Die Wirbelstürme oder Cyklonen der tropischen Meere

Textdaten
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Autor: Dr. Klein
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Titel: Die Wirbelstürme oder Cyklonen der tropischen Meere.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 632–635
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die Wirbelstürme oder Cyklonen der tropischen Meere.

Eine Seefahrt ist heutzutage eine ganz gewöhnliche Sache. Wie die Postwagen auf einer Landstraße, so fährt der heutige eiserne Dampfer über den Ocean, ununterbrochen, Tag und Nacht arbeitet die gewaltige Maschine und zwingt den Koloß durch Wogen und Wind seinem Ziele entgegen, so daß am Tage, wo er „fällig“, der „Steamer“ auch regelmäßig in Sicht ist. Fast wörtlich gilt dies für die meist befahrenen Routen zwischen Nordamerika und Europa. Von den „Schrecknissen“ des Meeres, die er sich drinnen im Binnenlande so grauenvoll ausgemalt, merkt der Reisende auf unseren transatlantischen Dampfern eigentlich nichts, und selbst wenn es heißt, daß Sturm aufgekommen ist und das Schiff ungewöhnlich stark stampft und rollt, sieht sich das Ganze doch nicht so gefährlich an, wie man daheim geglaubt hat. Auch die Officiere des Schiffes legen auf solchen Sturm wenig Gewicht und erklären auf Befragen wohl dem neugierigen Reisenden, daß nicht sowohl Sturm als vielmehr Nebel ihnen Sorge mache. Nebel und „unsichtiges“ Wetter verlangen weit mehr Opfer an Menschenleben und Schiffen, als die Stürme, das kann so ziemlich Jeder hören, der einmal von Europa nach Nordamerika oder umgekehrt fährt. Wer jedoch hieraus schließen wollte, daß überhaupt die Stürme des Oceans der modernen Schifffahrt nicht eben sehr gefährlich seien, der würde sich sehr irren. Es giebt nämlich Meerestheile, in welchen Orkane von solch zerstörender Gewalt auftreten, daß daneben unsere nordatlantischen Stürme meist sehr harmlos erscheinen.

Glücklicher Weise sind jedoch diese Meerestheile verhältnißmäßig nicht allzu ausgedehnt, und auch das Auftreten jener Orkane ist ein relativ seltenes. Kämen sie so häufig vor wie etwa die Stürme des nordatlantischen Oceans, so wäre ein geordneter Schiffsverkehr in jenen Meerestheilen überhaupt nicht möglich.

Hauptsächlich sind es drei Regionen auf unserer Erde, wo Orkane mit größter Heftigkeit aufzutreten pflegen, nämlich Westindien, der Indische Ocean und die Chinesische See. In Westindien nennt man diese Stürme Hurricane, im Chinesischen Meere Teifune, im südlichen Theile des Indischen Oceans auch bisweilen Mauritius-Orkane nach der gleichnamigen Insel, die häufig von ihnen heimgesucht wird. Von großer Heftigkeit sind ferner die Drehstürme der Bai von Bengalen, doch erscheinen sie dort glücklicher Weise seltener als in der Chinesischen See. Auch das Arabische Meer wird nur bisweilen von ihnen heimgesucht. Nach einer statistischen Zusammenstellung von Blanford sind in den letzten 139 Jahren im Bengalischen Meerbusen 115 Wirbelorkane aufgetreten; in manchen Jahren fehlen sie vollständig, in anderen treten sie häufig auf. Die meisten ereignen sich dort in den Monaten Mai und Oktober. Nach Kapitän A. Schück entfallen von 214 Orkanen, die während 85 Jahren in der Chinesischen See beobachtet wurden, 40 auf den August und 58 auf den September. Auch in Westindien sind diese beiden Monate die bei Weitem sturmreichsten, während im südindischen Ocean die meisten Stürme in den Monaten Januar und Februar eintreten.

All diese Stürme zeigen die charakteristische Eigenthümlichkeit, daß bei ihnen der Wind von allen Seiten her um ein Centrum weht, in welchem das Barometer am tiefsten steht. Früher glaubte man, die Bewegung des Windes um dieses Sturmcentrum sei kreisförmig, und man bezeichnete deßhalb alle diese Orkane mit dem Namen Cyklonen oder Kreiselstürme. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, daß der Wind in spiralförmigen Bahnen gegen das Sturmcentrum hinweht, und daß dort die herbeiströmende Luft emporsteigt. Je näher man dem Centrum einer Cyklone kommt, um so mehr fällt das Barometer. Unter normalen Verhältnissen beträgt der Luftdruck am Meeresspiegel ungefähr 760 Millimeter, im Centrum der tropischen Orkane sinkt er dagegen bisweilen auf 700 Millimeter. Von einem solchen Sturmcentrum aus steigt nun der Luftdruck nach allen Seiten, in einzelnen Fällen selbst bis zu vier Millimeter pro Meile. Je stärker aber die Luftdruckunterschiede pro Meile sind, um so heftiger weht der Wind, und bei einem Druckunterschiede von vier Millimetern wird er zum Orkane, dem fast nichts zu widerstehen vermag. Die Richtung, in welcher der Wind um das Sturmcentrum läuft, ist auf jeder Erdhalbkugel unveränderlich dieselbe. Man prägt sie sich am besten auf folgende Weise ein. Denkt man sich auf den Punkt, der das Sturmcentrum bezeichnet, eine Uhr gelegt, so läuft der Wind auf der nördlichen Erdhalbkugel um diesen Punkt in einer Richtung, welche der Bewegung des Uhrzeigers entgegengesetzt ist; auf der südlichen Erdhälfte dreht sich dagegen der Wind in der gleichen Richtung wie der Zeiger der Uhr. Das Centrum dieser Sturmbewegung liegt jedoch nicht still, sondern bewegt sich mit dem ganzen Sturmfelde gewöhnlich nach Westen, wobei es sich vom Aequator entfernt und dem nächsten Wendekreise zustrebt. Auf unserer Erdhälfte geht dann der weitere Zug des Sturmes zunächst nach Norden und hierauf nach Nordosten, auf der südlichen nach Süden und später nach Südosten. Zur Verdeutlichung des Gesagten folgen hier zwei nach Müller reproducirte Kärtchen. Fig. 1 stellt die Bahn eines Hurricanes dar, welcher im August 1837 die Bahama-Inseln und einen Theil der südatlantischen Staaten der Union traf. Der große Pfeil bezeichnet den Weg, welchen das Centrum des Sturmes nahm, die kleinen, successive größer werdenden Kreise zeigen durch die Pfeilspitzen an, in welcher Richtung der Wind um das Centrum wehte. Fig. 2 zeigt in ähnlicher Weise die Laufbahn eines Mauritius-Sturmes, der im März 1809 sich ereignete. Man erkennt an dem eingezeichneten Pfeile der drei kleinen Kreise, daß hier die Drehung des Windes um das Centrum umgekehrt ist wie im obigen Falle, weil nämlich der Sturm auf der südlichen Erdhälfte eintrat. In beiden Fällen sieht man aber auch, wie die Kreise des Orkans mit dem Fortschreiten desselben sich allmählich erweitern, also immer ausgedehntere Strecken der Atmosphäre in die wirbelnde Bewegung hineingezogen werden. Gleichzeitig wird indessen auch die Gewalt des Orkans geringer, bis er zuletzt völlig erlischt.

Nachdem wir jetzt flüchtig die allgemeinen Bewegungen der Cyklonen kennen gelernt haben, drängt sich naturgemäß die Frage auf: Woran kann der Seefahrer erkennen, daß ein Wirbelsturm im Herannahen begriffen ist? Ein wichtiges Merkmal haben wir [634] bereits hervorgehoben, nämlich die Abnahme des Luftdruckes. Jedesmal, wenn das Barometer rasch fällt, kann sich der Schiffer auf unruhiges Wetter gefaßt machen und deßhalb ist, besonders in denjenigen Meeren, die von Cyklonen heimgesucht werden, die sorgfältige Beobachtung des Luftdruckes von größter Wichtigkeit. Bisweilen aber kommen die Warnungen des Barometers zu spät, das heißt der Luftdruck fällt plötzlich sehr rasch und der Orkan ist fast unmittelbar da. Dies gilt besonders von den tückischen Teifunen der Chinasee, die bisweilen so plötzlich hereinbrechen, daß der Seefahrer keine Zeit hat Vorkehrungen zu treffen und sein Schiff völlig hilflos ist.

Der erfahrene Seefahrer achtet deßhalb auch auf eine Reihe anderer atmosphärischer Anzeichen. Nach Kapitän Wagner kündigen sich die Teifune der Chinesischen See meist schon einige Zeit vor ihrem Ausbruche durch abnorme Lufterscheinungen an. „Besonders schönes Wetter mit sehr klarer Luft, anhaltende Windstille bei übergroßer Hitze und ein ungewöhnlich hoher Barometerstand bei südwestlichem Wind sind in der Regel sichere Anzeichen eines herannahenden Teifun. Ebenso sind ein auffallend rothgefärbter Himmel, eine in Nordost oder Südost ansteigende dicke Wolkenbank, schnell vorüberfliegende Wolken aus einer von der Windrichtung abweichenden Richtung, ungewöhnliche Bewegung der See, deren Ursachen nicht erklärlich sind, Vorboten der Teifune. Gewöhnlich fängt der Wind dann zwischen Nordwest und Nordost an zu spielen, bis er sich in derjenigen Richtung festsetzt, aus welcher der Orkan losbrechen will. Selten dauert ein Teifun länger als 8 bis 12 Stunden, die meisten sind von kürzerer Dauer.“

Von der zerstörenden Gewalt dieser Teifune weiß besonders die Insel Luzon mit ihrer Hauptstadt Manila zu erzählen, vor allem steht der 20. Oktober 1882 dort in schreckensvoller Erinnerung. Wohl erkannte man auf dem Observatorium, daß der Zerstörer herannahe, und ungesäumt ergingen telegraphische Weisungen nach den hauptsächlichsten Orten der Insel, aber Hilfe konnte dadurch nicht gebracht werden. In wenig Stunden war der Orkan da, als Avantgarde zog ihm eine düstere Staubwolke vorauf, Donner und Blitz, in Begleitung von eiskaltem Regen, folgten. Heulend stürzte die entfesselte Luft auf alles, was ihr im Wege stand. Hunderte von Häusern wurden augenblicklich fortgeblasen, hohe Kirchtürme umgestürzt, alle Vororte Manilas in Schutthaufen verwandelt. In Paranague, einer Stadt von 10 000 Einwohnern, blieb kein Haus verschont, in der Stadt Narotas stürzte die Gendarmeriekaserne zusammen und die Straßen waren später nur an den Trümmern der Häuser erkennbar. Aehnlich war die Verwüstung in vielen andern Städten. In der Provinz Laguna wurde die Hälfte der Kaffee- und Zuckerplantagen vernichtet, der Jammer und das Elend der Bevölkerung spotteten jeder Schilderung.

Zu den furchtbarsten Wirbelstürmen gehört die Cyklone, welche in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November 1876 das Mündungsgebiet des Ganges verheerte und eine Sturmwelle erzeugte, welche jene flachen Regionen vollständig überfluthete und 100 000 Menschen das Leben kostete. Für die Bewohner jener Gegend ging kaum ein Anzeichen dem schrecklichen Ereignisse vorauf, obgleich schon einige Tage vorher im südlichen Theile des Bengalischen Meerbusens unruhiges Wetter mit Regenböen sich eingestellt hatte. Am Mittag des 30. Oktober lag das Centrum des Sturmfeldes unter 14° nördlicher Breite und bewegte sich langsam nordwärts; am 1. November 3 Uhr früh erreichte es die Inseln des Megna, welches der Unterlauf des Brahmaputra und der mit ihm vereinigten Gangesarme ist. Am Abend des 31. Oktober begab sich die Bevölkerung jener flachen Gegend ahnungslos zur Ruhe, aber um 11 Uhr kamen heftige Windstöße auf und um Mitternacht ertönte der Schreckensruf: „Das Wasser ist da!“ Drei hohe Wogen hinter einander brachen über das Land herein und in wenig Augenblicken war das Schreckliche geschehen. Wären nicht die leichten aus Zweigen und Matten errichteten Wohnungen meist von einem Walle hoher und dicht stehender Bäume umgeben, so hätte die gesammte Bevölkerung in den Fluthen ihren Untergang gefunden, so aber wurden zahllose Menschen vom Wasser in die Wipfel der Bäume getragen, wo sie sich aufhielten, bis die Wogen wieder zurücktraten. Der Orkan selbst war von furchtbarer Wuth, besonders im nördlichen Theil der Bai von Bengalen. Himmel und Meer schienen in einander zu verschwimmen, nicht Regentropfen, sondern völlige Wasserströme stürzten aus den Wolken herab und vermischten sich mit den wüthenden Wogen der See, dazwischen heulte der Wind in tausend schreckensvollen Tönen. Nachdem die Cyklone auf das Festland übergetreten war, verminderte sich ihre Geschwindigkeit und nordwärts fortschreitend wurde sie am Abend des 1. November von den Tipperah-Hügeln vollständig zerstreut und aufgelöst. Die Luftsäule, welche den furchtbaren Wirbel bildete, scheint also nicht über 3000 Fuß Höhe gehabt zu haben. Auch bei andern Wirbelstürmen hat sich herausgestellt, daß dieselben sich lediglich auf die unteren Schichten der Atmosphäre beschränken, die hohen Regionen der Luft dagegen gar nicht von ihnen berührt werden.

Wenden wir uns jetzt nach Westindien, so finden wir, daß dort die Hurricane in ihren verheerenden Wirkungen den Teifunen nicht nachstehen. Am 10. Oktober 1780 vernichtete ein solcher Orkan sogar die unter Sir Rodney’s Befehl segelnde englische Flotte vollständig. Auf der Insel Martinique kamen 9000 Menschen um, auf Santa Lucia 6000, die stärksten Gebäude wurden bis auf die Fundamente zerstört und die Kanonen von den Wällen geschleudert.

Eine Schilderung des Orkans vom 10. und 11. August 1831, welcher die Insel Barbados verwüstete, hat Reid gegeben. Hiernach war an jenem Abend um sieben Uhr ruhiges, heiteres Wetter. Gegen neun Uhr erhob sich ein Nordwind, eine halbe Stunde später sah man Blitze, um Mitternacht wurden diese furchtbar und der Wind wehte mit stürmischer Gewalt aus Nord und Nordost. Um ein Uhr Morgens wuchs die Gewalt des Sturmes, und sein Heulen wurde derart, daß es keine Sprache zu beschreiben vermag. Oberstlieutenant Nicles, Befehlshaber des 36. Regiments, hatte unter einem Fensterbogen des untern Stockwerkes straßenwärts Schutz gesucht und hörte wegen des Sturmes nicht das Einstürzen des Daches und des oberen Stockwerkes. Um drei Uhr nahm der Wind ab und sein Brüllen sank zu einem majestätischen Gemurmel herab. Bald aber brach der Orkan von Westen aufs Neue mit unbeschreiblicher Gewalt hervor. „Die festesten Gebäude erbebten in ihren Grundmauern, ja die Erde selbst zitterte, als der Zerstörer über sie hinwegschritt. Kein Donner war zu hören, denn das gräßliche Geheul des Windes, das Brausen des Oceans, das Gerassel der Ziegel, das Zusammenstürzen der Dächer und Mauern und die Vereinigung von tausend andern Tönen bildeten ein Entsetzen erregendes Geräusch.“ Gegen fünf Uhr ließ der Sturm nach und um neun Uhr war schönes Wetter. Aber auf welches Bild des Grausens schien die Sonne herab! „Vom Thurme der Kathedrale,“ sagt der Berichterstatter, „hatte man den Anblick einer Wüste. Keine Spur mehr von Vegetation. Der Boden sah aus, als wenn Feuer durch das Land gegangen wäre. Die zahlreichen Landsitze in der Umgebung, früher von dichten Gebüschen beschattet, lagen nun frei in Trümmern.“ Was mag sich in dieser Schreckensnacht auf der offenen See, auf den Schiffen, deren Unstern sie in die Fänge des Orkans geführt, ereignet haben! Niemand weiß es, der Ocean ist ein unermeßliches, stummes Grab. Nach den Beobachtungen von Viñes gilt auch für Westindien die Thatsache, daß ein ungewöhnliches Steigen des Barometers bei anhaltend klarem Himmel und merkwürdig durchsichtiger Luft das früheste Merkmal ist, welches andeutet, daß in der Ferne ein Orkan vorhanden. Rückt derselbe näher, so beginnt das Barometer zu fallen, und der bis dahin heitere Himmel überzieht sich mit einem zarten Schleier, der allmählich dichter wird und Ringe um Sonne und Mond erzeugt. Bei Auf- und Untergang der Sonne färbt sich der Himmel dunkel feuerroth und violett, die Dämmerung wird verlängert und sobald der Wolkenschleier dichter geworden, scheint das ganze Firmament in Flammen zu stehen. Diese bald der dunklen Rothgluth eines Metalls, bald der Ziegel- oder Kupferfarbe verglichenen Beleuchtungen sollen einen so eigenartigen Charakter haben, daß sie von Keinem, der sie einmal gesehen hat, übersehen oder mit gewöhnlichem Abendroth verwechselt werden können. Dann treten leichte Federwolken auf, die Trübung nimmt zu, und die Luft wird nunmehr feuchtschwül. Der Schweiß verdunstet nicht, und eine allgemeine Ermattung befällt den Menschen. Von ferne erblickt man das herankommende Gebiet des Orkans als Wolkenwand, die, vom Meere gesehen, zuerst den Eindruck einer fernen Küste macht. Sie hebt sich mehr und mehr über den Horizont, ohne sich jedoch von diesem zu trennen.

Unter gewissen Umständen kann man die Wolkenbank eines in der Ferne vorbeiziehenden Orkans längere Zeit hindurch verfolgen. So sah der Beobachter von Trinidad auf Cuba die Wolkenmasse [635] des Orkans vom Oktober 1876 volle fünf Tage lang, wie sie sich von Süden durch Westen nach Norden längs des Horizonts vorschob, während sonst der Himmel meist heiter war. Steigt nun die Wolkenbank mit Annäherung des Orkans höher, so löst sich ihr bis dahin scheinbar kompakter Rand in einzelne Regenwolken auf, die rasch über den Scheitelpunkt hinwegeilen und dabei Sprühregen, Schauer und Böen bringen. Im äußeren Theile des Orkans, sagt Niñes, regnet es oft stundenlang fein und dicht, dann kommen häufiger starke Schauer mit zunehmend heftigen Böen, die Wolken werden finsterer und hängen tiefer herab, und nahe beim Centrum des Orkans stürzt der Regen zuletzt fast in zusammenhängenden Massen herab, die oft Ueberschwemmungen erzeugen. Geht das Centrum selbst über den Beobachtungsort hinweg, so zeigt die dicke Wolkenmasse eine Oeffnung, durch die in der Nacht Sterne sichtbar sind. Bei allen Wirbelstürmen herrscht im Centrum fast Windstille, aber nachdem es weitergeschritten, bricht der Orkan aus entgegengesetzter Richtung mit erneuerter Wuth hervor, bis sich seine Kreise von dem Beobachtungsorte entfernen.

Fig. 1.0 Die Bahn eines Hurricans.

Betrachten wir jetzt nochmals unsere Fig. 1. Wir sehen hier das Centrum des Orkans in der Richtung des großen Pfeiles einen Bogen beschreiben, während gleichzeitig die Luft als Sturm in der durch die Pfeilspitzen der vier kleinen Kreise angezeigten Richtung rotirt. Nehmen wir nun an, ein Schiff befinde sich im Bereiche dieser Kreise, so genügt eine kurze Ueberlegung, um einzusehen, daß die Gefahr für dieses Schiff in den einzelnen Theilen des Orkans eine sehr ungleiche ist. Am gefährlichsten ist die Lage auf der Vorderseite des Wirbels am inneren Theile der Krümmung der Sturmbahn, ungefähr da, wo in den kleinen Kreisen die Pfeilspitzen gezeichnet sind. Dasselbe gilt auch für die Orkane der südlichen Erdhälfte, wovon Fig. 2 ein Beispiel vorführt.

Fig. 2.0 Die Bahn eines Mauritiussturmes.

Man sieht nämlich leicht, daß ein Schiff dort sich mehr und mehr dem Sturmcentrum nähern muß. Es bleibt also nicht nur länger in den Kreisen des Orkans, sondern wird auch den heftigsten Windstößen ausgesetzt, im Centrum selbst aber ein Spielball der Wogen sein, die dort aus allen Richtungen durch einander rollen. Der erfahrene Seemann muß deßhalb unter allen Umständen versuchen, vom Centrum des Orkans abzukommen, überhaupt den sogenannten „gefährlichen Halbkreis“ an der innern Seite der Sturmbahn zu vermeiden. Um dies thun zu können, ist vor allen Dingen erforderlich, daß der Seefahrer weiß, in welcher Richtung das Sturmcentrum liegt. Wenn wir voraussetzen, daß der Wind in Kreisen um dieses Centrum weht, so ist es nicht schwer, dessen Lage zu erkennen, man braucht nur dem Winde den Rücken zu drehen, so liegt auf unserer Erdhälfte der Mittelpunkt der Cyklone genau links vom Beobachter, auf der südlichen rechts. Auch über die Annäherung oder Entfernung des Centrums kann sich der Schiffer orientiren. Je näher dasselbe herankommt, um so mehr fällt das Barometer, und gleichzeitig dreht auf der rechten Seite des Wirbels der Wind von Südost durch Süd gegen Südwest, auf der linken Seite von Nordost durch Nord nach Nordwest.

Nehmen wir jetzt, unsere Figur 2 zu Grunde legend, an, ein Schiff befinde sich östlich von der Insel Madagaskar und wolle den Indischen Ocean durchqueren. Das Fallen des Barometers verbunden mit dem Aussehen des Himmels lassen den Führer erkennen, daß eine Cyklone herannaht. Er beachtet nun sehr sorgfältig den Wind und bemerkt, daß derselbe in starken Böen aus Südost einsetzt und mit fallendem Barometer allmählich gegen Süd dreht. Unter diesen Umständen kann kein Zweifel mehr sein, daß das Sturmcentrum dem Schiff näher kommt, aber noch östlich von ihm liegt. Würde daher der Führer des Schiffs versuchen seinen östlichen Kurs fortzusetzen, so würde er geradezu dem Sturme in den Rachen laufen und aus dem sogenannten „handlichen“ in den gefährlichen Halbkreis des Orkans gerathen. Seine Position ist dagegen selbst eine relativ günstige, indem er bequem nach Nord und Nordwest ausweichen kann.

Befände sich das Schiff dagegen östlich von der Sturmbahn auf der Route nach der Südspitze von Madagaskar, so wäre seine Lage eine viel schlimmere. Dem Kapitän bliebe dann wenig anderes übrig, als den Versuch zu wagen, zu „lenzen“, das heißt vor dem Winde zu laufen, um die Bahn der Cyklone zu passiren, ehe das Centrum herankommt, oder auf Backbordhalsen beizudrehen, das heißt den Sturm auszuhalten, wobei der Wind von links her über das Schiff weht. Unter der obigen Voraussetzung einer genau kreisformigen Bahn der wirbelnden Luft um das Orkancentrum hat man schon vor einem Vierteljahrhundert specielle Tabellen für den praktischen Seemann aufgestellt, nach denen er bei jeder möglichen Lage eines Wirbelsturmes zu manövriren hat. Diese speciellen Tabellen sind jedoch verwerflich, denn wie wir heute wissen, weht der Wind durchaus nicht in kreisförmiger Bahn um das Centrum, sondern die Luft strömt in Spiralen diesem entgegen, ja in mehreren Fällen wehte der Sturm geradezu in das Centrum hinein. Natürlich ist es dem Schiffsführer ganz unmöglich darüber klar zu werden, wie groß in einem gegebenen Falle die Abweichung der wahren Bahn des Windes um das Centrum von der kreisförmigen ist, er wird sich daher der oben bezeichneten Bequemlichkeitstabellen nicht bedienen dürfen. Ueberhaupt kann man nicht nachdrücklich genug betonen, daß es nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft nicht erlaubt ist, specielle Vorschriften für die Navigirung in Cyklonen aufzustellen. Nur allgemeine, auf dem durchschnittlichen Charakter der Luftbewegung und der Bahn dieser Stürme beruhende Ausführungen, nach Art derjenigen, welche im Vorhergehenden gegeben wurden, können die Grundlage bilden, auf der sich das Urtheil des Kapitäns aufbaut, wie er im gegebenen Fall zu steuern hat.

Auch über die Entstehungsweise der Cyklone ist die Wissenschaft noch nicht zu festen Ergebnissen gelangt. Sicher ist, daß im Centrum dieser Orkane eine lebhaft aufsteigende Luftströmung stattfindet; ist diese einmal eingeleitet, so wird die rings herumlagernde Luft gewissermaßen eingeschlürft, sie steigt empor und ihre Feuchtigkeit stürzt in Gestalt von Regen herab. Daß der Vorgang nicht so bald ein Ende findet, dafür sorgt die Umdrehung der Erde, denn sie ist es, welche die Wirbelbewegung verursacht.

Wie wir gesehen haben, sind manche Erscheinungen, welche die Stürme darbieten, noch unklar, ja wichtige Fragen kaum erst erörtert. Dennoch darf man im Rückblick auf das schon Gewonnene sagen, daß die Wissenschaft von heute auch bereits das Dunkel der Sturmnächte erhellt und dem Schiffer im Kampfe mit Wind und Wellen ein wichtiger Führer geworden ist.[1] Dr. Klein.     


  1. Eine Anfangs Juni im Golf von Aden aufgetretene Cyklone ist es wohl auch gewesen, welche das bis jetzt vermißte deutsche Kriegsschiff „Augusta“ heimgesucht hat. Nach einem in der Weserzeitung erschienenen Berichte des deutschen Frachtdampfers „Donar“, welcher der Bahn des Orkans in größerm Abstand vom Centrum nahe kam, scheint es, daß die „Augusta“ wahrscheinlich 100 Seemeilen östlich von Perim, von dem Wirbelsturme ereilt wurde. Ob das Kriegsschiff darin seinen Untergang fand oder nicht, entzieht sich Mitte September, wo wir diese Zeilen niederschreiben, jeder Beurtheilung; vielleicht hat das Schiff nur an der Maschine schwere Havarie erlitten und der Kommandant den Versuch gemacht, die Reise unter Segel fortzusetzen; doch ist die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme, offen gesagt, nur gering.