Textdaten
<<< >>>
Autor: Clemens Fleischer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die menschliche Hand
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 808–810
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[808]
Die menschliche Hand.


Die Betrachtung und Erforschung der menschlichen Hand ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, denn dieselbe ist das vollkommenste Instrument unseres Körpers, das, im Besitze mannigfaltiger, vorzüglicher Eigenschaften, dem Willen des Menschen sofort entspricht und die schwierigsten technischen Aufgaben menschlichen Scharfsinns auszuführen vermag.

Der Mensch erhielt die Hände in dieser nur ihm eigenen Vollkommenheit seinem aufrechten Gange gemäß, und sehr richtig nennt sie Herder Werkzeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neuen, klaren Ideen. Die Hände entsprechen durchaus den höheren Geistesgaben, der Intelligenz des Menschen, und darauf hat bereits Aristoteles, der größte Gelehrte und Beobachter aller Zeiten, hingewiesen, indem er sagte: „Der Mensch hat Hände, weil er das weiseste Thier ist.“

Wie viele vorzügliche Eigenschaften vereinigt die Hand in sich! Welche Kraft, welche Gewandtheit, welche Zartheit wiederum vermag sie in ihren Handlungen zu entwickeln! Reizbar und feinfühlig, leitet sie ihre Bewegungen mit der größten Sicherheit, mit eminenter Schnelligkeit, Mannigfaltigkeit und Eleganz. Und wie schön und zweckentsprechend ist sie gebildet, wie kunstvoll und bewundernswürdig das Gefüge ihrer Knochen und Sehnen, wie verwickelt und doch dem Willen stets dienstbar der Mechanismus der Muskeln, und wie reich vertheilt in ihr sind die nahrungspendenden Blutgefäße und die tastenden Nerven!

Schon die Culturvölker des Alterthums wußten die hohe Bedeutung der Hände nicht nur wegen ihrer Eigenschaft als unumgänglich nothwendige Kunstgehülfen der Seele zu schätzen, sondern sie bewunderten auch an ihnen die Schönheit der Formen und bemühten sich in Folge dessen, den Händen die größte Pflege angedeihen zu lassen. Alle Völker des Orients, namentlich aber die in den Harems eingeschlossenen Schönen, welchen der Putz und die Schmückung des Körpers als die alleinige Lebensaufgabe galt, waren eifrig darauf bedacht, die Hand sorgfältig zu pflegen und ihre natürliche Schönheit zu erhalten und zu erhöhen. Wir wissen dies z. B. von den Indern, welche sich überhaupt ein feines Gefühl für Schönheit und Ebenmaß angeeignet hatten. Sie hielten eine kleine, schlanke Hand für eine Bedingung jeder Schönheit, und man wird nicht fehl gehen, wenn man annimmt, daß die Ringe von den Indern ursprünglich zu dem Zwecke erfunden worden waren, um die Finger durch fortgesetzten sanften Druck, durch eine schützende Decke schlank und zart zu erhalten. Diese Sorgfalt, die Schönheit der Hände zu conserviren und die Finger mit Ringen zu schmücken, lebt auch bei den Orientalen der Jetztzeit [809] noch fort, und namentlich sind es die Hindus, welche in dem Ebenmaß und der Niedlichkeit der Hände ihr größtes Ideal sehen. „Die Hände der Hindus,“ sagt ein berühmter Orientreisender, „sind zart gebaut und gleichen einer feinen Weiberhand, daher auch die Griffe der indischen Säbel für die meisten europäischen Fäuste zu klein sind.“

Bei den schönheitliebenden und hochgebildeten Griechen wurden solche Hände für vollkommen gehalten, die mäßig voll waren und bei denen sich über den Knöcheln der Finger kaum merklich gesenkte Grübchen, die mehr wie sanfte Beschattungen bemerkbar waren, vorfanden. Die Finger mußten lang und zart sein und sich unvermerkt abrunden. Die Römer kamen zu diesem Geschmacke mit den Griechen überein und theilten der Minerva die schönste Hand, der jugendlichsten aller schönen Göttinnen aber, der Diana, die schönsten Finger zu. Auch unsere Vorfahren stellten dieselben Forderungen an die Hand. Sie fanden das Ideal derselben in der Weiße und Weichheit der Haut, in der Kleinheit und der länglichen, schmalen Form, sowie in langen geraden Fingern mit glänzenden, glühenden, gerötheten Nägeln. So sagt Peter Suchenwirt von der schönen Frau Abenteuer:

“Sie war geboren von reiner Art,
Ihr Händel weiß, ihr Fingerl lang.“

Die französischen, englischen und deutschen Damen ließen es sich sehr angelegen sein, auf die Erhaltung schöner Hände vorzügliche Sorgfalt zu verwenden, wofür auch die dichterischen Ausdrücke „die feinen subtilen Händlein“, „die Händlein schmal und dazu blank“ etc. sprechen.

Auf den ganzen Culturgang, auf das geistige Leben der einzelnen Völker des Alterthums hat die Hand nicht unwesentlichen Einfluß ausgeübt. Es ist eine alte Erfahrung, die wir in unserer Zeit noch täglich zu machen Gelegenheit haben, daß Leute aus dem Volke gern an den Fingern abzählen und daß Fremde, welche der Sprache eines Volkes nicht mächtig sind, sich durch Fingerzeichen verständlich zu machen suchen. Dasselbe war der Fall schon bei den Völkern des Alterthums, welche noch auf einer niederen Culturstufe standen. Sie verließen sich in schwierigen Fällen des Lebens auf ihre Hand und diese erhielt dadurch für sie eine um so höhere Bedeutung. Auch unser ganzes Zahlensystem beruht auf den zehn Fingern. Endlich sehen wir im öffentlichen Leben der Völker der alten Welt, in ihren Rechts- und Religionsbüchern, sehr oft die Fünf- und Zehnzahl angewendet.

Nach der Hand bildeten sogar die praktischen Römer die Gestalt einer Ziffer; denn indem sie die Zahlen eins bis vier mit ebenso vielen senkrechten Strichen bezeichneten, gingen sie bei fünf von diesem Gebrauche ab und gaben dieser Zahl das Bild einer bei gespreiztem Daumen ausgestreckten Hand, woraus V (etruskisch Ʌ) entstand. Zehn wurde nun die Verdoppelung davon, daher: X. Selbst die Buchstaben, deren das altrömische Alphabet ursprünglich nur zwanzig hatte, lassen sich in zwei Zehente und vier Gefünfte, die der Fingerzahl angepaßt sind, zerlegen.

Die außerordentliche Bedeutsamkeit der Hand für das menschliche Leben brachte es aber auch mit sich, daß der Unverstand mit ihrer Hülfe Uebermenschliches zu erreichen strebte. Der Aberwitz des Menschen, die Gewinnsucht, welche auf die Leichtgläubigkeit des Volkes speculirt, ließen es sich nämlich angelegen sein, aus den geheimnißvollen Linien der inneren Handfläche die Zukunft und die Charaktereigenthümlichkeiten eines Menschen zu enthüllen. Die Hand ward so zu dem heiligen Buche der Chiromantiker oder Handwahrsager. Diese Hexenmeister genossen namentlich bei den abergläubische Römern großes Ansehen und trieben ihr Wesen in der schamlosesten Weise. Es war nun nicht mehr die freie, erhabene Stirn allein, von der sie die Schicksale der Menschen ablasen, in der Weise etwa, wie Goethe in seinem „Faust“ Gretchen von Mephistopheles urtheilen läßt: „Es steht ihm an der Stirn geschrieben, daß er mag keine Seele lieben,“ sondern sie entzifferten hinfort auch die geheimnißvollen Hieroglyphenlinien der Handfläche und deducirten daraus den gläubigen Sterblichen zukünftiges Glück oder Unglück. Die römischen Frauen und zwar vorzugsweise die Unbemittelteren waren es, welche den Offenbarungen der Chiromantiker ihr Ohr liehen und dieselben fleißig aufsuchten. Der römische Dichter Juvenal sagt darüber in einer Satire, in welcher er die verschiedenen Gaukler und abergläubischen Anstalten bei den römischen Frauen malerisch beschreibt: „Der reicheren Frau giebt der phrygische Augur und der hetruskische Blitzkundige Aufschluß über die Zukunft; ist sie unbemittelt, so wird sie in den Circus eilen, das Loos ziehen und aus Stirn und Hand sich ihr Schicksal verkünden lassen. “–

Die späteren Chiromantiker des Mittelalters sammelten ihr Material größtenteils aus den alten Physiognomikern Melampus, Polemo und Adamantius und bauten darauf ihre Systeme der Wahr- und Weissagekunst aus den Linien der Hand. Danach wurden alle die Linien, welche verschiedene Namen führen, nach ihrer Länge, Kürze oder Dicke, ihrer Tiefe oder Flachheit, nach ihrem mehr oder weniger blassen Ansehen, nach den Figuren, die sie bilden, beurtheilt. Die in der Hand verzeichneten Linien galten daher als das eigentliche Schicksalsbuch der Menschen, welches der Chiromantiker mit seiner Weisheit zu entziffern versteht.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Hand an diesem Orte einer anatomischen Zergliederung zu unterwerfen, aber es sei darauf hingewiesen, daß aus dem ganzen organischen Gefüge derselbe die größte Zweckmäßigkeit für alle nur möglichen Verrichtungen hervorgeht. Die geringfügigste Thätigkeit der Hand, das kleinste Zeichen mit dem Finger läßt eine große Menge von Muskeln in Wirksamkeit, ebenso viele aber wieder außer Wirksamkeit treten. Die einen spannen an, die andern erschlaffen, immer aber werden sie mit der größten Sicherheit und Genauigkeit geleitet, und geradezu bewundernswürdig ist die Thätigkeit der kleineren Muskeln in der Handfläche und zwischen den Knochen der Mittelhand, welche an die nahen Enden der Fingerknochen angefügt sind. Mit diesem feinen Muskelapparate erhalten die Finger eine erstaunliche Beweglichkeit, die auch in Bezug auf Zartheit und Feinheit in der Ausführung der verschiedensten Handlungen nichts zu wünschen übrig läßt. Es sind dies vorzugsweise die Organe, denen die Musiker ihre Fertigkeit im Spielen musikalischer Instrumente zu danken haben. Deshalb werden auch diese kleinen Muskeln von den Anatomen Fidicinales (diejenigen, welche die Saiten spielen) oder Geigenmuskeln genannt. Die Hand würde aber ihre Verrichtungen in dem ihr angewiesenen großen Umfange nicht mit so gewaltiger Kraft und Sicherheit auszuführen vermögen, das Gefüge der Knochen, Bänder, Muskeln, Gefäße und Nerven würde den Einflüssen äußerer Gewalt bald unterliegen, wenn die Handflächen, die inneren Seiten der Finger und deren Spitzen nicht durch fleischige Kissen, durch nachgiebige, starke Wülste, die zugleich die Apparate zur Ausübung des Tastsinnes sind, vor Gefahren geschützt würden. Diese Kissen bilden in der Hohlhand mit Hülfe eines quer über die Hand gehenden, kräftig wirkenden Muskels nicht nur eine natürliche Vorrichtung zum Wasserschöpfen, den Becher des Diogenes, sondern an den Enden der Finger auch die vorzüglichste Einrichtung zum Tasten. Mittelst dieser prallen, elastischen Wulst des Fingers ist der Mensch befähigt, bewundernswürdig fein zu fühlen. Mit ihm fühlt der Arzt den Arterienpuls. Kein anderes Organ ist dazu so vollkommen geeignet, wie der Finger, und selbst die feinfühlige Zunge vermag wegen der Weichheit ihres Gefüges den Pulsschlag im Handgelenk nicht zu erfassen.

Gleichsam als zweite Hand oder mindestens als Gehülfe der größeren kann der Daumen angesehen werden. Denn vermöge einer Anhäufung von Muskeln, welche den Ballen des Daumens bilden, erhält dieser selbst nicht nur eine außerordentliche Kraft, die ziemlich der von allen Fingern gleichkommt, sondern auch eine große Beweglichkeit nach allen Seiten hin. Deshalb hieß auch bei den Römern der Daumen Pollex, das heißt der starke, der kräftige Finger. Der Verlust des Daumens würde sonach ziemlich dem der ganzen Hand gleichkommen; ohne die thätige Mitwirkung des Daumens wäre die Kraft der übrigen Finger geschwächt und fast nutzlos. Der lange, kräftige, nach allen Seiten hin bewegliche Daumen muß entschieden als das charakteristische Merkmal der menschlichen Hand betrachtet werden; denn selbst die menschenähnlichsten Affen, wie der Gorilla und Chimpanse, haben keine Spur von jenem mächtigen, kraftvollen Daumenmuskel, wie er beim Menschen vorkommt; er ist bei ihnen nur in verkümmerter Form, als ein dünner, sehnenartiger Faden vorhanden.

Die elastischen, dem Tastsinne dienende Kissen an den [810] Fingerenden werden gehalten von den breiten, schildartigen Nägeln, durch welche die Finger in Ausübung ihrer Fertigkeiten außerordentlich unterstützt werden. Man sieht gewöhnlich auf diese organischen Gebilde mit Verachtung herab und ist in unseren Tagen viel zu wenig geneigt, ihnen besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu schenken. Anders war es bei unseren Vorfahren und den hervorragendsten Culturvölkern der alten Welt, den Griechen und Römern. Bei den letztern beiden Völkern waren die Barbierstuben fast ausschließlich die Orte, wo Gelegenheit geboten wurde, sich frisiren, den Bart scheeren und die Nägel beschneiden zu lassen. Hier hielten vorzugsweise auch die jungen Männer ihre Zusammenkünfte ab, um sich über Politik und öffentliches Leben, über Putz und Liebschaften zu unterhalten und ihre Ideen auszutauschen.

Nur reiche Leute besaßen die zu einer vollständigen Toilette gehörigen Instrumente, als Spiegel, Kämme, Scheeren und Messer von verschiedener Größe und Schärfe, und hielten sich besondere Sclaven, welche Kopf und Hand ihrer Gebieter wohl zu conserviren und zu verschönern verstanden. Die übrige Welt, auch der Geringste, der noch auf äußere Wohlanständigkeit und auf eine gewisse Eleganz in seiner Erscheinung Anspruch machte, pflegte die Morgentoilette fast täglich in der Barbierstube vorzunehmen; nie beschnitt man sich die Nägel an den Händen und Füßen selbst. Die vornehmen Damen, welche in ihren Toilettenzimmern ein dienendes Heer von Sclavinnen um sich versammelten, hielten sich zur Pflege der Nägel kunstgeübte Sclavinnen, welche sich zum Putzen und Glätten derselben statt einer Scheere kleiner silberner Zangen und feiner Messerchen bedienten, aber auch häufig Gebrauch von allerlei Säften, Kräutern und mineralischen Pulvern machten, um die rauhen Unebenheiten und Nebenauswüchse der Nägel abzuglätten und zu entfernen. Um den Zorn ihrer gestrengen Domina nicht herauszufordern, mußten sie dabei mit außerordentlicher Sorgfalt zu Werke gehen, damit ja kein Nietnagel entstehen oder irgend welcher Auswuchs übersehen werden möchte. Der Nagel hatte unter der geschickten Hand der Sclavin erst dann seine vollkommene Schönheit erreicht, wenn er, regelmäßig beschnitten und rein abgeglättet, in sanfter Fleischfärbung erglänzte. Von so vorzüglicher Schönheit waren z. B. die Nägel der Cynthia, von welchen der verliebte Dichter Properz sich ein Denkmal in seinem Gesichte erbat. Der aalglatte Dichter Ovid, der sich in die Boudoirs der Damen so leicht Eingang zu verschaffen verstand und in Fragen der Toilette ein vollgültiges Urtheil zu sprechen vermochte, giebt seinen gelehrigen Schülerinnen die Vorschrift:

„Nur mit geringer Bewegung begleite die Schöne die Rede,
Ist ihr der Finger zu fett, ist ihr der Nagel zu rauh!“

Der Dichter deutet in diesen Versen darauf hin, daß zu den Bewegungen der Hand, wodurch sich der Mensch klar und verständlich machen und seine Empfindungen so schön und ausdrucksvoll darlegen kann, auch schöne Finger und ein wohlgepflegter Nagel erforderlich seien. Und in der That, zu keiner Zeit hat man es besser verstanden, die Hand als ein Werkzeug des Ausdrucks zu gebrauchen, als im Alterthum. Namentlich waren es die Römer, welche beim Sprechen lebhaft gesticulirten und das Verständniß der Rede durch häufige und geschickte Bewegungen mit Händen und Fingern vermittelten. Diese Geberdensprache gewann noch an Bedeutung, als man anfing, die Handbewegungen in bestimmte Regeln der Kunst zu bringen. Es entstand so die Cheironomie oder die Kunst, mit den Armen, Händen und Fingern regelmäßige Biegungen, Wendungen und Geberden hervorzubringen. Sie wurde gleichsam als eine Vorbereitungslehre zur nachahmenden Tanzkunst angesehen, bei der es im Alterthum weniger auf die Gelenkigkeit der Füße, als auf die ausdrucksvolle Beweglichkeit der Hände und Finger ankam, sodaß der sachverständige Ovid nicht die Füße, sondern nur biegsame Hände als Erfordernisse zum guten Tanze angiebt. Wie der Taubstumme die Hand zur Dolmetscherin seiner Empfindungen macht, so verstanden es namentlich auch die orientalischen Haremsdamen, nicht minder aber die Römerinnen durch die Sprache der Finger Mittheilungen irgend welcher Art an die richtige Adresse zu bringen. Die Finger aber, welche eine so beredte Sprache führten, mußten sich selbstverständlich auch durch Schönheit und Ebenmaß, durch Zierlichkeit und glänzende Fleischfärbung der Nägel auszeichnen. Unsere Schauspieler, ja auch die Kanzelredner verdanken ihre Erfolge wesentlich den maßvollen, schönen und ausdrucksvollen Bewegungen der Hände, und auch die Maler haben es verstanden, auf ihren Bildern die Sprache der Hände zum Ausdruck gelangen zu lassen.

Wie die Chiromantiker aus den Linien der Hand das Schicksal der einzelnen Menschen zu lesen verstanden, so fanden sie auch an den Nägeln Anhaltepunkte, welche ihrer Wissenschaft zu statten kamen; denn auch die verschiedenen weißen, schwarzen, braunen, rothen und gelben Flecken, Punkte und Wölkchen auf den Nägeln dienten dazu, über das zukünftige Geschick Auskunft zu geben. Die Chiromantiker fanden diesen Glauben unter dem Volke allerdings schon vor, aber sie legten sich Vieles daraus für ihre Wissenschaft zurecht und brachten System hinein. Dieser Volksglaube, nach welchem die kleinen Punkte und Gebilde auf dem Nagel für geheime Zeichen galten, welche die Zukunft zu enthüllen vermochten, läßt sich auch in Deutschland und in den nordischen Reichen bis auf die heidnische Vorzeit zurückführen. Noch heutzutage nennt man auf den Faröern die weißen Pünktchen auf den Nägeln Nôrnaspôr (Nornenspuren), und es liegt daher die Annahme nicht zu fern, daß der Nagel das Symbol der Schicksalsgöttinnen, der Nornen, oder überhaupt ein den Normen geheiligtes Glied gewesen sein möchte. Man begegnet auch noch hier und da dem diese Annahme bestätigenden Aberglauben, daß das Beschneiden der Nägel nur unter gewissen Umständen und zu gewissen Zeiten erfolgen dürfe, wenn Gefahren oder ein Unglück vermieden werden sollen. Nur am Freitag darf dies geschehen; denn dieser Tag war der Göttin Freyja geheiligt, und diese stand wiederum in engster Beziehung zu den Schicksalsschwestern. Insofern bringt das Beschneiden der Nägel am Freitag Glück und Geld und schützt vor Zahnweh. Die weißen Flecke an den Nägeln bedeuten nach dem Glauben der verschiedensten deutschen Volksstämme Glück. So in Westpreußen, wo man sagt: „die Nägel blühen“, in Tirol, wo der Volksmund von der „Nagelblüh“ spricht, und auch in Baiern und Holstein knüpfen sich an die „Sterne“ und „Blomen“ günstige und glückliche Vorbedeutungen an das zukünftige Leben auf dieser Welt. In England ist derselbe Volksglaube vorherrschend. Dagegen sind gelbe, braune, rothe und schwarze Flecken auf den Nägeln meist unglückverheißend; sie bringen Noth, Sorge und Tod.

Clemens Fleischer.