Die Schrift des Aristoteles über die Athenische Staatsverfassung

Textdaten
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Autor: Max Fränkel
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Titel: Die Schrift des Aristoteles über die Athenische Staatsverfassung
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 5 (1891), S. 164–167.
Herausgeber: Ludwig Quidde
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
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[164] Die Schrift des Aristoteles über die Athenische Staatsverfassung[1]. Der geschichtlichen Alterthumswissenschaft ist ein unermessliches, ungeahntes Heil widerfahren: dem zähe bewahrenden Boden Aegyptens haben wir seit dem Jahre 1847, wo er uns vier mehr oder weniger vollständige Reden des vorher nur aus einem Bruchstückhaufen bekannten Hypereides geschenkt hat, für so manches werthvolle Papyrusfragment aus untergegangenen Schriften dankbar sein müssen; aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass er uns auch das Werk hergeben würde, das wir uns von allen verschwundenen Quellen Griechischer Geschichte zuerst gewünscht hätten, wäre uns von einem Gotte die Wahl frei gestellt worden? Die Bedeutung des neuen Fundes zu hoch anzuschlagen ist gar nicht möglich, waren doch nahezu die gesammten literarischen Quellen für eine systematische Erkenntniss der Attischen Staatsverfassung nichts als durch Schriftsteller niedrigsten Ranges: Grammatiker, Lexikographen und Scholiasten, [165] übermittelte Fetzen aus dem uns jetzt zu einem grossen Theile wiedergegebenen Werke; jetzt da der Forscher aus dem edlen Strome selbst schöpfen kann, anstatt aus den schlechten Canälen, in welchen er mit allerlei argem Schlamm durchsetzt und vielfach ganz verfälscht worden war, muss diese ganze Disciplin von neuem durchgearbeitet werden: eine Menge von Streitfragen, über die nie eine Einigung erzielt werden konnte, erhalten ihre bündige Erledigung und wir empfangen neue Aufschlüsse, die wir nicht ahnen konnten.

Die Wissenschaft kann sich glücklich schätzen, dass dieser Schatz gehoben ist, aber auch dass er in Hände fiel, die seiner würdig sind. Aus welchem Theile Aegyptens das British Museum die kostbare Erwerbung gemacht hat, wird nicht mitgetheilt; deswegen aber einen Tadel auszusprechen wäre ein Beweis starker Unbilligkeit oder starker Unkunde. Denn der Wissenschaft liegt an dieser Kenntniss recht wenig, aber unendlich viel liegt ihr daran, dass der Wettbewerb der Alterthumshändler um etwaige weitere Schätze derselben Fundstätte abgewendet wird, da die Araber in solchen Fällen die Geschäftspraktik befolgen durch Zerschneiden der Papyri möglichst vielen Kauflustigen etwas bieten zu können. Wenn sich das British Museum zudem auch von dem Motiv seines eigenen Nutzens leiten lässt, so ist ihm dies durchaus nicht zu verdenken; es ist vielmehr die einfache Pflicht der Verwaltung und um so mehr auch ihr Recht, als sie das nobile officium eines solchen Besitzes voll erfüllt: sie hat uns schnell eine offenbar mit Sorgfalt angefertigte Ausgabe geboten und wird in wenigen Wochen die Möglichkeit voller wissenschaftlicher Mitarbeit durch Veröffentlichung photographischer Facsimilia gewähren.

Herr Kenyon hat den Text transscribirt, kleinere Lücken ergänzt, manchen Schreibfehler berichtigt und er hat nicht nur eine Einleitung vorausgeschickt, welche die nöthigen thatsächlichen Angaben über die Papyri und eine Uebersicht des Inhalts mittheilt, sondern auch ziemlich ausführliche Anmerkungen hinzugefügt, welche in überaus dankenswerther Weise durch fleissige Zusammenstellung der bisherigen antiken Quellen und theilweise auch der modernen Ansichten die Würdigung des historischen Gewinnes ausserordentlich erleichtern. Ferner gibt er in einem Anhange eine Uebersicht über die aus der Schrift vorher vorhandenen Fragmente nach Rose’s Sammlung und druckt die in dem neu erstandenen Werke nicht erhaltenen ab: von den gesammten 91 Nummern Rose’s finden sich 78; von den 58, welche ihre Herkunft ausdrücklich angeben, sind 55 vorhanden. Selbstverständlich kann man, nachdem von Kenyon der mühselige erste Grund gelegt ist, über das von ihm Gebotene hinauskommen: manchen Fehler der Ueberlieferung wird der kundige Leser sich gleich [166] verbessern[2], manche weitere Emendation und Ergänzung wird durch eingehende Arbeit gewonnen werden können; aber der Herausgeber verdient alles Lob gerade auch dafür, dass er lieber die Gefahr des Irrthums auf sich nehmen als das Werk so lange der Allgemeinheit vorenthalten wollte, bis er diese Gefahr nach Möglichkeit verringert hätte. Es wäre höchst ungerecht, seine Leistung durch Hervorhebung der Versehen, wie der für uns auffallenden in den Accenten, herabsetzen zu wollen.

Die Handschrift umfasste, wie die Einleitung bemerkt, nie das ganze Werk: es fehlte ihr immer der Anfang, da vor der ersten Columne freier Raum ist. Es sind vier Papyrusrollen; die erste, die vollständig und 7 (Englische) Fuss 2½ Zoll lang ist, enthält 11 breite Columnen Schrift, die späteren in guter Erhaltung, die vorderen oft schwer zu entziffern. Die zweite Rolle, 5 Fuss 5½ Zoll lang, hat 13 engere Columnen in durchweg vorzüglichem Zustande. Von der dritten Rolle, 3 Fuss lang, konnten 6 Columnen aus einer grossen Anzahl von Fragmenten zusammengesetzt werden, die eine jedoch ist sehr unvollständig und auch die anderen lückenhaft. Die vierte Rolle ist ganz fragmentarisch, bis auf die letzte Columne, und die Schrift ist jämmerlich mitgenommen und vielfach ganz unlesbar. Die Höhe der Papyri ist durchgängig etwa 11 Zoll, nur der vierte misst jetzt kaum 10 Zoll.

Da Wilcken Vorder- und Rückseite eines Papyrus zu unterscheiden gelehrt hat, ist erkennbar, dass unser Text auf dem Verso steht, und da der Recto Rechnungen aus dem 11. Jahre des Kaisers Vespasian enthält, so muss das Exemplar des Aristotelesbuches nach diesem Jahre geschrieben sein, und zwar hat man einen gewissen Zwischenraum anzunehmen, bis jene Abrechnungen werthlos wurden; der Herausgeber setzt die Handschrift daher in das Ende des ersten oder den Anfang des zweiten Jahrhunderts[3].

[167] Abgeschlossen ist die Schrift in den letzten Jahren des Stagiriten, nach dem Jahre 329 v. Chr., dessen Archont Kephisophon angeführt wird (S. 137). Der Inhalt zerfällt in zwei Theile: der erste enthält die Entwicklungsgeschichte der Athenischen Verfassung von den ältesten Zeiten bis zur Vertreibung der Dreissig (S. 1–104); den Uebergang zum nächsten Theile bildet ein zusammenfassender Ueberblick über die elf grossen Veränderungen, welche das Attische Staatswesen im Laufe der Zeiten erfahren hatte (S. 104–107). Das zweite Hauptstück enthält eine eingehende systematische Darstellung der im Jahre des Archonten Eukleides gegebenen und zu Aristoteles’ Zeiten in Kraft stehenden Verfassung (S. 107–170). Die Handschrift beginnt mit dem Ende des Berichtes über die Verschwörung Kylons und der kurzen Erwähnung der von Epimenides vorgenommenen religiösen Reinigung der Stadt und endet mit der sehr verstümmelten Darlegung des Gerichtsverfahrens. Das Buch gewährt überall den Eindruck, dass es mit der peinlichsten Genauigkeit aus den urkundlichen Quellen geschöpft ist, und die Sorgfalt erstreckt sich auch auf die stilistische Form, die von wundervoller Klarheit und bei Vermeidung des Hiatus ohne jede erkennbare Künstelei fein durchgebildet ist.

Soviel muss für jetzt genügen, um die ausserordentliche Bedeutung des neuen Fundes hervortreten zu lassen; den der Wissenschaft erblühten Gewinn nur einigermassen im Einzelnen darzulegen, würde eine nicht so schnell zu lösende Aufgabe sein.

M. Fränkel.     

Anmerkungen

  1. Ἀθηναίων πολιτεία. Aristotle on the constitution of Athens, edited by F. G. Kenyon. Printed by order of the trustees of the British Museum. London 1891. 8°. lj 190 S. 7 sh. 6 d. – [Mit der obigen kurzen Anzeige, die ursprünglich für die „Nachrichten und Notizen“ bestimmt war, hatte der Herr Verfasser die Güte, einer Bitte der Redaction um schleunige Abfassung eines Berichtes zu entsprechen.]
  2. Hier einiges von Andern (vgl. Athenaeum 1891 S. 217; 251. Academy S. 186) meines Wissens noch nicht Veröffentlichte. S. 26, 8 ἀνάγκ[η πλείσ]τας. 35, 2 ᾧ [καὶ] δῆλον: so Papyr. Berol. – 35, 9 (u. öfter) φιλονεικίαν. 39, 1 λέγων [ἤνυσεν οὐ]θέν? 44, 8 ἐκέλευσεν. 44, Ende ἔμεινε [ἄρχων καὶ ὅ]τ’. 55, 8 καὶ [συν]δημότας. 74,9 πρῶτον. 76,7 τῶν πολεμίων (neutr.). 81,15 ὡς οὐ [πάντως] δημοτικήν 90, 10 μισθοφόρον. 93, 3 ὀλιγαρχίας. 112, 12 ἑκατέρων [κἄν τι]ς. 116, 8 ἀρχαιρεσίας; (das voranstehende δεκ ist Dittographie). 117, 13 ἐάν τινος. 122, 15 δικαστ[αί, κυρία ἡ κ]ρίσις. 123, 17 τῶν Νικῶν. 130, 14 μαρτυρίαις ἄλλ[αις] ἢ. 139, 11 ἵν’ ἐάν τις. 139, 14 τὸν λίθον, ἐφ’ οὗ τὰ τόμια. 141, 8 καὶ ἀρχι[θεωρὸν τ]ῷ. 158, 5 εἰσαγγελίᾳ. 159, 4 φυλὰς εἰς δέκα μέρη.
  3. Dem Herausgeber fällt es auf, dass der in den Rechnungen auftretende Monat Σεβαστός nicht mit dem August identisch ist, sondern dem Aegyptischen Thout entspricht, der erst am 29. August begann. Aber in Asien beginnt der zu Ehren des ersten Kaisers benannte Monat und damit das Jahr an seinem Geburtstage, dem 23. September: die Aegypter hatten mit etwas minderer Schmeichelei wenigstens den ersten Monat ihres Jahres, in welchen der Geburtstag des Augustus fiel, nach ihm benannt.