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Capitel aus der criminalistischen Tagesgeschichte Englands.

Es vergeht zwar kein Tag in England ohne Verbrecher- und Mordgeschichten, aber im August dieses Jahres häuften sie sich mehr als gewöhnlich und regten auch die abgestumpften und daran gewöhnten Nerven auf. Die Bevölkerung Englands gehört zu den dichtesten. Das erklärt viel, ist aber durchaus nicht die Hauptursache des Uebels. In Belgien und an einem Theile des Rheines kommen mehr Menschen auf die Quadratmeile, und man hört nichts von diesen scheußlichen Missethaten, womit die englische Gesellschaft fast alle Tage und Nächte auf’s Neue ärger und ärger gebrandmarkt wird. Auch kommen, statistisch erwiesen, nicht die meisten Verbrechen auf die allerdichteste Bevölkerung in der Welt, auf London. Auch fallen sie häufig nicht auf die Kinder der Noth, des Elends und der Verwahrlosung, sondern ergeben sich vor dem Richterstuhle als wohlberechnete, kaltblütig angelegte und durchgeführte Speculationen mehr oder weniger wohlhabender und gebildeter Menschen. Was ist unsere sogenannte moderne Bildung? In England Geld, Sammet und Seide, Equipage, Reitpferd, zwanzig Dienstboten, Maitreffen, Schwindel an der Börse, in der Politik, Betrug und Satrapie in den Colonien. Nach der „Morning Post“, dem Organe der höchsten Classen, charakterisiren sich die „obersten Zehntausend“, deren Helden und Heldinnen während der Parlamentszeit täglich zu Tausenden im Hyde-Park-Corso reiten und fahren, durch raffinirte sexuelle Unsittlichkeit. Die Zeitung führte mehrere Züge an, unter Anderem, daß die sittlichen Ladies, die so illusorisch auf ihren Pferden paradiren, sich bei den höheren Gentlemen, den jungen und alten Lords, Counts, Viscounts und Baronets, dadurch interessant zu machen suchen, daß sie es den öffentlich anerkannten, unter ihnen reitenden und fahrenden Entretenues, Aspasien, Hetären und Hierodulen in Worten und Manieren, im Benehmen und Geben möglichst nachzuahmen suchen. Die Tugend und Respectabilität sei langweilig, als Humbug und Hypokrisie lächerlich geworden. Ueberhaupt sündige man nicht etwa aus besonderer Sündhaftigkeit, sondern aus Langeweile, um sich die Zeit zu vertreiben.

Grobe Verbrechen, wie Mord und Todtschlag, kommen in den höheren und höchsten Kreisen allerdings kaum vor; man macht Alles „subtil“ ab. Desto ärger ist’s in den Mittel- und untern Classen. Wir lassen eben die hauptsächlichsten Verbrechen, die sich während der letzten Wochen besonders hervordrängten, dicht hinter einander aufmarschiren. Wir übergehen, daß eben zwei Mörder ihrer Geliebten, der eine in Warwick, der andere in Carlisle gehängt worden waren.

In London sollte am 4. September Morgens der gröbste aller Mörder dem Pöbel und der Ruchlosigkeit sein Galgenfest geben. Niemand hat die demoralisirende Kraft und Bestialität dieser Hängescenen drastischer und eindringlicher geschildert, als Charles Dickens. Der Mörder, Namens Youngman, war der Sohn eines Schneiders in Walworth, einem südlichen Theile Londons. Nachdem er verschiedene Dienststellen bekleidet und schon bestraft worden war, zog er wieder zu seinem Vater, um Vorbereitungen zu seiner Verheirathung zu treffen. Eines Tages holt er seine Braut in’s väterliche Haus. Sie schläft mit seiner Mutter, zwei seiner kleineren Brüder in einer andern Stube auf demselben Flur, er selbst im Bette seines Vaters, der sich unten in der Werkstatt ein Lager zurecht gemacht. Braut und Bräutigam kommen Abends ganz vergnügt von einem Ausfluge nach Hause, und Alles begibt sich mit Aussichten auf eine frohe Hochzeit zur Ruhe. Morgens gegen 6 Uhr werden verschiedene Schläfer durch einen unheimlichen Lärm aufgeweckt. Der Wirth des Hauses kommt von unten die Treppe herauf, um nach der Ursache zu sehen. Er prallt zurück, schreit Mord und ruft Polizei. Diese findet einen Knaben mit dem Kopfe die Treppe herunterhängend todt. Sie schreitet über ihn weg und wird von drei andern neben und über einander liegenden, noch blutenden Leichen aufgehalten, Der Mörder steht hinter ihnen im Hemd und empfängt die Polizei mit den Worten: „Hübsche Geschichte das! Meine Mutter that’s. Sie wollte auch mich morden, und indem ich mich vertheidigte, tödtete ich sie. Das ist nichts gegen das Gesetz. glaub’ ich.“ So spricht er über den frischen Leichen seiner Braut, seiner Mutter, seiner beiden Brüder, noch besprützt von ihrem Blute. Die Untersuchung ergab klar, daß er die „Braut“ mit vieler Ausdauer und List überredet hatte, ihr Leben mit 100 Pfund zu versichern und ihm die Police einzuhändigen, [604] daß er sie ermordet hatte, um sich die 100 Pfund zu holen, Mutter und Brüder, um sie nicht als Zeugen gegen sich zu haben. An diesem Plane hatte er Monate lang gearbeitet und ihn nach seiner Berechnung klug und praktisch durchgeführt. Braut, Mutter, Brüder, welche Namen für das menschliche Herz! – Der Mörder zeigte niemals Spuren von Wahnsinn, aber Gott sei Dank! – in diesem Falle Gott sei Dank! Vorfahren von ihm – väterlicher und mütterlicher Seite waren zum Theil in Irrenhäusern gestorben. Wir können zur Ehre der Menschheit annehmen, daß in seinem Blute der ererbte Wahnsinn lauerte, ihn beherrschte und ihm im Uebrigen nur so viel Verstand ließ, sich in seiner Berechnung 100 Pfund zu verschaffen.

In Road, einem Provinzialorte, lebt eine sehr wohlhabende Familie mit Kindern von zwei Müttern. Eines Morgens fehlt ein vierjähriger Knabe in seinem Bette und ist im ganzen Hause nicht zu finden. Man sucht draußen im Garten und in Gebüschen umher und findet ihn, den Hals durchschnitten, noch blutend in einer benachbarten Düngergrube. Alle Polizeikräfte Prämien und scharfsinnigen Untersuchungen haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt. Charakteristisch ist, daß man eine 14jährige Stiefschwester des ermordeten Knaben, die von ihrer höheren Töchterschule zu den Ferien nach Hause gekommen war, als muthmaßliche Mörderin ziemlich lange im Gefängnisse hielt. Ein 14jähriges Mädchen! Diese erwies sich allerdings schuldlos, aber kurz vorher war ein 12jähriges Mädchen mit ihrer achtjährigen Schwester eines ganz raffinirten Verbrechens überführt worden. Ein Geistlicher, bei dem die beiden Schwestern in Pension gewesen waren, kam in’s Zuchthaus. Die beiden Kinder hatten vor Gericht consequent und kaltblütig ausgesagt und im genauesten Detail beschrieben, wie der Geistliche sie im Beisein seiner Frau geschändet habe. Eltern und Angehörige hatten die Aussagen unterstützt und bekräftigt. So wird der Geistliche von scharfsinnigen Richtern und zwölf Geschworenen nach genau erwiesenem Verbrechen zu schmachvollem Zuchthaus verurtheilt. Hinterher werden Mittel entdeckt, die Aussagen und Beschuldigungen der beiden Kinder als eine planmäßig ausgeheckte Lüge zu entlarven. Dies geschieht in aller Umständlichkeit und Klarheit auf gründlichem, gerichtlichem Wege. Die Kinder von 8 und 12 Jahren hatten die Lügen erfunden und im genauesten Detail ausgeführt, weil sie bei dem Geistlichen nicht gern in Pension bleiben wollten. Allerdings hatten die Eltern geholfen – aber welche Eltern! welche kindliche Gelehrsamkeit!

Um dieselbe Zeit fischte man in einem Flusse bei Frome ein todtes, neugeborenes Kind auf. Mehrere Mädchen wurden um dieselbe Zeit theils schon todt, theils noch lebendig als Selbstmörderinnen aus der Themse gefischt: unglückliche Liebe, ehelose Mutterschaft, gebrochene Versprechungen – das alte Lied! Ein anderes Mädchen brachte sich mit Rattengift um in Gegenwart ihres zukünftigen Gatten, mit dem sie schon länger gelebt, und nachdem sie einen Brief dieses „Gatten“ an seine – Frau in Amerika eröffnet und gelesen. Verschiedene Männer wurden in verschiedenen Situationen, theils an ihren Bettpfosten hängend, theils vergiftet etc. als Selbstmörder gefunden.

Ein Literat unterbrach sich mitten in einer Kritik über ein Buch und ging in’s Nebenzimmer, um sich die Gurgel zu durchschneiden. Ein Geistlicher tödtete sich vor einigen Tagen auf ähnliche Weise. Die Magistrats-Personen von London hatten neuerdings fast täglich mit echten oder unechten Selbstmördern zu schaffen so daß wir nicht mit Einzelnheiten fortfahren wollen.

Was sind unechte Selbstmörder? Sie erinnern an jenen Berliner Schneidergesellen, der, als man die Cholera in den öffentlichen Krankenanstalten noch mit Champagner behandelte, sich wieder und wieder als Cholerakranker aufnehmen ließ, bis die Polizei dahinter kam und ein Actenstück gegen ihn anlegte: „Acta gegen den Schneidergesellen NN. wegen unbefugter Anmaßung der Cholera.“ Der schmutzige Arbeiter oder Faulenzer, der Sonnabend Nacht mit seiner Frau oder Geliebten alles Geld und alle versetzten Kleidungsstücke vertrank, torkelt zur Themse, platscht hinein und macht Höllenlärm, damit ihn der nächste Policeman oder ein mitleidiger Vorübergehender herauszerre, auf die Polizeistation und vor den Magistrat bringe. Hier erzählt er von seiner Noth und Verzweiflung, rührt die Armenbüchse des Magistrats und die Taschen einiger Zuhörer. Er wird vermahnt, streicht das Geld ein, geht zum nächsten Spiritustempel und „stärkt“ sich. Die schlumpige Säuferin hat die letzten versetzten Kleidungsstücke des Mannes vertrunken, ihre Kinder zerhauen und von dem Manne ein geschwollenes, vielfarbiges Gesicht gedroschen bekommen. Mit Blut beschmiert und von Gin stinkend, läuft sie heulend nach der nächsten Themsebrücke und stürzt sich heulend wie ein wildes Thier hinunter. Unten und oben ist alles voller Menschen, Kähne, Boote, Schiffe, Fischer und „Wassermänner“. Sie weiß, daß sie herausgezogen und vor den Magistrat gebracht wird, und hofft auf ein erträgliches, „Trink-“ oder Ersaufungsgeld.

Das sind die unechten Selbstmörder, die wegen unbefugter Anmaßung der Selbstentleibung kurz vermahnt und von gutmüthigen City-Aldermen mit etwas Geld und sonstiger Unterstützung entlassen werden. Sie machen aus unechtem Selbstmord „ein Geschäft“, das freilich in nächster Zeit wegen zu großer Concurrenz nicht mehr sehr profitabel bleiben wird. Die echten suchen immer die Einsamkeit, oder sorgen wenigstens vorher für gutes Gelingen. Leider ist dieser echte Selbstmord eine Manie und Epidemie geworden, die fast täglich ihre neuen Opfer verlangt, als wären Tausende unter dem Zeichen des Saturn geboren. Doch ist’s nicht Saturn, sondern der Satan des Gin und des vergifteten, schweren Biers, Betrug und Schwindel und Verzweiflung.

Auch vereinigen sich oft Mord und Selbstmord. Ein Schneider erschoß sich im Hyde-Park in Gegenwart Tausender von Menschen, die umherspazierten, ritten oder fuhren. Das erste Mal traf er sich nicht ordentlich, er taumelte über einen breiten Sandweg und erschoß sich dann ganz ordentlich. In einer Westentasche fand man seine Adresse: Oxfordstreet, die lebhafteste, heiterste Straße von London. Die Polizei trug den Leichnam nach seiner Wohnung, die verschlossen war. Man öffnete gewaltsam und fand die Frau des Selbstmörders in zersägten Stücken auf dem Fußboden umherliegen. Er hatte, wie sich ergab, die Frau aus Eifersucht ermordet und sie in Stücken fortzuschaffen gesucht, war aber dabei von der Gewalt des Schreckens geparkt und zum Selbstmord getrieben worden. – Eine siebenzigjährige, sehr geld- und häuserreiche Wittwe, allein in ihrem Hause lebend, schmutzig geizig und geldgierig, sich kaum satt essend – scheußliches Bild des Geizwahnsinns, wird in ihrem Hause, viele Tage nach der That, ermordet gefunden. Dreihundert Pfund Belohnung haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt.

Das ist eine kurze Blüthenlese aus den täglichen Verbrechergeschichten Englands – lauter Verbrechen aus den letzten vier oder fünf Wochen, glänzenden, luxuriösen Wochen der „season“. Sie sind nichts ungewöhnliches, sondern charakterisiren eben das alltägliche Leben Englands, das Jahr aus Jahr ein, Woche für Woche, Tag für Tag neue ähnliche Stoffe für die Zeitungen liefert.