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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[785]

No. 47.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


„Da höre ich den Wagen vorfahren,“ sagte Kayser. „Adieu, Kind! Plaudere ein Bischen mit Frau Hörig, wenn Dir die Zeit zu lang wird, und laß sie Dir etwas Gutes zum Diner bereiten, denn ich werde voraussichtlich in der Stadt speisen.“

Er nickte ihr zu und ging davon. Einige Minuten später hörte Hanna seinen Wagen vom Hofe fahren, und langsam und matt ging sie die Treppe hinauf und trat in ihr Zimmer. Wieder stand sie am Fenster und hörte auf das Rauschen des Windes und auf das Plätschern des Regens. Was sollte sie jetzt beginnen? – Sie holte eine Handarbeit herbei und fing an zu arbeiten. Bald aber fielen ihre Hände hinab, sie lehnte sich in den Stuhl zurück und überließ sich wieder ihren Gedanken.

Verhielt es sich wirklich so, wie ihr Oheim eben gesagt hatte? Und wenn es der Fall war – wenn nur unweibliche Kühnheit den Sieg davontrug – würde sie je den Muth haben, so um die Liebe eines Mannes zu werben? Heiße Gluth bedeckte ihre Wangen bei diesem Gedanken. Niemals, niemals! Keine rechte Frau, die dies könnte, und kein rechter Mann, der daran Gefallen fände! Auch Er müßte sich dadurch eher abgestoßen, als angezogen fühlen. Aber Paula war reich, und solide Interessen binden fester an einander als Liebe – so hatte ihr der Onkel gesagt. Und sie selbst besaß Nichts, gar Nichts auf der Welt. Wenn ein Königreich ihr eigen gewesen wäre, so hätte sie es Ihm – Ihm allein geben wollen. – –

Sie stand schnell auf und fuhr mit der Hand über die Augen. Nein, so ging es nicht. Solchen Gedanken durfte sie nicht nachhängen. Welch’ jammervolle, elende Schwäche! Hatte denn dieser graue Regentag und die Unthätigkeit, in welcher sie die letzten Tage zugebracht, sie so niedergedrückt, daß all ihr Stolz, all ihr tapferer Muth ihr darüber verloren gegangen war? – Wie konnte sie sich so gehen lassen! War es so weit mit ihr gekommen, daß sie sich Reichthümer wünschte, um sich die Liebe eines Mannes erkaufen zu können?

„Nein,“ sagte sie, während sie sich entschlossen erhob, „nein, es ist ganz gut so, wie es ist. Ich bin jung und gesund und habe etwas Tüchtiges gelernt. Der Onkel muß es zugeben, daß ich Lehrerin werde. Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend – das ist’s, was mir fehlt. Muth, Hanna, Muth! Wer tapfer das Leben angreift, wird damit fertig.“

Eine Viertelstunde später saß sie vor ihrem Schreibtische, eifrig damit beschäftigt einen regelrechten Studienplan für sich zu entwerfen. Sie wollte die Zeit bis zum Herbste, wo sie hoffte eine Stelle annehmen zu dürfen, noch gut ausnutzen, und dann würde sie von hier fortkommen, meinte sie – wenn möglich so weit fort, daß von Allem, was in und um Elmsleben geschieht, nicht oft Kunde zu ihr gelangen würde.




13.

Die Stunden des Vormittags waren verronnen – Hanna hatte sie bereits ihrem Plane gemäß benutzt. Mit Wangen, welche sich über dem Eifer, womit sie sich an’s Werk gemacht, mit hellem Roth gefärbt hatten, saß sie so vertieft in die Uebertragung eines schwierigen englischen Essays in's Deutsche, daß sie es überhörte, wie ein Wagen unten vorfuhr und wie ein leichter Schritt die Treppe heraufkam. Erst das leise Oeffnen der Thür schreckte sie auf. Aber als sie sich rasch umwenden wollte, legten sich zwei warme, weiche Hände auf ihre Augen, und eine verstellte Stimme fragte, wer wohl der Gast sei?

„Sind Sie es, liebe Marie? Wie freundlich, daß Sie gekommen sind!“ rief Hanna.

„Leider nicht die liebe Marie, aber doch Eine, die Grüße von ihr bringt,“ sagte Paula, die Hände von Hanna’s Augen entfernend, dafür aber ihren Arm um den Hals des jungen Mädchens legend und das Gesicht desselben mit Küssen bedeckend. „Wird Paula weniger freundlich bewillkommnet werden?“

Im ersten Augenblicke wollte sich in Hanna’s Herzen ein leiser Widerwille gegen diese stürmische Liebkosung regen, im nächsten aber schämte sie sich solcher Regung, und sie tapfer niederkämpfend zeigte sie ihrem Gaste ein heiteres und freundliches Antlitz.

„Man wollte Sie herunterrufen, aber ich ließ es nicht zu,“ fuhr Paula fort. „Ich wollte Sie überraschen, Herzblättchen. – Dies also ist Ihre Wohnung? Wie reizend! Das Nest ist des Vögelchens würdig, das darin wohnt.“

Sie schaute lächelnd und neugierig in dem Raume umher und ließ dann ihr Auge bewundernd auf der Bewohnerin ruhen, welche die Feder niedergelegt hatte und langsam aufgestanden war.

„Wenn ich wirklich der Junker Paul wäre, den Natur in mir so schmählich verpfuscht hat, so wüßte ich wohl, um welche junge Dame ich werben würde,“ fuhr sie nach einer Weile fort, langsam umherschlendernd, wobei die lange Schleppe ihres schweren Seidenkleides geräuschvoll hinter ihr herrauschte. „Aber ich fürchte, Sie hätten mir einen Korb gegeben – ich wäre zu spät gekommen – nicht?“

[786] „Zu spät keineswegs – aber –“

„Aber ich wäre nicht nach Ihrem Geschmack gewesen – ich verstehe. Ihr Genre ist mehr ein hoher stattlicher Held, als ein hübscher, lustiger Junge. Und für Sie, mein Herzblättchen, ist das auch das Richtige, denn Sie wissen ja: wo sich das Spröde mit dem Zarten –“

„Sie kommen eben von Marie Reinhard?“ fragte Hanna ablenkend.

„Ja, mein Liebling! Und wen, glauben Sie wohl, traf ich draußen im Vorzimmer, ebenfalls in der Absicht, sie zu besuchen, als ich im Begriffe war, zu gehen? Wen anders, als Ihren würdigen Oheim. Er war bei dem Bruder gewesen, während ich der Schwester meinen Besuch abstattete, und begleitete mich an den Wagen. Ich habe ihm das Versprechen geben müssen, mich Ihrer in Ihrer Einsamkeit anzunehmen. Was sagen Sie dazu, Hanna, daß ich heute die Absicht habe bei Ihnen zu bleiben – werde ich Ihnen nicht lästig fallen?“

„Wie können Sie nur so fragen, liebe Paula? Das war ein guter Gedanke von meinem Onkel.“

„Und ich prophezeie, daß wir heute noch mehr Besuch bekommen werden. Ich darf Ihnen den Namen nicht nennen, aber ich sehe aus Ihrem Erröthen, daß Sie ihn bereits ahnen.“

Hanna wandte sich ab, um den kostbaren Sammetumwurf Paula’s, den diese nachlässig abgeworfen hatte, sorgfältig zusammenzufalten.

„Wie hat Ihnen Marie Reinhard gefallen?“ fragte sie.

„Wie anders, als gut, mehr als gut! – O Hanna, das ist ein Mädchen, auf das eine Königsfamilie stolz sein könnte. Eine vollendete Dame, so fein, so graziös, so anmuthig! – Eine Schwägerin, die man mit Stolz überall präsentiren kann, nicht wahr, Liebling?“

Sie war lächelnd und strahlenden Auges vor Hanna stehen geblieben.

„Und dennoch giebt es Menschen, Kind, dumme, beschränkte Menschen, die eine Verbindung mit dieser Familie für eine Mesalliance erklären. Aber sie sollen sich beugen lernen. Sie sollen noch einst demüthig um ihre Gunst bitten.“

„Er ist ein stolzer Mann, Paula. Es wird ihm nicht leicht werden, in eine Familie einzutreten, die ihn nur widerwillig aufnimmt.“

„O, ich verkenne das nicht, mein Liebling. Und um die Wahrheit zu gestehen, so ist gerade Er“ – und sie wies in die Richtung der Fabrik hin – „derjenige, den zu gewinnen mir die meisten Schwierigkeiten machen wird. Man kann nicht zehn Worte mit ihm sprechen, ohne zu merken, daß die Grundlage seines Charakters nicht von Sammet ist. Aber ich will ihn kirren, Hanna, ich will ihn kirren. Zwar fühlt sich mein Stolz oftmals verletzt, wenn er mich mit seinem scharfen Blicke mißt, einem Blicke, in dem ich nur zu deutlich lese: Sie, mein gnädiges Fräulein, sind in vielen Dingen durchaus nicht nach meinem Geschmacke – Sie sind nicht gerade Diejenige –“

„O, wie können Sie so sprechen, Paula! Sie irren sich – Sie irren sich sicherlich.“

„Nein, kleine Weisheit, ich irre mich nicht. Aber ich lasse mich nicht so leicht abschrecken. Ich sage mir: er ist es werth, daß Du Dich um ihn bemühst, und wäre es auch zweimal sieben Jahre, wie Jakob um Rahel. Wie stolz bin ich auf ihn – er ist geschaffen zum Familienhaupte. Ich möchte ihn nicht anders haben, den herrlichen Burschen; ich will ihn gewinnen, ihn zwingen, mich lieb zu haben. Welch ein Leben soll das werden, vereint mit diesem prächtigen Menschen!“

„Sagen Sie mir, Paula,“ drang Hanna in sie, auf welche diese leidenschaftlichen Worte fast betäubend wirkten, „sagen Sie mir, wie es kommt, daß Sie so ganz anders sind, wie andere Frauen! Was giebt Ihnen diese stolze, sichere Zuversicht, die meinem eigenen Empfinden so fremd ist, daß ich mich vergebens bemühe, sie zu begreifen? Liegt der Unterschied darin, daß Sie eine reiche Erbin sind, daß Sie wissen, Sie gebieten über den mächtigsten aller Factoren, der Welt und Menschen bewegt – das Geld?“

„Nein, Herzblättchen, das ist es nicht, wenigstens ist es das nicht allein. Zwar unterschätze ich nicht den Vortheil, reich zu sein. Im Gegentheil – noch nie in meinem Leben ist mir mein Vermögen von so großem Werthe gewesen, noch niemals habe ich eine solche Freude an meinem Gelde gehabt, wie gerade jetzt. Aber meine Zuversicht entspringt aus einer andern Quelle: aus meiner heißen, innigen, opferwilligen Liebe. – Wenn man freudig sich selbst und Alles, was sein ist, Dem hingiebt, den man liebt, wenn man spricht: ‚Du bist mein König, und wie ein König sollst Du schalten mit dem, was jetzt Dein ist. Du und die Deinen sollen ferner Sorgen nicht mehr kennen, für mich aber begehre ich weiter nichts, als von Euch geliebt zu sein, Ihr theueren Menschen, als Euch lieben zu dürfen aus Herzensgrund‘ – glauben Sie nicht, Hanna, daß Diejenige, die so denkt und spricht, mit einiger Zuversicht auf Gegenliebe bauen darf?“

Es lag in Paula’s Worten Etwas, was Hanna zur Bewunderung hinriß, und dennoch wollte in dieser eine Stimme nicht schweigen, die ihr zuflüsterte, daß allen Empfindungen Paula’s eine unweibliche Kühnheit zu Grunde liege. Ja, wäre sie der Gegenliebe bereits sicher gewesen, so hätte sie allenfalls so sprechen dürfen, aber die Tiefe und leidenschaftliche Gluth eines Gefühls schildern, von dem sie wohl wußte, daß es nicht erwidert wurde, von ihrem heißen Ringen um die Liebe eines Mannes sprechen, in dessen Blicken, wie sie selbst gestand, sie oftmals Mißbilligung gelesen hatte – diese kecke Offenheit war ihr unbegreiflich. Und dennoch verfehlte Paula’s glühende, großherzige Natur ihre Wirkung auf Hanna nicht. Einem Impulse folgend, der stärker war als Reflexion, schlang sie die Arme um ihre Gefährtin, die mit leuchtenden Augen und mit tiefem Roth auf den Wangen vor ihr stand.

„Ja, liebe Paula,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „ja, ich bin sicher, Sie werden geliebt werden, wie Sie es verdienen. Welcher Mann könnte blind sein gegen den hohen Werth dessen, was Sie ihm bieten? Und Keiner, der Sie recht kennt, wird sich der Ueberzeugung verschließen können, daß der größte Schatz, den Sie ihm durch Ihre Hand bringen, nicht in Ihrem reichen Besitzthume besteht.“

„Das ist’s, Hanna, das ist’s, wonach ich gelechzt habe, so lange ich denken kann: geliebt zu werden um meiner selbst willen!“ rief Paula, die Liebkosungen ihrer Gefährtin stürmisch erwidernd. „O, wenn Du wüßtest, wie wenig Liebe ich kennen gelernt habe! Man hat mich mit Luxus umgeben; man hat mich verwöhnt und sich meinem herrischen Willen gebeugt; man hat mir geschmeichelt. Aber geliebt hat mich Niemand seit meinem sechsten Jahre, als ich Vater und Mutter verlor. Nicht einmal meine Tanten haben dem verwaisten Kinde ihres Bruders jemals um seiner selbst willen Liebes und Gutes erwiesen. Alles war niedriger Eigennutz und schmutzige Berechnung. Niemals haben meine Verwandten an mein Glück, sondern stets nur an ihren Nutzen gedacht. Sie würden mich ohne Bedenken elend für mein ganzes Leben machen, wenn ihnen daraus ein Vortheil erwüchse.“

„Sehen Sie sich vor, Paula,“ sagte Hanna warnend, „daß Sie Ihren Verwandten nicht Unrecht thun! Gegen Ihre Tante Sidonie – dessen bin ich sicher – ist Ihr Mißtrauen ungerecht.“

„Tante Sidonie!“ rief Paula mit einem verächtlichen Zucken ihres Mundes. „Sie irren, Hanna, wenn Sie glauben, daß Tante Siddy mich um meiner selbst willen liebt. Ihre Anhänglichkeit gilt meinem bequemen Hause und dem sorgenfreien, genußreichen Leben darin.“

„Nicht allein, sicher nicht allein! Verlangen Sie doch nichts Unmögliches, Paula! Fräulein von Contagne hat Sie gewiß herzlich lieb, das legt ihr aber nicht die Verpflichtung auf, blind zu sein gegen die Vortheile, die ein Aufenthalt in Ihrem Hause ihr bietet. Sie müssen sich überhaupt darauf gefaßt machen, liebe Paula, daß jedes Gefühl, welches Ihnen zu Theil wird, etwas beeinflußt wird durch Ihr großes Vermögen. Jeder, der in der Welt lebt – auch Sie selbst, Paula – weiß, welch eine große Macht im Gelde liegt. Keiner, auch der hochsinnigste Mensch nicht, kann sich heutzutage dieser Erwägung verschließen.“

Paula hatte anfangs mit einem ungeduldigen Lächeln auf den Lippen Hanna's Worten gelauscht. Nach und nach aber verwandelte sich der Ausdruck ihres Gesichtes. Das ungeduldige Lächeln wurde zu einem freundlichen, fast zärtlichen, und als ihre junge Wirthin endlich schwieg, beugte sie sich vor, um deren Wange zu küssen.

„Sie sind das großmüthigste, holdeste Geschöpf, das ich kenne,“ sagte sie. „Meinen Sie, ich merke es nicht, wie Sie schon entschuldigen und schlichten, ehe noch eine Anklage laut wird?“

[787] „Entschuldigen? Anklage? Solche Worte dürfen nicht angewandt werden, wenn von der Person gesprochen wird, an die wir Beide jetzt denken.“

Sie sprach die Worte mit einer Lebhaftigkeit, die ihr Gesicht mit dunkler Röthe bedeckte. Paula stand vor ihr, den Kopf zur Seite geneigt und betrachtete sie lächelnd.

„Carissima mia, streiten wir nicht!“ sagte sie freundlich. „Es liegt nicht in meiner Absicht, ‚die Person‘ zu verunglimpfen, denn sie steht mir kaum weniger hoch, als Ihnen. Aber ganz mit Ihnen einverstanden kann ich mich dennoch nicht erklären. Ist es nicht grausam von Ihnen, mein Selbstgefühl zu demüthigen durch die Behauptung, ich müsse jede mir dargebrachte Huldigung mit meinem Mammon theilen? Rechtfertigen Sie sich nicht, Kleine! Ich durchschaue Ihre Absicht, und habe Sie darum womöglich noch lieber, als bisher. Aber widerlegen muß ich Sie doch. Setzen wir den Fall, es wäre einem reichen Mädchen doch einmal eine Neigung zu Theil geworden, welche allein ihrer Person, nicht ihrem Vermögen galt. Nehmen wir an, ein Mann, der nicht wußte, daß sie reich war, brachte ihr eine solche entgegen. Denken Sie sich nun, Hanna, daß dieses Mädchen zum ersten Male in ihrem Leben eine wirkliche Liebe in den Augen eines Mannes glimmen sah, und das zwar trotz aller ihrer Thorheiten und Schwächen. Denken Sie sich, daß sie wahrnahm, wie seine Augen – und Sie müssen sich die schönsten braunen Augen vorstellen, die Sie je gesehen – ernst blickten, wenn sie ernst war, daß sie aufleuchteten, wenn sie heiter lachte. Denken Sie sich, daß sie sehen konnte, wie über sein hübsches, männliches Gesicht eine dunkle Röthe sich ergoß, wenn ihr Schritt sich hören ließ, daß sie aus tausend Zeichen erkennen konnte, sie werde endlich einmal um ihrer selbst willen geliebt. – Nun, Hanna, wollen Sie nach dieser Erklärung noch an Ihrer grausamen Behauptung festhalten, und wollen Sie es jenem Mädchen verdenken, daß sie um dieser Liebe willen Alles aufgiebt, Alles leichten Herzens hinwirft – Familie, Adel, Reichthum, ja, wenn es sein muß, Heimath und Vaterland?“

„Wer könnte ihr das verdenken, meine Liebe? Würde ich doch in einem solchen Falle ebenso handeln. Aber in Ihre Erzählung hat sich ein Irrthum eingeschlichen. Der Mann, von dem Sie sprachen, wußte, daß das Mädchen reich war. Und da sein Charakter stolz und unabhängig ist, so zwang er sich, kalt und zurückhaltend gegen sie zu sein. Er verbarg ihr seine Liebe, um nicht des Eigennutzes und der Habsucht beschuldigt zu werden. Nun mußte sie ihm entgegenkommen, und sie that es mit einer so großherzigen, königlichen Offenheit, daß alle seine jetzigen Bedenken dadurch überwunden werden mußten.“

„Irrthum, Irrthum, Hanna! Ihm gegenüber – ich schwöre es Ihnen – hat sie sich nie kühn und unweiblich benommen. Als sie anfing seine Liebe zu ahnen, da kam ein Gefühl so unendlichen Glückes über sie, daß ihr gewöhnlicher Uebermuth sie verließ und sie demüthig und schüchtern wurde – fast, als ob sie Hanna gewesen wäre. Dann kam aber noch für sie eine schwere Zeit des Zweifels und der Ungewißheit. Man hatte wahrgenommen, daß zwischen den Beiden sich eine Neigung entspann, und der Hausherr, der dem Manne gewogen war, rieth ihm, schnell zuzugreifen – er möge sich das reichste Mädchen des ganzen Districtes nicht entgehen lassen. So wurde es ihm bekannt, daß diejenige, die er liebte, für die beste Partie der Gegend galt. Er merkte, wie man ihm eigennützige Absichten unterschob, und zwar mit einem Scheine von Recht. Denn er selbst war arm und man wußte, daß seine Lage bedenklich war. Aber man hatte nicht an den empfindlichen, zartsinnigen Stolz des Mannes gedacht. Er zog sich zurück – er vermied die, welche er liebte – er wollte lieber den Vorwurf des Wankelmuthes, als den des schmutzigen Eigennutzes auf sich laden. Aber er hatte nicht bedacht, welch’ bitteres Leid er der zufügte, die ihn bereits ebenso liebte, wie er sie. Nun, Hanna, daß ich’s kurz mache – es kam ein Tag, ein schöner, unvergeßlicher Tag, wo sie sich endlich verstanden, wo er sie an sein Herz schloß und sie ihm zuflüstern konnte: ‚Zwischen uns giebt es kein Mein und Dein – Du bist Herr über Alles, was ich bin und habe‘.“

Sie stand mit strahlenden Augen und tiefer Gluth auf ihrer dunkelen Wange vor ihrer jungen Gefährtin, die mit etwas bleichem Gesichte zugehört hatte und sich jetzt langsam, als wollte sie schwere Gedanken fortscheuchen, mit der Hand über die Stirn fuhr.

„So mußte es wohl endigen,“ sagte sie dann, sich gewaltsam zu einem Lächeln zwingend, „denn ich wiederhole es: Niemand, der Sie recht kennt, wird anders können, als Sie herzlich lieben, theure Paula. Zwar ist mir in Ihren Worten noch Manches dunkel, die Hauptsache aber, nämlich: daß Sie einer frohen, glücklichen Zukunft entgegengehen, verstehe ich und freue mich dessen. – Und nun, Liebste, haben wir einen schönen, langen Tag vor uns – wir wollen ihn genießen und heiter sein.“

„Und Du willst mich zu Deiner Schwester annehmen und mir versprechen, mich lieb zu haben, wie man eine Schwester lieb haben muß?“

„Ja, Paula – aber ich verstehe nicht –“

„Das sollst Du auch nicht, meine kleine Herzensschwester,“ entgegnete Paula, sie zärtlich umschlingend. „Du sollst an mich glauben und mich lieben. Ich will es Dir hundertfältig wiedergeben – denn, kannst Du Dir nicht denken, wie überschwänglich glücklich es mich Einsame machen muß, plötzlich, wie vom Himmel herabgesandt, nicht nur zwei holde Schwestern zu haben, sondern auch eine ganze große Familie, von welcher jedes einzelne Mitglied mir unaussprechlich theuer ist?“




14.

Die Sorge um ihre Freunde in der Fabrik trübte doch, trotz ihres Vorsatzes, die Heiterkeit der beiden jungen Mädchen und dämpfte die Freude ihres Beisammenseins. Jede vermied es zwar, ihre Besorgniß gegen ihre Gefährtin auszusprechen; denn Paula wollte die drohende Gefahr vor Hanna verheimlichen, und diese, welche wohl begriffen hatte, daß man ihr etwas zu verbergen suchte, hatte jede hierauf bezügliche Frage unterdrückt. Aber als der Tag immer weiter vorrückte, ohne Marie oder Nachricht von ihr zu bringen, als der Abend sich endlich nahte und nichts die Einsamkeit der Villa und ihrer Bewohner störte, da konnte selbst Paula, die sich bis dahin redlich Mühe gegeben hatte, durch heiteres Plaudern ihre junge Freundin zu zerstreuen, ihrer Unruhe nicht länger Meister werden. Sie hatte vom Fenster aus wohl schon zum hundertsten Male die Straße entlang geblickt, und als diese auch jetzt wieder einsam und still vor ihr lag, wandte sie sich mit einem halbunterdrückten Seufzer in’s Zimmer zurück.

„Komm!“ sagte sie, „ich kann es nicht länger ertragen, ruhig in der Stube zu sitzen; ich muß frische Luft schöpfen. Laß’ uns einen Gang durch den Garten machen! Mir ist zu Muthe, als müßte ich drinnen ersticken.“

Das Wetter hatte sich gegen Abend aufgeklärt; der Wind war nach Osten gegangen und hatte die grauen Wolkenschleier zusammengerollt. Und als die beiden Freundinnen Arm in Arm in’s Freie traten, kam die Sonne hervor und beleuchtete vor ihrem Niedergange mit voller Pracht noch einmal die ganze weite, im Perlenschmucke prangende Flur.

„So lächelnd und freundlich, wie das Antlitz meiner Tante Clemence Abends im Besuchzimmer, wenn sie den ganzen Tag hindurch unzufrieden grollend umhergegangen war,“ meinte Paula.

„Ein klein wenig Heuchelei mag wohl bei uns Allen mit unterlaufen – seine Stimmungen giebt Keiner gern preis. Wir geben dem Dinge aber einen hübscheren Namen, wir nennen es Selbstbeherrschung,“ entgegnete Hanna.

„Das ist eine Tugend, die zu üben ich nie gelernt habe,“ sagte Paula.

„Und doch glaube ich, daß gerade das Leben jeder Frau reich ist an Momenten, wo diese Uebung für sie zur Pflicht werden könnte,“ erwiderte ihre Gefährtin.

„Pah!“ entgegnete Paula, was mich anlangt, so bin ich bevorzugt vor tausend Anderen. Die Heftigkeit meines Temperaments thut seiner Liebe keinen Eintrag. Ich sagte Dir schon, er liebt mich so, wie ich bin, mit allen meinen Fehlern und Schwächen.“

Hanna schwieg, und die beiden Mädchen schritten weiter.

„Nun – dem Himmel sei Dank! – da kommt endlich des Onkels Wagen. Und er und Marie sitzen darin,“ rief Hanna mit einer so lebhaften Freude, daß man daran erst die Größe ihrer Sorge erkennen konnte.

[788] Es gab ein herzliches Begrüßen auf der Treppe vor dem Hause. Kayser war in bester Laune; man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, Marie in sein Haus zu führen. Er ermahnte Hanna, eine aufmerksame Wirthin zu sein und für die Bequemlichkeit ihres Gastes zu sorgen.

„Und da ein Gutes selten allein kommt,“ sagte er, „so ist Dir auch heute noch eine Freude vorbehalten. Der Bechstein’sche Flügel ist angekommen; ich habe ihn bereits verladen lassen, und ehe es ganz dunkel wird, wirst Du ihn im Saale haben.“

Hanna führte Marie in ihre Wohnung hinauf, und die beiden freundlichen, schön eingerichteten Zimmer, versehen mit Allem, was den Aufenthalt darin einem jungen Mädchen angenehm machen konnte, machten auch auf sie einen ungemein wohlthuenden Eindruck. Sie war überrascht, daß Kayser, aus dessen Worten stets eine gewisse Rauhheit gesprochen, eine so zartsinnige Rücksicht, ein so feines Verständniß für die Bedürfnisse seiner Nichte offenbart hatte. In Hanna’s Wohnzimmer hingen zwei schöne Frauenportraits, das eine, eine zarte, schlanke Blondine darstellend, war das ihrer Mutter, das andere, welches durch feurige braune Augen in die Welt hinein schaute, das der verstorbenen Frau ihres Onkels. Marie blieb betrachtend vor den beiden Bildern stehen.

„Welch’ schöne Frauen!“ sagte sie bewundernd. „Die Brünette mag wohl im Allgemeinen für die schönere gelten, für mich aber ist Ihre Mutter, Hanna, von welcher Sie die Augen und den Mund geerbt haben, die bei Weitem lieblichere und reizendere. Welch’ ein holdes Gesicht!“

„Und wenn Sie Beide gekannt hätten, dann würden Sie meiner Mutter auch den Preis der Liebenswürdigkeit zugestanden haben,“ entgegnete Hanna. „Man hat mir so viel Züge von Herzensgüte und Lieblichkeit von ihr erzählt, daß ich es wohl begreife, wie Jeder, der sie gekannt, mit Liebe und Bewunderung von ihr spricht. Selbst mein Onkel thut es – und er läßt sich in seinem Urtheil durch äußere Vorzüge sicherlich nicht bestechen. Ich habe gehört, daß seine ehelichen Erfahrungen ihm in dieser Beziehung jede Illusion geraubt haben.“

„Sie haben Ihre Tante nicht gekannt?“ fragte Marie leise.

„Nein, sie starb kurze Zeit vor meiner Geburt, nachdem sie die letzten sechs Jahre ihres Lebens in Meran verlebt hatte. Es muß eine unglückliche Ehe gewesen sein, denn mein Onkel trennte sich von ihr kaum zwei Jahre nach seiner Verheirathung.“

Es entstand eine Pause im Gespräch. Marie hätte gern die nähere Geschichte dieser Ehe erfahren, aber sie scheute sich, Hanna danach zu befragen. Doch fuhr diese nach einigen Minuten, als ob sie den Wunsch der Freundin errathen hätte, in ihrem Berichte fort.

„Ich glaube, sie haben sich geheirathet, ohne sich recht gekannt zu haben,“ sagte sie. „Meinen Onkel mag ihre Schönheit und Lebhaftigkeit angezogen und die Bewunderung, welche sie überall erregte, geblendet haben. Dazu war sie aus einem angesehenen Hause – eine Verwandte der Contagnes – und er war erst wenige Jahre hier ansässig und wünschte vermuthlich, festen Fuß in der Gegend zu fassen. Sie aber war arm und durch das Leben in dem Hause ihrer reichen Verwandten dennoch an Vergnügen und Genüsse gewöhnt. Der Antrag meines Onkels, der damals schon sehr wohlhabend war, und dessen Intelligenz und Geschäftskenntniß den nachmals erworbenen Reichthum vorhersehen ließen, bot ihr die Möglichkeit, das gewohnte glänzende Leben fortzusetzen. – Beide sind schnell genug inne geworden, wie wenig Sympathie sie verband, wie wenig Uebereinstimmung in ihren Lebensansichten herrschte.“

„Und dennoch ist es kaum zu begreifen, Hanna, wie dieser Mangel bereits nach zwei Jahren eine Trennung nothwendig machen konnte. Ich sollte denken, daß bei einigem guten Willen auf beiden Seiten solche Gegensätze sich mit der Zeit ausgleichen müßten.“

„Wohl – aber bei meinem Onkel mag dieser gute Wille theilweise durch eine Entdeckung aufgehoben worden sein, die er schon im ersten Jahre seiner Ehe gemacht haben soll. Er hatte durch unwiderlegliche Beweise erfahren, daß seine Gattin ihn nicht nur ohne Liebe – nur um seines Vermögens willen – geheirathet, sondern daß sie bereits seit längerer Zeit ihre Neigung einem anderen Manne geschenkt und ihre Hand ihm zugesagt hatte. Da dieser Mann ihr aber weniger Vortheile zu bieten hatte, so mußte er der besseren Partie weichen.“

„O, abscheulich!“ sagte Marie.

„Und dennoch – so hat mir Fräulein Sidonie von Contagne erzählt – hat er damals noch an keine Trennung gedacht, obgleich die Hast, mit welcher seine Gattin dem Genusse nachjagte, ihre Sucht nach Aufregung jeder Art, ihm jedes Behagen im Hause raubte. Er hat tapfer und ohne Klage das getragen, was er nicht ändern konnte. Erst als der Mann, den seine Gattin geliebt hatte, nach mehrjähriger Abwesenheit wieder zurückkehrte, und er die Entdeckung machte, daß diese Liebe sich von Neuem belebte, daß hinter seinem Rücken Briefe gewechselt und Verabredungen getroffen wurden – erst da bestand er auf eine Trennung. Er setzte ihr unter der Bedingung, fern von ihm zu leben, ein reiches Jahrgeld aus und hat sie bis zu ihrem Tode nicht wiedergesehen.“

„Das ist eine traurige Geschichte, Hanna,“ sagte Marie.

„Sehr traurig, und besonders in ihrer Wirkung auf den Onkel. Vierundzwanzig Jahre hat er jetzt einsam gelebt, verbittert durch die Erfahrungen, die er gemacht, grollend dem ganzen Geschlechte, dem diejenige angehörte, welche sein Vertrauen getäuscht. Sein Glaube an den Werth der Frau war ganz erschüttert, seine Verachtung des schwachen Geschlechts so groß, daß er lange Jahre jeden Umgang mied, der ihn mit Frauen zusammenführen konnte. Aber die Rauhheit seiner Manieren, die eine natürliche Folge seiner Absonderung ist, hat seiner Herzensgüte keinen Eintrag thun können. Ich wenigstens habe schon vielfach die Erfahrung gemacht, daß ihm zwar mitunter das Geschick, nie aber der Wille fehlt, Freude und Glück um sich zu verbreiten.“

Marie hatte schweigend dagestanden, die Augen auf das Bild der Frau gerichtet, die so glücklich hätte sein können und durch eigene Schuld so elend und einsam geworden war. Sie fühlte ein tiefes Mitleid mit dem Manne, mit dessen Lebensglück so frivol gespielt worden war. Ein Gefühl der Reue darüber, daß sie ihm so oft herbe und unfreundlich begegnet war, überkam sie. Und dennoch, trotz der vielfachen kleinen Kränkungen, die sie in augenblicklicher Ungeduld ihm zugefügt, hatte er so großmüthig gegen sie gehandelt. Sie senkte das Haupt; sie fühlte, daß eine unbesiegbare Rührung sie übermannen wollte.

„Ich habe oft gedacht,“ fuhr Hanna fort, während sie es discret vermied, in Mariens Gesicht zu blicken, auf welchem Ausdruck und Farbe schnell wechselten, „ich habe oft gedacht, daß es einer Frau, die mein Onkel hoch achtete, und zu welcher er unbedingtes Vertrauen haben könnte, nicht schwer sein würde, ihn glücklich zu machen und selbst glücklich zu sein. Es liegt so viel Güte und Großmuth in seiner Natur. Und wenn es wahr ist, daß man einen Menschen am richtigsten beurtheilen lernt, wenn man ihn in seinem Hause und im Verkehre mit seinen Untergebenen sieht, dann muß man eine hohe Meinung von dem Werthe seines Charakters bekommen. Er ist ein gütiger Herr, der sorgsam um das Wohl seiner Dienerschaft bemüht ist. Man merkt schnell, daß er wünscht, es möge Jedem in seinem Hause wohl sein. Aber – Marie – Sie zürnen mir doch nicht, daß ich so spreche?“

„O liebes Kind, wie könnte ich das! Sprich weiter – ich höre gern das Lob eines Freundes.“

„Wenn Du mich ‚Kind‘ nennst, so mußt Du es Dir gefallen lassen, mein Mütterchen zu sein. Darf ich Dich so nennen – bist Du es zufrieden?“

„Von Herzen! Ich bin schon Mütterchen genannt worden, als ich noch lange nicht so alt war, wie Du jetzt. Und der Sohn, den ich in Liebe und Sorge aufgezogen habe, soll seine Rechte jetzt an Dich abtreten. Mir ahnt es, daß ich ihn verlieren werde an Eine, deren Liebe ihm mehr gilt, als die meine. Eine Mutter kann sich nicht frühe genug an das Entsagen gewöhnen; ich fürchte, daß ich diese Erfahrung über kurz oder lang auch durch Dich bestätigt finden werde. Der Mann aber, dem ich Dich einst abtrete, muß ein ganzer Mann sein. Nur der Beste wird Gnade vor meinen Augen finden.“

„Mache Dir keine Sorgen, Mütterchen! Die Gefahr, mich zu verlieren, ist nicht groß. Wünschest Du, daß ich einen Pact mit Dir schließe, gar nicht zu heirathen? Ich bin bereit dazu.“

(Fortsetzung folgt.)
[789]
Einer Frühverstorbenen.

Adele Grantzow.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Als das vornehmste Gesetz der Tanzkunst, als ihre höchste Aufgabe und ihr letztes Ziel hat man von je her, so weit es sich um ästhetische Standpunkte handelt, das schöne Ebenmaß in der Bewegung eines schönen Körpers und zwar in dem Sinne gefordert, daß die ganze Gestalt zur ausdrucksvollen Darstellung eines Gefühls, eines Gedankens werde. Der Vollendung dieser höchsten Aufgabe dürfte in der Gegenwart kaum eine Künstlerin von Terpsichore’s Gnaden so nahe gekommen sein, wie die am 7. Juni dieses Jahres zu Berlin verstorbene Adele Grantzow; denn nicht vorzugsweise die Virtuosität des Fußes war es, die das bewundernde Staunen der Menge hervorrief, wenn Adele auf den Brettern erschien, es war vielmehr die bezaubernde Gesammtheit ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge, welche sie auf die höchste Staffel ihrer Kunst hob.

Wenn wir auf die im Verlauf der letzten fünfzig Jahre in der Balletwelt erschienenen Größen zurückblicken, auf eine Fanny Elsler, eine Grisi, eine Cerito, eine Rosati, eine Marie Taglioni etc. – ihnen allen stellen wir Adele Grantzow ebenbürtig an die Seite. Ihre ganz ausnahmsweise und specielle Begabung trat uns in ihrer stummen und doch so überzeugenden Sprache der Mimik, in der ungezwungenen Schönheit ihres Geberdenspiels mit unwiderstehlichem Zauber entgegen. Sie begnügte sich nie damit ein Gefühl nur anzudeuten; sie besaß – wir möchten behaupten – selbst unbewußt, das Geheimniß, die Bedeutung der Situation immer vollständig wahr und doch graziös zu gestalten.

Die Darstellung ihrer „Gisela“ in dem gespenstischen Poem: „Die Willys“ – um nur ein Beispiel anzuführen – mit der sie ein Meister- und Musterbild tragisch-überwältigend zur Geltung brachte, gehört wohl zu dem Erhabensten, was die ernste Tanzkunst jemals hervorgebracht hat. In dieser Rolle ist unsere Künstlerin von keiner ihrer zahlreichen Rivalinnen, weder in der Mimik, aus der uns Gisela’s ganzes Seelenleben entgegenblickte, noch in den geisterhaft durcheinander wogenden und wirbelnden Tänzen der Willys erreicht worden In den künstlerischen Leistungen Adelens schwand das, was man „körperliche Mechanik“ nennt, vor dem Geiste, der die schönen Formen gewissermaßen elektrisch glänzend durchzittern. Die wechselnde Plastik unserer Künstlerin erinnerte in jeder Bewegung und Stellung an classische Vorbilder der Sculptur und an die reizenden Gestalten pompejanischer schwebender Wandgemälde. [790] Diese ganz besondere Begabung war es, die Adele Grantzow den Rang einer vollendeten Künstlerin sicherte, die nicht nur in der Gestaltung tragischer Momente, sondern auch in der Lösung zart weiblicher Aufgaben unnachahmlich erschien und selbst in den von Drollerie angehauchten Pantomimen – wir erinnern nur an das Ballet „Die Weibercur“ – einen kaum geahnten Effect hervorbrachte.

Im Privatleben war Adele durch eine Einfachheit und Bescheidenheit ausgezeichnet, wie man sie an Künstlerinnen ihres Ranges selten findet. Auch inmitten ihrer Triumphe blieb sie das einfache Mädchen. Und doch wie reich war sie auch nach anderen Seiten hin ausgestattet! Neben ihren hervorragenden Gaben für die Tanzkunst besaß sie noch eine Reihe anderer liebenswürdiger Talente. Sie sprach mehrere Sprachen. Eine reizende Mezzosopranstimme befähigte sie zum anmuthigen Vortrage von Liedern, die sie sich selbst begleitete, ohne jemals Unterricht im Clavierspiel genossen zu haben. Auch selbstschaffend hat sie sich in der Musik bewährt, wie eine Reihe Heine’scher Lieder, die sie componirte, beweist; schauspielerische Scenen trug sie mit Geschick vor, und neben dem anstrengenden Berufe, der sie jeden Tag stundenlang in Anspruch nahm, fand sie noch Zeit, sich im Zeichnen auszubilden und weibliche Arbeiten mit Geschmack und Grazie auszuführen; namentlich im Zeichnen von Blumen war sie sehr gewandt. In der Natur liebte sie dieselben über alles, und täglich mußten einige frische Kinder der Fluren auf ihrem Arbeitstische stehen; um sie vor raschem Welken zu behüten, pflegte Adele sie mit der ganzen Hingabe ihres liebenswürdigen Wesens. Viele, welche die Künstlerin kennen gelernt, behaupten, daß ein Hauch von Poesie sie stets umgeben habe. Lärmende Vergnügungen liebte sie nicht; sie war eine nachdenkende, nach innen gekehrte Natur.

Geboren wurde Adele Grantzow in Braunschweig, wo ihr Vater als Balletmeister engagirt war. Von diesem wurde sie in der Tanzkunst unterrichtet und erregte in wenigen Jahren durch außerordentliches Talent und ungewöhnliche Grazie allgemeines Aufsehen. Was sie schon als Kind charakterisirte, das war jener eiserne Fleiß, dem sie auch während ihrer ruhmreichen Künstlerlaufbahn stets treu geblieben ist. Von früh an war es ihr Bestreben in ihren Darstellungen, ihrem Talente gemäß, den Hauptaccent auf die Mimik zu legen, die Technik der Tanzkunst aber erst in zweiter Linie zu üben. Während ihres ersten Engagements in Hannover, wo sie unter der speciellen Leitung ihres Vaters stand, nahm sie Urlaub und ging nach Paris, um sich dort aus eigenen Mitteln – den Ergebnissen ihrer Ersparungen – in ihrer Kunst weiterzubilden. Sie wurde hier die Schülerin der Frau Dominique, einer der berühmtesten Lehrerinnen der Tanzkunst, welche ihr Talent so glücklich förderte, daß die Lehrerin sehr bald der Schülerin erklären mußte, sie könne nichts mehr von ihr lernen. In Paris machte Adele die Bekanntschaft des Balletmeisters St. Lion, der eine Prima-Ballerina für Moskau suchte und diese in ihr gefunden zu haben glaubte; sie folgte ihm in die zweite Hauptstadt Rußlands.

Originell ist, was Karl Sontag in seinen Bühnenerlebnissen über den Abgang unserer Künstlerin von Hannover und die übergroße Bescheidenheit ihres Vaters in Bezug auf seine Lehrmethode erzählt. Der Vater war durchaus dafür, daß Adele, welche damals sechszehnhundert Thaler Gehalt hatte, mit einer bescheidenen Zulage von vielleicht zweihundert Thalern vorlieb nähme, in Hannover bliebe und sich nicht in den Kampf mit berühmten Künstlerinnen einließe, in dem sie unterliegen müsse. Dem Zureden naher Freunde und der Energie Adelens gelang es, sich loszureißen aus ihr sonst lieb gewordenen Verhältnissen und nach Moskau zu gehen. Sie sprang mit einem Satze von sechszehnhundert auf sechszehntausend Thaler und machte Furore. Als dem Vater später Vorwürfe gemacht wurden, daß er seine Tochter so lange von so glänzender Stellung zurückgehalten, sagte der alte gutmüthige Berliner in seiner gemüthlichen Bescheidenheit: „Ja, ick wußte woll, wat meine Dochter konnte, aber ich wußte nich, ob die Andern nich noch mehr kennten.“

In Moskau feierte die junge Künstlerin wahrhaft großartige Triumphe, welche sie auch nach Paris begleiteten, wo sie nach Ablauf des Moskauer Engagements ihre künstlerische Laufbahn mit einem Erfolg fortsetzte, welcher die berühmte Marie Taglioni zu ihrer begeisterten Verehrerin machte. „Sie, mein liebes Kind,“ sagte diese einmal, indem sie die junge Künstlerin umarmte und küßte, „sind meine würdige Nachfolgerin, bedeutend genug, um mich vollständig zu ersetzen.“

Noch vor Beendigung der Saison nahm Adele ein Engagement in St. Petersburg an; ihre dortigen Erfolge überstiegen noch diejenigen von Moskau und Paris. Von nun an war sie während der Wintermonate in Rußland, im Sommer in Paris engagirt, allein nach dem deutsch französischen Kriege durfte sie als Deutsche es nicht mehr wagen, die Pariser Bühne zu betreten. Unter den Lorbeeren aber, welche sie nach dem Jahre 1871 erntete, sind die von Berlin und Wien die glänzendsten. In letztgenannter Stadt verabschiedete sie sich für immer von der Bühne. Ihrer Jugend und Anmuth schienen noch viele Jahre des Glückes und des Ruhmes vorbehalten zu sein, zumal sie in dieser Zeit die Braut eines geliebten Mannes, des Majors Alexander von R., geworden. Aber das Schicksal hat es anders gefügt: in der deutschen Kaiserstadt, inmitten ihrer Lorbeeren, wurde sie das Opfer einer Fußoperation und hinzugetretener Blutvergiftung.

„Adele ertrug,“ so schreibt uns ihre Schwester und treue Pflegerin, „mit großer Geduld ihre schmerzvolle Krankheit. Oft rief sie aus: ‚Nach einem Leben voll solcher schweren Arbeit und Mühe ein so großes unverdientes Leid!‘ Thränen waren dem armen Wesen die einzige Erleichterung, und nach allen möglichen Anstrengungen meinerseits, diese zu stillen, sagte sie oft: ‚Laß mich nur, liebe Schwester! Weine ich doch über mein zu früh zerstörtes Dasein.‘ Blumen, welche ihr von der Hand lieber Freunde und Bekannten gespendet wurden, bat sie mich immer so zu stellen, daß sie dieselben sehen könne, und oft drückte sie die Rosen an sich, indem sie rief: ‚Hilf mir doch, du lieber Gott, damit ich die Blumen noch einmal blühen sehe!‘“

Die Leiche der liebenswürdigen, von der ganzen europäischen Kunstwelt betrauerten Künstlerin wurde von Berlin nach Blankenburg am Harz, dem Sitze ihrer Familie, gebracht.

„Das Zimmer, in welchem Adelens Sarg hier bis zur Beerdigung aufgestellt war,“ so berichtet die Schwester der Verstorbenen weiter, „und in welchem auch die Todtenfeier gehalten wurde, habe ich nur dem Andenken meiner lieben Todten geweihet. Hier habe ich auch die auf ihrer Künstlerlaufbahn errungenen Lorbeeren, die Blumen, Schleifen und Kränze, die in Gold und Silber gestickten Schärpen, sowie den goldenen Lorbeerkranz niedergelegt, welcher ihr vom Petersburger Publicum in Gegenwart des ganzen Theaterpersonals, auf offener Scene, mit einer Ansprache überreicht wurde. Mitten unter all diesen Errungenschaften eines reichen Künstlerlebens befindet sich auch ein einfaches Papier mit trockenen Blumen. Als meine Schwester in Wien zuletzt auftrat und an diesem Abende nicht allein vom Wiener Publicum, sondern auch von ihrer Kunst Abschied nahm, gönnte sie sich nach einem so aufregenden Tage nicht eher Ruhe, bis sie von all den vielen Bouquets und Kränzen einige Blumen gepflückt, diese sorgfältig verwahrt und mit den Worten überschrieben hatte:

Die letzten Blumen
meines Künstlerlebens.
Wien, den 30. Mai 1877.

In diesem Zimmer befindet sich auch die Uhr, welche stets an der Schwester Bette stand und von ihr allabendlich, auch während ihrer Krankheit, aufgezogen wurde. Als dieselbe beim Transporte nach dem Hospital stehen geblieben war, wollte ich sie wieder in Gang bringen, als Adele mir zurief: ‚Nein, gieb sie mir! Sieh, in den ersten Tagen meines schweren Leidens habe ich beim Aufziehen immer gedacht, sie sollte mir die Stunde meines Todes anzeigen; jetzt wird sie mir die Zeit meiner Genesung verkünden.‘

Das arme Geschöpf ahnte nicht, daß wenige Stunden darauf der Tod sie aus meinen Armen reißen würde, um sie in die seinigen aufzunehmen. Nachdem die Uhr abgelaufen, zeigt sie jetzt die Sterbestunde meiner Schwester an.

Adelens Grabstätte, der Ruheplatz nach so manch hartem Kampfe, besteht aus einer schön gebauten Capelle, welche durch die blauen Fenster ein magisches Licht erhält. Der Altar ist mit schwarzem Sammet bedeckt, auf welchem ein Crucifix, Lilienbouquets und die Palmen sich befinden, welche auf ihrem Sarge gelegen. Zur Seite des Altars und gestützt auf eine Sandsteinconsole, erhebt sich eine große weiße Marmortafel, welche [791] in goldener Schrift den Namen der Verewigten trägt. Vor diesem Gedenksteine ruht auf einem blauen Atlaskissen eine aus künstlichen Orangenblüthen gefertigte Todtenkrone; der übrige Raum der Capelle ist vollständig ausgefüllt von all den Kränzen und Blumen, welche zur Beerdigung hier eintrafen, und die künstlichen Rosen tragen viel dazu bei, dem Ganzen ein ewig frisches Ansehen zu geben. Vor der Capelle breitet sich ein weiter Raum aus, welcher aber durch seine Einfassung mit dieser verbunden und für die Hinterbliebenen bestimmt ist. Hier werde auch ich ausruhen von allem Leid.“

Mit diesen rührenden Worten der Schwester schließen wir unsere anspruchslose Skizze ab, welche nichts sein sollte als ein bescheidener Kranz auf das Grab einer ebenso bedeutenden als liebenswürdigen Künstlerin.




Vom alten Wrangel.
Von Fedor von Köppen.

Ein Stück vom alten Preußenthum ist dahingegangen, einer der Letzten jener licht gewordenen Schaaren, jener greisen Krieger mit dem eisernen Kreuze von 1813 bis 1815 und der Devise: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Wrangel gehörte zu den lebenden Ueberlieferungen aus der Ruhmeszeit der deutschen Freiheitskriege, an denen das Herz in der langen Zeit der Thatenarmuth und Thatenlosigkeit sich erquickte und erhob – eine kernige, preußische Soldatennatur; aus seinen Augen leuchtete allezeit ein fröhliches, gutes Gewissen und in seinem Herzen wohnten die echten Soldatentugenden: Gradheit, Wahrhaftigkeit, Treue, dazu ein fester und unverzagter Muth in allen Lebenslagen.

Wrangel’s Berühmtheit begann erst seit dem Lebensabschnitte, mit welchem so mancher Andere seine Laufbahn abschließt, mit seinem fünfzigjährigen Dienstjubiläum, welches er am 15. August 1846 als commandirender General des zweiten (pommerschen) Armeecorps im Alter von zweiundsechszig Jahren und vier Monaten in seiner Vaterstadt Stettin beging. Das Officiercorps des zweiten Corps überreichte ihm bei dieser Feier eine Vase, auf welcher zwei hervorragende Momente aus seinem früheren Kriegsleben dargestellt waren. Der eine war die Attaque des preußischen Dragonerregiments von Zieten auf zwei französische Kürassierregimenter in dem Treffen bei Heilsberg (10. Juni 1807), bei welcher Affaire der damals dreiundzwanzigjährige Lieutenant von Wrangel durch einen Pistolenschuß verwundet wurde und sich durch seine persönliche Tapferkeit so hervorthat, daß er auf den Vorschlag seines Commandeurs vom Könige den Orden pour le mérite erhielt. Das andere Bild vergegenwärtigte den bekannten und oft geschilderten Angriff der ostpreußischen Kürassiere unter dem Major von Wrangel auf die französische Gardecavallerie in dem Gefechte bei Etoges (14. Februar 1814), einen Moment, an den sich Wrangel stets besonders gern erinnerte.

In der Friedenszeit, als die gefeierten Führer aus den Freiheitskriegen, die Blücher, Gneisenau, York, Bülow und Andere, die vorher den Mittelpunkt der Kriegsgespräche gebildet hatten, längst vom Schauplatze abgetreten waren, erfreute man sich auch an der Nachlese solcher kleinen heldenhaften Züge, und die Augen der Armee richteten sich immer mehr auf den tapferen General, der außerdem bei verschiedenen Gelegenheiten – wie bei dem ultramontanen Putsch in Münster aus Anlaß der Verhaftung des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering (1837) – Zeugniß von seiner Energie abgelegt und sich auch im Frieden bei Leitung der großen Cavalleriemanöver, so namentlich im Jahre 1843 bei Anwesenheit des Kaisers Nicolaus von Rußland in Berlin, als umsichtiger und schneidiger Reiterführer bewährt hatte. So war es gewiß ein glücklicher Griff, als General von Wrangel im Jahre 1848 bei dem ersten Vorgehen gegen Dänemark zum Oberbefehlshaber der Bundestruppen ernannt und der schon damals in hoher Achtung stehende Hauptmann von Fransecky, der später seinen Ruhm bei Benatek begründete, ihm im Generalstabe zur Unterstützung beigegeben wurde. Der Feldzug wurde indessen bekanntlich mehr mit der Feder, als mit dem Schwerte geführt, und Wrangel hatte es für seinen Ruf nicht zu beklagen, daß der Waffenstillstand von Malmoe dem Scheinkriege ein Ende machte. Wie wenig er übrigens selbst den Krieg zum Scherze trieb, beweist das Schreiben, welches er von Kolding aus an den dänischen Admiral Sten Bille richtete, als dieser gedroht hatte, von den dänischen Kriegsschiffen die offenen Städte an der Ostsee bombardiren zu lassen, wenn die Bundestruppen nicht Jütland räumten. Es lautete:

„Wenn Euer Hochwohlgeboren aussprechen, daß die dänische Marine für das Bombardement von Middelfahrt an Häfen der Ostsee Rache nehmen werde, so lassen Sie es sich gesagt sein, daß für jedes Haus, das die dänische Marine an deutschen Küsten in Brand schießen sollte, ein Dorf in Jütland brennen wird. Mein Name bürgt Ihnen dafür, daß es geschehen würde.“

     Kolding, den 10. Mai 1848.
von Wrangel.“

Bei seiner Rückkehr von Schleswig zum Oberbefehlshaber in den Marken ernannt, hatte Wrangel die schwere Aufgabe, die Bevölkerung der Hauptstadt aus ihrer revolutionären Erregung in das gewohnte Alltagsgeleise zurückzuführen, und es ist bekannt, mit welchem sicheren Tacte – wir möchten sagen, in welcher gemüthlich-jovialen Weise, wenn nicht der Wink mit den „haarscharf geschliffenen Schwertern“ und den „Kugeln im Laufe“ doch verständlich genug gewesen wäre – er dieselbe löste. Der Berliner ließ lieber die Reaction mit Kanonen und Bajonnetten über sich ergehen, als diejenige mit revidirten Verfassungsparagraphen und Preßgesetzen.

Die Liebe zum Königshause, dessen Schicksale ja auch mit seinem eigenen Leben so eng verflochten waren, war bei dem alten Wrangel gewissermaßen zu einem Glaubensartikel geworden. Die Sorge für die Person des Königs ließ ihm auch in dieser unruhigen Zeit keinen Augenblick Ruhe. König Friedrich Wilhelm der Vierte liebte die einsamen, späten Abendspaziergänge im Parke zu Charlottenburg; es war daher vom Obercommando in den Marken Befehl zur strengen Ueberwachung des Parkes gegeben. Um sich zu überzeugen, ob derselbe auch in der That befolgt würde, ritt Wrangel in einer Winternacht selbst auf seinem alten Schimmel nach Charlottenburg und prüfte die Wachsamkeit der Posten im Parke. Da sah er vom Ende des Baumganges her, in seinem Militärpaletot, die weiße Garde du Corps-Mütze auf dem Haupte, einen einfachen Naturstock in der Hand, den König selber kommen. Eiligst suchte sich Wrangel seinem Blicke zu entziehen und setzte mit einigen Galoppsprüngen hinter das nächste Bosquet. Aber der König hatte bereits den weißen Reiter erkannt, und als er sich der Stelle genähert, wo das ehrliche, schnurrbärtige Reitergesicht zwischen den bereiften Zweigen hindurchlugte, rief er lachend: „Ei, Wrangel, wie kommen Sie da hinter den Strauch? Sie sollten doch wenigstens Nachts Ihrem Schimmel die Streue gönnen.“

Der General sprach eine Entschuldigung und verabschiedete sich von dem königlichen Herrn. Am folgenden Morgen stand vor seinem Hause auf dem Pariser Platze ein königlicher Reitknecht, der einen muthigen jungen Schimmel arabischen Geblüts an der Hand hielt. An einem Parterrefenster aber lehnte der General und sah verklärten Auges bald nach dem Schimmel draußen, bald in ein königliches Handschreiben, welches er in der Rechten hielt und welches etwa folgendermaßen lautete:

„Nachdem Ich erfahren habe, welche Anstrengungen Sie Ihrem Schimmel zumuthen und wie Sie ihn sogar zur Nachtzeit im Dienste Ihres Königs reiten, will Ich doch nicht die Schuld tragen, daß Sie Meinethalben noch das Pferd einbüßen sollten. Ich übersende Ihnen daher einen jüngeren Schimmel, den Ich aus Meinem Marstall eigens für Sie ausgewählt habe, mit dem Wunsche, daß Sie denselben noch recht lange in jugendlicher Frische und Rüstigkeit reiten möchten.

     Charlottenburg.
Ihr
wohlgeneigter König
Friedrich Wilhelm.“

Dieser Schimmel war es, den Wrangel seitdem lange Jahre hindurch mit besonderer Vorliebe ritt.

Seit dem Jahre 1848 hatte Wrangel seinen dauernden [792] Wohnsitz in Berlin, wurde bald eine der populärsten Gestalten und schon am 10. November 1850 Ehrenbürger der Hauptstadt. Ob er zu Rosse, courbettirend und coquettirend, rechts und links mit leichter Bewegung Handküsse nach den Fenstern hinaufsendend, wo eine Gardine gelüpft und ein schönes Antlitz sichtbar ward, die Linden entlang ritt, oft bei Winterskälte ohne Mantel, die Steigbügel vor sich über den Sattelknopf gelegt, ob er, umlärmt und umschwärmt von einem Troß lustiger Knaben, bei dem Concerte der Schnarren, Waldteufel und sonstigen Instrumente des Kinderorchesters, über den Weihnachtsmarkt schritt, hier und da vor einer Groschenbude stehen bleibend und Geschenke unter die Jugend austheilend, ob er endlich, behelmten Hauptes, den Schleppsäbel unter dem Arme, mit hochaufgesetztem Schnurrbart sich im Dienstschritt als Führer einer Deputation zur officiellen Begrüßung nach dem königlichen oder einem prinzlichen Palais begab, – immer blickte man ihm gerne nach; man sah in ihm eine Reliquie aus der alten Ruhmeszeit der Freiheitskriege, und man verzieh es ihm, wenn er sich mit seinen altpreußischen Ueberlieferungen in die neue Zeit und ihre Anfordernden nicht hineinzufinden vermochte.

Man würde aber irren, wenn man annehmen wollte, daß Wrangel als ein alter Haudegen nicht vollständig auf dem Bildungsgrad seiner Zeit gestanden hätte, oder wenn man seine Verwechselung des Mir- und Mich-Falles auf eine Lücke in seiner Schulbildung zurückführen wollte. Es ist schwer zu ergründen, wie und nach welchen Gesetzen Wrangel sich seine Grammatik gebildet, er wandte dieselbe jedoch nur in der Umgangssprache, nicht in Schriftstücken an, in denen er sich vielmehr durchaus correct und sachgemäß auszudrücken wußte. Vielleicht war es nur eine Angewohnheit, die ihm täglich bequemer ward, sodaß er sie nicht mehr ablegen mochte. Seine Aussprache hatte übrigens mehr von der breiten Königsberger Mundart, als von dem „jebildeten Berliner Deutsch“ an sich.

Verfasser dieses hatte einmal dem General von Wrangel ein Gedicht vorzulesen, in welchem er selbst redend vorkam und zwar mit der von ihm im Gespräche so häufig angewandten Redensart: „Verstehen Sie mir?“ – An der betreffenden Stelle stutzte Wrangel und sah den Vorleser fragend an: „Mir? Ist denn das richtig?“

„Richtig wohl gerade nicht, Excellenz, aber es ist doch einmal so populär. Soll ich es ändern?“

„Ne, wenn es populär ist, denn ist es gut, denn lassen Sie es man stehn! Verstehn Sie mir?“

Rührend war es, als er bei dem Dienstjubiläum des alten würdigen General von Möllendorff seiner officiellen Beglückwünschung im Namen des versammelten Officiercorps der Berliner Garnison noch die Worte hinzufügte: „Und nun noch eine Bitte, alter Möllendorff, die mir persönlich betrifft! Nenne mir von jetzt an Dir!“

Bei seinem sechszigjährigen Jubiläum (15. August 1856) wurde Wrangel zum Generalfeldmarschall ernannt und erhielt einige Zeit darauf, am Jahrestage von Heilsberg, bei der Einweihung des Lestocq-Denkmals auf dem Schlachtfelde von Preußisch-Eylau, vom Könige einen Feldmarschallstab, welcher genau nach demjenigen angefertigt worden, den der Große Kurfürst seiner Zeit getragen hatte.

Durch seine Stellung als ältester Officier der Armee kam Wrangel öfters in die Lage, vom Könige mit der Einleitung und Führung von Angelegenheiten betraut zu werden, welche das gesammte Officiercorps der Armee betrafen. Eine solche war die Ueberreichung einer Ehrengabe an Seine Königliche Hoheit den Prinzen von Preußen aus Veranlassung seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums (1. Januar 1857). Die Gabe bestand in einem silbernen, mit Gold ausgelegten Schilde, welcher einen kurzen, kernigen Spruch als Rundschrift am Rande tragen sollte. Die dem Könige von den Generalen für diesen Zweck vorgeschlagenen Sprüche hatten seinen Beifall nicht erlangt; vielmehr ertheilte dieser dem Feldmarschall von Wrangel den Auftrag, sich deshalb an die jüngeren Officiere zu wenden, unter welchen ja auch einige eine poetische Ader hätten. So kam denn an einen dieser letzteren – wir wollen ihn hier „Willamow“ nennen – der Befehl, sich in den Vormittagsstunden eines der nächsten Tage bei dem Generalfeldmarschall von Wrangel einzufinden.

Eine derartige Bestellung zum Oberbefehlshaber in den Marken hatte immer etwas Verfängliches, denn ein junger Officier der Berliner Garnison hatte selten ein ganz reines Gewissen. Da konnt’ er vielleicht bei dem Rondengange eine Wache zu revidiren unterlassen haben, oder er konnte versäumt haben, als Wachthabender der Brandenburger Thorwache (diese wurde damals noch von einem Officier befehligt) bei Nacht zur Ablösung in’s Gewehr zu treten, während gerade der Feldmarschall vorübergegangen war, – aber nichts von alledem traf zu, und die ganze Form der Bestellung ließ hoffen, daß es sich dieses Mal nicht um ein derartiges Staatsverbrechen handelte. Um so größer die Spannung!

Am nächsten Morgen schon ließ sich Willamow beim Feldmarschall anmelden und wurde sogleich in sein Arbeitszimmer geführt. Wrangel forderte ihn auf, ihm gegenüber auf einem Sessel Platz zu nehmen, und machte ihn in kurzen Worten mit dem Gegenstande bekannt, um den es sich handelte, wobei er einen Bogen Papier in der Hand hielt und von Zeit zu Zeit hineinsah. Wir müssen hier einschalten, daß Wrangel in der vertraulichen Unterhaltung mit einem jungen Cameraden, dem er wohlwollte, nicht allein die Casus, sondern auch die Personen mitunter verwechselte und ihn rundweg mit dem väterlichen „Du“ oder „Dir“ anredete.

„Siehst Du, mein Junge,“ sagte Wrangel zu Willamow, indem er auf das Papier in seiner Hand zeigte, „dies ist ganz in dem Sinne, wie Seine Majestät der König es meint. Es ist nämlich von mir selbst aufgesetzt, und es fehlen nur noch die Reime. Verstehn Sie mir?“ –

„Alles abgezählt und gerichtet! Das Metrum stimmt; es sind nur noch die Reime anzuhängen,“ fuhr er nach einer Pause fort, während welcher der junge Officier einen Blick in das Blatt warf.

Die von Wrangel's Hand darauf geschriebenen Zeilen lauteten:

„Hast Du erspäht den Feind,
Dann wäge nicht, dann drauf!
Und Dein ist der Sieg, hast
Du im Herzen Gott den Herrn!“[1]

„Euer Excellenz wollen verzeihen – –“ hub Willamow schüchtern an.

„Weiß schon!“ unterbrach ihn Wrangel. „Die letzte Strophe hat einen Versfuß zu viel; das muß mit den Reimen abgeschliffen werden.“


Willamow wollte noch etwas erwidern, aber er merkte, daß eine Einwendung nicht gern gehört wurde. Wrangel war inzwischen aufgestanden, schob ihm das Papier in die Hand und streichelte ihm freundlich die Backe mit den Worten: „Nu geh, mein Junge, und dichte vor Deinem König!“ –

Die Worte stehen lassen und nur Reime anhängen – das war eine Aufgabe, für die Willamow’s poetische Ader nicht ausreichte. Namentlich genirte ihn das Wort „Drauf“, auf welches Wrangel ein besonderes Gewicht zu legen schien. Er half sich indessen, indem er verschiedene Variationen nach dem gegebenen Thema componirte; in einigen kam das „Drauf“ vor, in anderen nicht. So mit einer ganzen Anzahl von Schildsprüchen ausgerüstet, ließ er sich an einem der nächsten Vormittage wieder bei dem Feldmarschall anmelden. Dieser empfing ihn auf das Freundlichste und forderte ihn sogleich auf, seine Verse vorzulesen.

Willamow begann:

„Zum Schild den Schaft,
Zum Muth die Kraft,
Zum Wort die That,
Dann wird uns Rath.“

Wrangel nickte, schien aber nicht eben ganz befriedigt; denn er horchte auf, als ob er etwas Besseres erwartete.

Willamow fuhr fort:

„Zu Schirm und Schutz,
Zu That und Trutz,
Zu Sieg im Streit
Von Gott geweiht!“

„Das ist Alles ganz gut,“ sagte Wrangel. „Sie haben sich aber nicht am Thema gehalten; Ihre Verse sind zu frei.“ [793] Nun kamen die Sprüche der anderen Kategorie an die Reihe.

„Vertrau’ dem Schild,
Zu Gott blick’ auf!
Und wenn es gilt.
Dann führ’ uns drauf!“

„Das ist schon besser,“ nickte Wrangel beifällig. „Mehr von der Art!“

Der nächste Spruch war dem Thema genau nachgebildet und hieß:

„Hast Du erspäht den Feind,
Dann wäge nicht, dann drauf!
Ist Gott mit Dir vereint, –
Wer hemmt des Sieges Lauf?“ –

„So ist’s richtig,“ erhob sich Wrangel, sichtbar befriedigt. „Jetzt hast Du mir verstanden, mein Junge. Nun wollen wir das Weitere Seiner Majestät, dem Könige, überlassen.“

Damit nahm er das Blatt mit den verschiedenen Schildsprüchen seinem jungen Cameraden aus der Hand und dankte diesem mit der höchsten Gunst, die er einem Schützlinge in besonderen Fällen widerfahren ließ. Er zog ihn an sich und hielt ihm die linke Wange entgegen: „Küss’ mir hier, mein Junge!“ – und er fügte mit fast feierlicher Stimme hinzu, indem er auf einen bestimmten Fleck der rechten Wange wies: „Hier küßt mir nur der König.“

Dieser Kuß aus die harte, gebräunte Wange des Feldmarschalls war ehrender, als mancher andere auf blühende Rosenwangen.

In der Folge zeigte sich übrigens, daß König Friedrich Wilhelm der Vierte in seinem dichterischen Geschmacke mit seinem Feldmarschall nicht ganz übereinstimmte; denn er wählte unter den ihm vorgelegten Schildsprüchen für den Prinzen von Preußen den zweiten (Zu Schirm und Schutz etc.).

Das Jahr 1864 sah den achtzigjährigen Feldmarschall noch einmal in voller kriegerischer Thätigkeit als Oberbefehlshaber der verbündeten Truppen gegen Dänemark. Einer seiner Lieblingswünsche ging in Erfüllung, als er so in seinem späten Alter Preußen und Oesterreicher als Alliirte gegen den Feind führen und das alte gemeinschaftliche Erkennungszeichen aus den Freiheitskriegen, die weiße Binde am rechten Oberarme erneuern konnte. Auch während des Winterfeldzuges der ihm mancherlei Opfer und Beschwerden auferlegte, bewahrte der alte Herr stets seinen frischen Soldatenhumor. Es war ein originelles Bild, wenn man den greisen Haudegen mit dem verwitterten, runzligen Soldatengesichte, dem emporstarrenden Schnauz- und schneeweißen Kinnbart, eine schwarzseidene Unterkappe über dem Haupte, darüber die weiße, etwas tief in den Nacken geschobene Kürassiermütze, im Schneeflockengestöber auf der beschneiten, glatten Landstraße an den Truppen vorüberreiten sah, denen er ein fröhliches „Guten Morgen, Kinder!“ zurief. Auch in seinem Hauptquartier ging es originell zu. Für gewisse kleine Versehen hatte Wrangel eine Strafcasse zu Gunsten der Verwundeten einrichten lassen. So wünschte er von den Officieren seiner nächsten Umgebung im Hauptquartier nicht „Excellenz“, sondern – wie er sagte: der Kürze wegen – „Herr Generalfeldmarschall“ angeredet zu werden; wer dagegen fehlte, zahlte zwei gute Groschen in die Casse für die Verwundeten. Dieselbe Strafe traf denjenigen Officier, der sich im Bureau zu den Honneurs vor ihm von seinem Sitze erhob und sich dadurch in seinen schriftlichen Arbeiten unterbrechen ließ. Die Erfahrungen vor den Danewirken und von Oeversee mochten ihn vielleicht in dem alten Verbündeten von 1813 bis 1815 etwas stutzig machen, und er war gewiß damit zufrieden, als er nach dem Düppelsturme und dem Eintritt der Waffenruhe unter Erhebung in den Grafenstand vom Obercommando abgelöst und nach Berlin zurückberufen wurde.

An den Kriegsthaten von 1866 und 1870 bis 1871 vermochte der Feldmarschall bei seinem vorgerückten Lebensalter nicht mehr activ theilzunehmen, aber sein Herz war bei der Armee und klopfte jugendlich begeistert unter dem Kürassierrock, so oft eine neue Siegesdepesche vom Kriegsschauplatz eingelaufen war.

Einundachtzig Jahre hindurch, vom zwölfjährigen Knaben bis zum dreiundneunzigjährigen Greise, hat Wrangel der preußischen Armee angehört, die ihn gewissermaßen zu ihrem „eisernen Bestande“ rechnete; unter drei Königen hat er in Krieg und Frieden mit unwandelbarer Pflichttreue gedient und niemals den leisesten Flecken auf den blanken Schild seiner Ehre kommen lassen. „Frangas, non flectes!“ hieß seine Schilddevise. „Gebrochen, aber ungebeugt“, ist er auf den Ruf der himmlischen Fanfare nun hinübergegangen, um dem „Herrn der Heerschaaren“ droben Rapport zu erstatten. Das Volk und die Armee aber wird dem „alten Wrangel“ ein treues Andenken bis in die spätesten Zeiten bewahren und seinen Namen unter den besten nennen. Er war in des Wortes edelster Bedeutung ein rechter Mann des Volkes.




Mr. Slade, das Schreibmedium.
Eine spiritistische Studie von R. Elcho.


„Es giebt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden,
Als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“

In diesen Hamletspruch ließ sich der Inhalt eines Schreibens zusammenfassen, welches jüngst Herr L., ein Berliner Spiritualist, an den Herausgeber der „Gartenlaube“ richtete. Herr L. sprach darin sein Befremden aus, daß man den Spiritualismus, welcher in andern Ländern „zu einer Macht geworden sei“, hier in Deutschland nicht einmal ernsthaft nehme. Er betheuerte, daß „diese geistige Strömung wohl im Stande sein werde, das System der Materialisten wie ein Kartenhaus zusammen zu werfen,“ und schloß mit der Erklärung, jetzt sei der Augenblick nahe, wo sich Jeder von der eminenten Bedeutung der großen Geistesbewegung überführen könne, denn Mr. Slade, das hervorragendste amerikanische Schreibmedium werde nach Berlin kommen und Geister citiren. Herr L. bat um ernste Prüfung der Slade'schen Communicationen und gewissenhafte Berichterstattung.

Der Herausgeber dieses Blattes zögerte keinen Augenblick, einer solchen Bitte gerecht zu werden, und mir wurde die interessante Mission zu Theil, mich den Geistern zu stellen.

Um mich mit dem Spiritualisten vorerst in Verbindung zu setzen, begab ich mich auf das Geschäftsbureau des Herrn L. Derselbe war persönlich nicht anwesend, allein ohne es zu wollen, wurde ich Zeuge einer leise geführten Unterredung, welche mir verrieth, daß Herr L. geschäftlich bei dem spiritistischen Unternehmen interessirt sei. Der Mann, welcher eine gerechte Beurtheilung im Namen der Menschheit forderte, hatte für das amerikanische Medium und seine drei Begleiter die nöthigen Hôtelzimmer gemiethet und traf weitere Vorbereitungen für die Inscenesetzung der spiritistischen Operationen.

Ohne Herrn L. gesprochen zu haben, kehrte ich nach Hause zurück. Am nächsten Morgen trat ein würdig aussehender Herr mit greisem Haar und Bart in mein Arbeitszimmer; er war der Vertheidiger der spiritistischen Glaubenslehre.

Herr L., früher, soviel wir wissen, Buchhändler, jetzt Techniker, hat viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und dort das Wesen des Spiritualismus ergründet. Er übernahm es sofort, mich in die Entstehungsgeschichte und die geheimnißvollen Manifestationen desselben einzuweihen.

Drei Schwestern, welche den bezeichnenden Namen Fox führten und in einer kleinen Stadt Neu-Englands lebten, riefen die Bewegung durch Entdeckung eines Klopfgeistes hervor. Es war – ganz wie im deutschen Volksmärchen – der Geist eines Ermordeten, der da pochte, weil seine Seele nicht Ruhe fand, ehe sein Mörder der irdischen Justiz übergeben worden.

Es ist das Verdienst der Fox’schen Schwestern, jenem Klopfgeist die ewige Ruhe und der Welt ein telegraphisches System verschafft zu haben, durch welches sich das Geisterpochen in Worte übertragen ließ. Die älteste dieser erfindungsreichen Schwestern steht heute in England mit an der Spitze der spiritistischen Bewegung und zwar als ein ausgezeichnetes Medium für Materialisation.

[794] Es sei mir gestattet, hier an der Hand meines spiritistischen Mentors eine Erklärung des Wesens und Standes des gegenwärtigen Verkehrs mit Geistern einzuschalten.

Um einen Geist aus jenem Lande, von welchem Hamlet fälschlich sagt: „aus dess’ Bezirk kein Wandrer wiederkehrt“, auf diese Erde zurückzurufen, dazu bedarf es nach dem gegenwärtigen Stand der „spiritistischen Wissenschaft“ eines Mediums. Dieses Medium soll ein besonders sensitives Wesen sein, welches eine starke Aura besitzt, das heißt, eine Art geistigen Fluidums. Diese das Medium umgebende Aura dient nun dem Geist als Brücke, um nach Belieben in die reale Welt zurückkehren zu können. Die Art aber, wie die Geister dann durch die Person des Mediums mit uns Sterblichen verkehren, ist eine grundverschiedene. Die Medien zerfallen in Schreibmedien, Sprechmedien, Heilmedien und Medien für Materialisation.

Das Schreibmedium vermittelt nur die Depeschen des Geistes, dadurch, daß es der Geisterhand eine Tafel und ein Stückchen Griffel präsentirt. Wie Jehova auf die Gesetzestafeln seines Dieners Moses, so schreibt der Geist hier seine Offenbarungen auf die Schiefertafel des Mediums.

Das Sprechmedium macht sich direct zum Organe des Geistes, und was dieser ihm eingiebt, das spricht es im somnambulen Zustande nach.

Das Heilmedium gehört zur Rettungsabtheilung einer wohlmeinenden Geisterwelt. Will ein Geist sich seiner bedienen, so jagt er es durch lebhafte Träume aus dem Schlafe, raunt ihm zu, sich hastig in die Kleider zu werfen und irgend einen bereitstehenden Eisenbahnzug zu besteigen. Das Medium gehorcht blindlings und wird von der rollenden Locomotive über Ströme, Ebenen und durch Bergschluchten geführt. Mit einem Male ruft der Geist ihm zu: „Steige aus!“ Das Medium gehorcht und wandert, von Geisterhand geführt, durch eine fremde Stadt. Endlich sieht es ein matt erleuchtetes Fenster vor sich, betritt ein fremdes Haus und findet einen Kranken, der in den letzten Zügen liegt. Unser Medium rettet den Sterbenden durch Händeauflegen und eilt bei anbrechendem Morgen nach dem Stationsgebäude, um sich ein Retourbillet in die Heimath zu kaufen.

Ich halte diesen Geisterdienst für den aufreibendsten, allein den gefahrvollsten Liebesdienst muthet der Geist dem Medium für Materialisation zu. Dieses leiht nämlich im Stadium völliger Bewußtlosigkeit dem Geiste so viel von seinem Fleische und Blute, daß derselbe im Stande ist, sich eine persönliche Erscheinung zu bilden. Das Medium für Materialisation ist demnach der Körperverleiher der Geisterwelt. Solch ein materialisirter Geist aber ist in hohem Grade lichtscheu; er zeigt sich den Blicken der Sterblichen nur beim matten Scheine einer Magnesiumflamme. Allen Skeptikern sollte dieser Geist ein Noli me tangere! zurufen; denn die schaudervollsten Erfahrungen belehren uns, daß er nicht angetastet werden darf. Böse Zweifler versuchten es bisweilen, die Geistererscheinung zu umfassen; jene entschwand wie zerrinnender Nebel, das arme Medium aber fand man nachher in seinem Blute schwimmend. Die Erklärung für diese entsetzliche Erscheinung liegt auf der Hand. Der Geist wurde verscheucht, ehe er Zeit gewann, seinem Medium die erborgte Materie zurückzustellen.

Diesen Mittheilungen meines spiritistischen Mentors folgte sein Bekenntniß, wie er gläubig wurde. Herr L. befand sich auf einer Geschäftsreise in Boston, als ihm seine in Deutschland weilende Gattin die kurzgefaßte Nachricht sandte: „Unser Sohn wurde auf der Jagd erschossen. Ausführliche Mittheilungen folgen, sobald ich meine Fassung wiedergewonnen.“

Der tiefgebeugte Vater ging sofort zu einem Medium und ließ den Geist des Sohnes citiren. Dieser kam, erzählte sein trauriges Schicksal in der genauesten Weise und flehte den Vater an, er möge es doch ja hindern, daß seine Mutter nicht gegen seinen Jagdgefährten klagbar werde, den man fälschlich in den Verdacht bringe, ihn ermordet zu haben. L. versprach dies und bat den Geist seines Sohnes, er möge ihm doch seine Photographie hinterlassen. Und der Sohn sprach: „Geh’ hin zum Geisterphotographen Mumel in Boston! Der mag mich zum letzten Male photographiren.“

Mumel versuchte das gewünschte Experiment dreimal, und beim dritten Male sah man auf der Platte das Bild des Vaters, hinter demselben aber die Erscheinung des Sohnes, welcher seine Geisterhände um den Hals des Vaters schlang.

Als ich meiner Verwunderung über die Einmischung der Geister in eine rein technische Manipulation den bescheidensten Ausdruck gab, wartete mir Herr L. noch mit einem weit überraschenderen Geisterexperiment auf.

Mr. Child, das längst dahingeschiedene Haupt der Spiritistengemeinde zu Philadelphia, verkehrte als Chemiker mit Vorliebe in den Kreisen seiner noch lebenden Fachgenossen. Eines Tages beantwortete sein Geist durch ein Schreibmedium einige wissenschaftliche Fragen, welche ein New-Yorker College im Interesse der organischen Chemie an ihn stellte. Während dies geschah, schrieb Child’s Geisterhand: „Damit Du siehst, daß wir im Jenseits doch ein wenig weiter in der Chemie vorgeschritten sind, als Ihr armen Sterblichen, schreibe ich von nun ab mit rother Kreide.“ Und siehe da, von dem Worte Kreide ab wurde die Schrift roth.

Auch ich mußte vor innerer Lachlust roth geworden sein, allein es gelang mir, meine Fassung zu behaupten. Herr L. schlug sein Geisteralbum auf, welches die Portraits von etwa zweihundert Geistern enthielt. Am weitesten vorgeschritten in der Anfertigung von Geisterphotographien ist der Bostoner Mumel. Bei ihm erscheint das Bild des Geistes wie ein Nebelbild. Es zeigt nur die äußeren Contouren der Erscheinung. Mumel’s Geister legen mit Vorliebe ihre Hände um das Haupt der Person, welche sich photographiren ließ, um ein Geisterbild zu erhalten.

Die Geister weiblichen Geschlechts erscheinen zumeist in der Gestalt der wahnsinnigen Ophelia. Den Photographien amerikanischer Mediums ist in der Regel ein theatralisch aufgeputzter Indianer als Geist mitgegeben. Indianer sollen nach spiritischer Erfahrung eine sehr starke Aura besitzen. Eine Dame, welche den Geist Beethoven’s beschwor, erhielt das Bild eines Geistes, den ich eher für Benjamin Franklin halten würde, doch wer weiß, wie sehr sich die Gesichtszüge einer Person im Jenseits verändern können. Eine Photographie Mumel’s machte den rührendsten Eindruck. Eine alte Großmutter hatte die Photographie ihres dahingeschiedenen Enkelkindes verlangt. Mumel ließ die alte Frau während der Aufnahme die Arme öffnen und fertigte ein Bild an, welches die Figur eines Kindes auf dem Schooß der Großmutter zeigt. Die Alte war so gerührt bei der Handlung, daß uns das Bild die Thränen zeigt, welche der gläubigen Frau über die Wangen flossen.

Auch die Frau des ehrlichen Präsidenten Lincoln, welche bekanntlich einmal an Geistesstörung litt, sehen wir auf einer Mumel’schen Geisterphotographie. Hinter der Dame erhebt sich der Schatten Lincoln’s, welcher klar ersichtlich von einem recht schlechten Oelbilde stammt.

Die Geisterdarstellung beschränkt sich aber schon lange nicht mehr auf das Lichtbild; wir haben bereits einen plastischen Zweig dieser Kunst. Der Pariser Spiritist Graf Bullet engagirte ein amerikanisches Medium für Materialisation – sein Name ist Firman – um den intimsten Verkehr mit der Geisterwelt herzustellen. Bullet zahlt seinem Medium einen Jahresgehalt von zwölftausend Franken und dafür liefert ihm dieser Geisterbüsten. Firman drückt den materialisirten Geist mit dem Operkörper in einen Kessel mit weichem Paraffin; das Paraffin erstarrt, während der Geist sich entmaterialisirt, und wir erhalten die genaue Form des Geistes. –

Wenn der Leser bei diesen Mittheilungen sich sagt: „Aber das ist ja alles der haarsträubendste Blödsinn,“ so ergeht es ihm genau so wie mir, allein ich durfte es nicht aussprechen, denn vor mir saß ein Mann, der an all diese Dinge fest zu glauben schien und der mich mit Mr. Slade, dem Schreibmedium, sofort bekannt zu machen versprach, sobald derselbe angekommen sein würde.

Mr. Slade langte am 1. November in Berlin an, allein sonderbarer Weise blieb bei mir die Einladung seitens des Herrn L. aus. Es verstrich der zweite, dritte und vierte Tag des Monats, ohne daß mein Cicerone zur Geisterwelt von sich hören ließ. Jetzt fiel mir etwas ein, was mich besorgt machte. Am Tage, da Herr L. mir sein Album brachte, behandelte mich derselbe höchst zutraulich, bis ich ihn fragte, ob ich das Album meiner im Schlafzimmer befindlichen Frau zeigen dürfe. Als ich

[795] zurückkehrte, schien Herr L. sichtlich verstimmt und erkältet zu sein und nahm in hastiger Weise seinen Abschied. Jetzt entsann ich mich, daß ich auf der Schwelle des Schlafzimmers meine Frau, welche den Namen Anna trug, mit dem traulicheren Hans angeredet hatte. Vielleicht argwöhnte Herr L., ich halte einen Mann im Nebenzimmer versteckt und es werde ein Complot gegen das spiritistische Unternehmen geplant.

Wie dem nun sei, ich war entschlossen, ein Wort mit diesem Geistermedium zu sprechen und fuhr direct nach dem Hôtel des Mr. Slade, das ich von Potsdamer Spiritisten umlagert fand. Herr L. befand sich im Allerheiligsten, und ich wurde im Conversationszimmer zuvörderst von den Begleitern des Mediums, zwei schönen jungen Damen und Herrn Simmons, empfangen. Die Damen lasen, wie es schien, eine interessante Novelle, und Herr Simmons verwickelte mich in ein Gespräch, wobei es mir nicht entging, daß die vier Augen der amerikanischen Schönen mich mit Aufmerksamkeit musterten. Später traten Herr L. und das Medium ein. Der Erstere schien bei meinem Anblick sehr betreten zu sein; vielleicht dachte er bei sich: „Den Geist der ‚Gartenlaube‘, den ich rief, ich werd’ ihn nicht mehr los.“ Als er endlich einige Worte der Begrüßung hervorbrachte, sah ich, wie das Medium rasch mit seiner Schwester Blicke austauschte. Letztere neigte dabei kaum merklich den Kopf. Die graziöse Dame hielt mich für ungefährlich, und ihr Bruder war sofort geneigt, mir eine Sitzung zu bewilligen. Vorerst gab Herr L. betreffs seines fragwürdigen Schweigens die unzulängliche Erklärung ab, Mr. Slade habe auf der Reise von Kopenhagen nach dem deutschen Hafen sehr an der Seekrankheit gelitten und seine Aura sei in den ersten Tagen zu schwach gewesen. „Seltsam!“ erwiderte ich, „sie war doch stark genug, um dem Redacteur der ‚Germania‘ einige Geister vorzuführen.“

Der Eintritt des Leipziger Spiritisten Dr. W.(ittich) und des Präsidenten des Potsdamer Spiritistenclubs schnitt unsere Unterhaltung kurz ab. Mr. Slade erklärte sich bereit, mir und Dr. W. eine Geistersitzung bewilligen zu wollen, und führte uns in sein Schlafgemach. Hier stand ein einfacher Spieltisch mitten im Zimmer. Auf diesen Tisch, der oben und unten eine glatte Fläche zeigte, stellte er eine Kerze und hieß uns Platz nehmen. Hierbei bestand er darauf, daß ich an seiner Seite sitzen solle.

Bevor Mr. Slade die Geister rief, hielt er mir einen kleinen Speech, worin er sich als Märtyrer einer guten Sache erklärte, an welche er so fest glaube, wie an das Dasein Gottes. Er versprach auszuharren bis an’s Ende und zu dulden für seine spiritistische Mission.

Während dieser Vorrede hatte ich Zeit, den Mann genau zu mustern. Es ist eine höchst interessante Männererscheinung. Man denke sich auf einer mittelgroßen, erstaunlich breit ausgelegten Figur einen feingeschnittenen Kopf mit krausem Haar und langem, vollem Schnurrbart. Das Gesicht zeigt eine geisterhafte Blässe, und mit dieser contrastirt seltsam ein von kühn gezogenen Brauen überwölbtes, sanftes, glänzendes Augenpaar. Der Mann hatte die bescheidene Sprache und das naive Lächeln eines Kindes, und auch damit stand die herculische Gestalt in Widerspruch, wie die energische Form des Kopfes.

Mr. Slade rief den Geist und dieser zeigte durch dreimaliges Klopfen gegen den Fuß des Tisches an, daß er zu sprechen sei. Hierauf hielt Mr. Slade eine einfache Schiefertafel mit Holzrand, auf welche er ein ganz winziges Stückchen Griffel legte, unter die Tischplatte und die Geisterhand begann aus freier Initiative zu schreiben. Man hörte deutlich das Kratzen des Griffels, nichts war unter der Tafel, als die Hand des Mediums, nichts über ihr, als die Tischplatte. Mit flüchtiger Schrift stand auf der Tafel: „I will answer“ („Ich will antworten“). Hierauf hielten wir alle Drei die Tafel, welche Mr. Slade, während eines eifrigen Gesprächs, mit einer zweiten bedeckte, frei in die Luft und der von Geisterhand bewegte Griffel schrieb lange; er beschrieb die ganze Tafel. Hierbei war es seltsam, daß das Schreiben aufhörte, sobald das Medium seine Hand von der Tafel wegzog. Als wir die obere Tafel entfernten, war die ganze Seite mit Sätzen in deutscher, dänischer und französischer Schrift bedeckt.

Dr. W. gerieth bei diesem Anblicke in Ekstase, und das Medium begann allerlei Geisterspuk zu produciren; bald betastete er den Oberschenkel meines linken Beines, bald ließ er die Tafel unter dem Tische herumfahren, bald gab er dem Stuhle einen Tritt, auf welchem er Geisterhände zu sehen vorgab. Während mein deutscher Nachbar darüber in eine Art Verzückung gerieth, las ich die spiritistischen Mittheilungen; sie lauteten: „Wir finden, was wir suchen. Der geschickteste Mann wird gelobt und der Ungerechte getadelt.“ Ein zweiter Spruch lautete: „Und Jesus antwortete ihnen: der Gott, den Ihr glaubet, ist der, welcher mich gesandt hat.“

„Mr. Slade,“ sagte ich, „es braucht kein Geist vom Grabe herzukommen, um solche längst bekannte Sentenzen und Bibelsprüche niederzuschreiben. Weiß Ihr Geist nichts Besseres, so kann er schlafen gehen, weiß er aber mehr als wir, so antworte er mir auf die einfache Frage: Lebt meine Schwester?“

Hierauf erwiderte das Medium mit unbefangenem Lächeln: „Ich bin nur ein einfacher Zuschauer, und es hängt vom Geiste ab, ob er antworten will. Versuchen wir's!“

Diesmal legte wir Slade die Tafel auf den Kopf und der Griffel schrieb: „I can't inform You now“ („Ich kann Ihnen jetzt keine Mittheilung machen“).

„Kann er uns nicht jetzt darüber unterrichten,“ sagte ich lächelnd, „so wird er es später auch nicht können.“ – Wieder schrieb der Geist, und diesmal schützte er Müdigkeit vor. Mr. Slade erklärte, der Geist wolle noch den Tisch rücken. Wir legten die Hände auf, und der Tisch hob sich einen halben Fuß von der Erde. Ich erkannte hieraus, welch ein bärenstarker Mann dieses Medium war, denn während er mich ersuchte, meine Füße auf seinen rechten Fuß zu stellen, hob er den Tisch mit dem linken.

Als ich in das Conversationszimmer zurücktrat, hatte sich die Gesellschaft vermehrt, und ich hörte nur Ausrufe, wie: „Phänomenal! Wunderbar! Nun sollen uns die Materialisten, wie Helmholtz und Virchow, nur kommen!“ Die mit Bibelsprüchen bedeckte Tafel wurde sofort mit Glas eingerahmt.

Ich reichte Mr. Slade die Hand, welche dieser zärtlich mit seinen Händen umschloß. Diese Hände des Mediums oder vielmehr seine seltsamen langen Finger machten mich stutzig.

Auf dem Nachhausewege wurde es mir klar, daß das Schreiben der Geister ein ganz artiges und mit staunenswerthem Geschick ausgeführtes Taschenspielerkunststückchen sei. Ich ahnte die Lösung, allein ich mußte vollkommene Gewißheit haben.

Zu dem Ende schmiedete ich ein Complot. Meine Frau, die ein scharfes Auge besitzt, begab sich in Begleitung des Schauspielers Julius Ascher, welcher, wie kaum ein Anderer, den Naiven zu spielen vermag, und mit der Gattin desselben zum Medium, stellte sich als trauernde Wittwe vor und bat um eine Sitzung; dieselbe wurde sofort gewährt, und die beiden Frauen stellten bis zur Evidenz die geschickte Manipulation des Schreibmediums fest.

Das ganze Geheimniß beruht auf folgender Täuschung. Die kurzen, in flüchtigen Zügen hingeworfenen Antworten des Geistes schreibt Slade selbst, die vollbeschriebene Seite der Tafel, welche wir frei in der Hand halten, ist vorher beschrieben. Die letztere Schrift ist correct und sehr sauber, dabei in verschiedenen Sprachen gehalten. Die kurzen Sätze sind flüchtig, quer geschrieben und immer in englischer Sprache abgefaßt.

Wie aber schreibt Slade diese wenigen Worte? Mir fiel sofort auf, daß wir das Geräusch des Schreibens nur hörten, wenn der breite Daumen des Mediums sich auf dem obern Rand der Tafel befand, und daß Slade dem Geiste ein so winziges Griffelstückchen mit den Zähnen abbiß. Nun, der schlaue und geschickte Yankee schreibt die wenigen Worte mit dem langen Mittelfinger seiner Hand, wobei das Griffelstückchen in den langen Nagel gepreßt ist. Es gehört dazu eine große Gewandtheit und Uebung, die sich eben Slade zu eigen machte. Meine Frau beobachtete genau das, was ich sah, daß sich die Muskeln des Armes bewegten, so lange Slade schrieb.

Nun wird man einwenden: Ist denn bei der vollbeschriebenen Tafel das Geräusch etwa nicht hörbar, welches ein schreibender Griffel verursacht? Allerdings und dieses Geräusch bringt er mit dem Fingernagel hervor. Meine Alliirten sahen auf der Tischplatte den Schatten des sich bewegenden Fingers. Als der schlaue Yankee merkte, daß dieser ihn verrathe, zog er seine weite Manschette vor. Um sicher zu erfahren, ob die beschriebene Tafel [796] schon vorher beschrieben gewesen sei oder nicht, ersuchte ihn meine Frau dringend, er möge den Geist auch die andere Seite der Tafel in derselben Lage beschreiben lassen. Was aber gab das Medium zur Antwort? Der Geist sei müde und gehe niemals auf ein unbilliges Verlangen ein. Wie täuschend sich aber das Geräusch eines schreibenden Griffels durch Nagelstriche copiren läßt, davon kann sich jeder Leser selbst überzeugen. Eine Anfrage meiner Frau, ob sie ihren verlorenen Gatten, der leider einen gottlosen Lebenswandel geführt habe, im Himmel oder in der Hölle zu suchen habe, beantwortete der Geist mit der Phrase; „You meet him in a better land“ („Sie treffen ihn in einem bessern Lande“). Mündlich setzte das Medium noch hinzu: „Ihre schlimmen Tage sind jetzt vorüber, Madame; der liebe Gott wird Sie noch mit einem liebenswürdigen zweiten Gatten beglücken.“

Für diesen Trost und die Schreibkunststückchen des langen Fingers ließ sich Mr. Slade von meinen Alliirten dreißig Mark zahlen, eine Summe, welche meiner Frau gering erschien für das Vergnügen, ein Taschenspielerkunststückchen enthüllt zu haben, zu welchem seit einem Jahrzehnt amerikanische, englische und dänische Gelehrte vergeblich den Schlüssel suchten. Und mit solchen Künsten glaubt man hier in Deutschland einen gemeinen Schwindel in Scene setzen zu können, aus welchem schwache Gemüther den Glauben an Geisteroffenbarungen herleiten sollen!

Der Agent des Taschenspielers Slade, Herr L., forderte eine ernste Behandlung des Gegenstandes, und er hat Recht: die Sache ist ganz verteufelt ernst. In einer Zeit, wo man stigmatisirte Jungfern und Madonnenerscheinungen auf Pflaumenbäumen hat, in einer Zeit, wo der Berliner Prediger Bimstein in Sommer’s Salon Hunderten von gläubigen Gemüthern versichert, die Wiederkehr Christi auf diese schnöde Erde müsse in nächster Zeit erfolgen – er weiß nur noch nicht, ob diese per Ballon oder Passagedampfer erfolgt – in einer solchen Zeit bedarf es nur noch des Spiritisten-Humbugs, und wir stehen wieder an der Grenze des Hexenglaubens und nicht allzuweit von den Hexenprocessen. Und man glaube ja nicht, daß dieser Schwindel bei uns keinen Boden finde! Das Hôtel, in welchem Slade abstieg, wird von Gläubigen belagert. Personen aus den besten Gesellschaftskreisen zahlen mit Vergnügen ihr Goldstück, um sich durch ein Taschenspielerkunststückchen betrügen zu lassen. Wer aber die verzückten Ausrufe der Betrogenen hört, der muß sich sagen: „Es giebt mehr Narrheit zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.“




Die menschliche Stimme – auf Reisen.


Der Sprache, Gesang und Musik in die Ferne sendende Telegraphen-Apparat von Professor Graham Bell aus Boston (Nordamerika), über welchen die „Gartenlaube“ schon früher einige kurze Mittheilungen brachte (Jahrgang 1877, Seite 220 und 466), bewährt sich in einer Weise und ist derartig vervollkommnet worden, daß die ganze Welt auf dem besten Wege ist, wie das Lied verlangt, ein großes Orchester, ja, was noch mehr sagen will, ein einziges großes Plauderstübchen zu werden. Ich male mir gern die Zeit aus, in welcher jedes wohlsituirte Haus sein mit der nächsten Station verbundenes Telephon haben wird, um mit den entfernten Verwandten und Freunden eine Viertelstunde, für welche man die Strecke miethen müßte, angenehm zu verplaudern. Der junge Kaufmann, den seine Geschäfte dreißig Meilen weit von seiner Familie in der Hauptstadt zurückhalten, tritt Abends zur bestimmten Stunde an den Zauberkasten des Hôtels, und im Geiste sich die um den flammenden Kamin versammelte Familie vorstellend, tritt er mit freundlichem Gruße mitten in ihren Kreis. Ein allgemeiner Jubelton antwortet aus der Ferne, und die sympathische Stimme seiner jungen Frau, die ihn seit je mit ihrem Zauberklange fesselte, begrüßt ihn auf’s Zärtlichste. Kaum macht sie eine Pause in ihrem Tagesbericht, so fleht er wie Manfred, fortzufahren:

Sprich, o sprich!
Ich lebe nur im Schall –
’s ist Deine Stimme.

Plötzlich mischt sich ein kindliches Weinen in das Zwiegespräch der Eltern, und: „Hänschen, wer hat Dir den Kopf abgerissen?“ fragt der Vater scherzend. Ein krystallhelles Lachen ist die Antwort. „Ich hab’ ihn vom Schallloch fortgedrängt, Papa, der dumme Junge will immerfort zuhören,“ meldet das altkluge, kaum ein Jahr ältere Töchterchen. Jetzt schallt ein schwaches Husten aus der Ferne von dreißig Meilen herüber und veranlaßt den theilnehmenden Sohn, zu fragen, was die liebe Mama mache? „Ein wenig erkältet und heiser, wie Du wohl hörst, mein Sohn; sonst ist Alles in Ordnung,“ erwiderte die gute Alte.

Sehr wider seinen Willen – denn er mag von dem „Teufelsspuk“ nichts wissen – wird nunmehr auch der fromme Großpapa in’s Gespräch gezogen. Er hatte nämlich kopfschüttelnd über die Künste der neuen Generation eine Prise genommen und so entsetzlich geniest, daß sein, wie gesagt, dreißig Meilen ferner Sohn erschreckt vom Schallloch zurückgeprallt war. Aber während er noch immer eine zweite sich ankündigende Explosion mit wunderlichem Mienenspiel erwartet, langt aus der Hauptstadt bereits ein fröhliches „Wohl bekomm’s, Väterchen!“ an, und Väterchen muß nach guter alter Sitte sich, wenn auch auf solchem verdächtigen Wege, bedanken. Noch ein paar zärtliche, sorgliche Worte von der geliebten Gattin, und die von dem Abwesenden im Stimmbereiche der Seinen froh verlebte Viertelstunde ist schnell verronnen.

Es ist klar, daß die eine Art von Allgegenwart ermöglichende Erfindung des Telephons einer sehr vielseitigen Anwendung fähig ist. Weite Reisen können gespart, Geschäfte vereinbart, Zeugen vernommen werden; das mündliche Verfahren läßt sich ohne Zeitverlust über eine ganze Provinz ausdehnen. Besonders wichtig aber dürfte sie für Privatzwecke werden, zur Verbindung von Comptoiren und Bureaus mit Werkstätten, Magazinen und Arbeitsplätzen, denn das Telephon gleicht in der Bequemlichkeit des Gebrauchs wie in der Billigkeit der Herstellung einem auf Meilen verlängerbaren Sprachrohr. In New-York ist denn auch bereits ein Herr Cheever als Agent des Erfinders thätig, um Etablissements und Institute aller Art mit dem Telephon zu versehen. So wurde z. B. daselbst das Centralbureau der Clyde-Dampfschifffahrtsgesellschaft mit ihren Abfahrts- und Landungsplätzen durch den Sprechdraht verbunden, ebenso die Haigh’sche Fabrik, welche das Material zu der neuen Riesenbrücke zwischen New-York und Brooklyn lieferte, mit dem Bureau der Bauleitung und letzteres wiederum mit den beiden Bureaus der nahezu zweitausend Meter von einander entfernten Brückenthürme. Die beiderseitigen in Harmonie zu bringenden Operationen bei dem Bau dieser Hängebrücke wurden statt wie sonst mittelst Signalflaggen viel einfacher durch die Stimme des Ober-Ingenieurs geleitet.

In den letzten Wochen sind auch in Berlin amtliche Versuche mit dem Bell’schen Telephon angestellt worden, welche unerwartet günstige Ergebnisse geliefert haben. Da das zur Verfügung stehende Instrument nur als ein solches von geringerer Empfindlichkeit bezeichnet worden war, versuchte man es zunächst nur mit einem Zwiegespräch der in zwei entlegenen Bureaus des General-Telegraphenamtes befindlichen Sachverständigen, veranlaßte aber alsbald eine Wiederholung durch die zwei Kilometer lange unterirdische Leitung zwischen dem Directorialbureau dieses Gebäudes und dem Centralbureau des General-Postmeisters. Wiederum war der Erfolg ein vollkommener. Jedes Wort war verständlich; die Modulationen der Stimmen und die Eigenthümlichkeiten der Sprache jedes Einzelnen erkennbar. Selbst versuchsweise dem Drahte anvertraute Lieder kamen nach Melodie und Text verständlich an ihr Ziel, und noch das schwächste Piano eines Violinstückes klang deutlich aus dem Apparate. Seit dem 6. November dieses Jahres verkehrt der General-Postmeister des deutschen Reiches durch ein auf seinem Arbeitstische stehendes Telephon direct mit dem Director des General-Telegraphenamtes auf diesem Papier und Arbeit sparenden mündlichen Wege. Auch veranlaßten diese günstigen Erfolge zur weiteren Ausdehnung der Versuche auf immer größere Entfernungen. Nach einander wurde der mündliche Verkehr auf der unterirdischen Linie von Berlin nach Schöneberg, nach Potsdam und endlich nach Brandenburg (einundsechszig Kilometer)

[797]

Für den Halbmond gefallen.
Originalzeichnung von Albert Richter.

[798] ausgedehnt. Auch an dem letzteren Orte vernahm man die halblaut in Berlin gesprochenen Worte mit vollkommenster Deutlichkeit und konnte ebenso die Stimmen der einzelnen Persönlichkeiten mit Leichtigkeit unterscheiden. Es scheint sogar, als ob diese Versuche besser gelungen sind, als alle früher in Amerika und England angestellten Proben auf oberirdischen Leitungen, weil dort leicht Störungen eintreten, von denen wir weiterhin Näheres berichten werden. Vielleicht liegt hier der größte Vorzug der in anderer Richtung hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit stark angezweifelten unterirdischen Leitungen, die jetzt über ganz Deutschland ausgedehnt werden.

Alle diese Umstände, so wie das Interesse des Gegenstandes an sich, rechtfertigen wohl ein näheres Eingehen auf diesen neuen Triumph der Wissenschaft auch an dieser Stelle, zumal das Verständniß der Einrichtungen keine besonderen Schwierigkeiten darbietet.

Im Jahre 1837 machte der Professor Page in Salem bei Boston eine Beobachtung, die so zu sagen als der Urahn unserer Erfindung zu betrachten ist. Er fand nämlich, daß ein musikalischer Ton entsteht, wenn man die Pole eines starken Magneten einer Drahtspirale, welche von einem elektrischen Strome durchflossen wird, nähert und in dieser den Strom abwechselnd unterbricht und wieder schließt. Professor de la Rive in Genf überzeugte sich 1843, daß diese Töne auch in einer gewöhnlichen Eisenstange auftreten, wenn ein sie in einer Drahtrolle umkreisender Strom abwechselnd unterbrochen wird, und der Deutsch-Oesterreicher Professor Wertheim in Paris zeigte 1848, daß diese Töne in Stäben von unmagnetischen Metallen nicht auftreten, daß sie mit dem Magnetischwerden des Eisens und damit verbundenen innern Umlagerungen der Theile zusammenhängen.

Diese Beobachtungen erweckten in dem deutschen Physiker Philipp Reis zu Friedrichshafen im Jahre 1861 die erste Idee eines Telephon oder Schall-Telegraphen. Er benützte nämlich den innerhalb der Drahtspirale tönenden dünnen Eisenstab, den er, zweckentsprechend unterstützt, auf einem Resonanzboden befestigte, als den Tonwiedergeber, indem er von der andern Station her so viel Einzelströme in die umgebende Drahtrolle sandte, wie der Schwingungshöhe des wiederzugebenden Tones entsprachen. Die Magnetisirungsgeräusche des Stabes summirten sich dann zu dem verlangten musikalischen Tone. Sein Absender bestand einfach aus einem mit einem Mundstück oder Schalltrichter versehenen Holzkasten, über dessen obere runde Oeffnung ein Trommelfell gespannt worden war. Diese durch Gesang oder Musik in regelmäßige Schwingungen versetzte Membran schloß durch ein auf ihrer Mitte angebrachtes Platinblech, welches mit dem Erdpol verbunden war, den Strom des Leitungsdrahtes bei jeder Schwingung, indem sie ebenso oft eine dicht darüber befindliche Platinspitze berührte, und sandte dadurch in der Secunde so viele Ströme durch den Draht, wie dem angegebenen Tone entsprachen, das heißt je nach der Höhe bis in die Hunderte. Sie erklangen mit völliger Genauigkeit vor dem Tonempfänger, und man konnte schon damals Lieder und Musik telegraphiren, also auch jene Schaustellungen veranstalten, die kürzlich in Amerika so viel Beifall gefunden haben.

Aber, wie wir schon früher erwähnt haben, das Reis’sche Telephon übermittelte nur musikalische Klänge; die Textworte der Lieder blieben im Kasten stecken, und gesprochene Worte tauchten nur als ein unverständliches Schilfsgeflüster wieder auf, wie die Worte jenes unglücklichen Barbiers des Königs Midas, der es nur einem Erdloche vertrauen durfte, daß Midas Eselsohren habe. Mit einem Worte, der Apparat war für die feinen Modulationen und Klangfarben der menschlichen Stimme nicht empfindlich genug und verschwand bald in dem Gedränge der physikalischen Cabinete. Indessen verloren die Physiker das Problem nicht aus den Augen, und nach manchen mißlungenen Versuchen gelang die Lösung in der Nachbarschaft der Geburtsstätte des leitenden Gedankens und in einer demselben ganz ähnlichen und doch wieder unendlich durchgeistigten Gestalt.

Professor Bell, der sich seit dem Jahre 1872 mit diesen Versuchen beschäftigte, ging gewissermaßen auf einem dem Reis’schen Verfahren entgegengesetzten Wege vor. Wie der Strom einer Drahtspirale einen darin steckenden Eisenstab magnetisch macht, so erregt umgekehrt ein in die Spirale hinein oder herausbewegter Magnet elektrische Ströme in der Spirale. Bell’s erster Gedanke scheint nun gewesen zu sein, einen Magnetstab mit einer schwingenden Platte zu verbinden und die durch dessen Hin- und Herbewegung in einer Spirale erzeugten Ströme direkt zum Telegraphiren des Tones zu verwenden. Er endigte damit, durch eine von der menschlichen Stimme in Schwingungen versetzte dünne Eisenplatte magnetische Schwingungen in einem Eisenstabe zu erzeugen, die sich in elektrische Ströme der Spirale und Drahtleitung umsetzen. Senkrecht gegen das hinter dem Schalltrichter angebrachte dünne eiserne Schallblech befindet sich ein kurzer Stab aus sogenanntem weichem (das heißt ungehärtetem), unmagnetischem Eisen, der aber dadurch, daß er den Pol eines in seiner Verlängerung liegenden kräftigen Stabmagneten berührt, durch Vertheilung selbst magnetisch wird. Dieser durch Vertheilung in ihm hervorgerufene Magnetismus wird aber in seiner Stärke durch die Nähe des eisernen Schallblechs beeinflußt, und wenn nun dieses Blech bei seinen Schwingungen sich dem weichen Eisen bald nähert, bald von ihm entfernt, so entstehen in demselben sich unendlich schnell folgende Stärkeschwankungen von der äußersten Zartheit, die aber nach Rhythmus und Stärke genau den Tönen entsprechen, durch welche das Schallblech in Bewegung gesetzt wurde. Die magnetischen Schwankungen in dem weichen Eisen erregen ebenso viele elektrische Ströme in einer letzteres umschließenden Drahtspirale, welche in die Leitung eingeschlossen ist, Ströme, die ihrerseits nach Stärke und Rhythmus den magnetischen Schwankungen, also auch den Tonschwingungen, entsprechen.

Der Empfangsapparat ist dem Absendeapparat vollkommen gleich, so daß auf jeder Seite die Schallöffnung derselben abwechselnd als Mundstück und als Lauschöffnung dient, was offenbar eine große Vereinfachung des Apparats mit sich bringt. Jeder Strom, der von drüben ankommt, verändert den magnetischen Zustand des von ihm umkreisten Eisenkernes. Derselbe zieht die Schallplatte in demselben Rhythmus und mit denselben Stärkemodificationen an, wie sich die absendende Platte bewegte, und die drüben in den Schalltrichter gesprochenen Worte ertönen mit demselben Accent, mit denselben Hebungen und Senkungen, in der ursprünglichen Tonhöhe, aus dem eisernen Kehlkopf hervor. Die Schwingungen der aus unserem Munde kommenden Luftsäule versetzen nämlich das Schallblech in gleiche Schwingungen. Letztere werden getreu in magnetische Schwankungen übersetzt; die magnetischen Schwankungen übersetzen sich in blitzschnell forteilende elektrische Ströme, die nun auf demselben Wege durch magnetische und mechanische Wirkungen in die Ursprache zurückübersetzt werden, und merkwürdiger Weise bei dieser sechsfachen Uebersetzung nichts von ihrer Originalität einbüßen.

Damit ist das Problem im Wesentlichen gelöst. Der Apparat arbeitet schon jetzt so ausgezeichnet, daß man hoffen darf, die wenigen noch vorhandenen Mängel bald zu überwinden. Diese Mängel bestanden eher in einer zu großen als in zu geringer Empfindlichkeit. Sobald man nämlich versuchte, mit demselben auf viel benützten Telegraphenstrecken zu arbeiten, so hörte man aus dem Apparate beständig ein Gepolter, als ob starker Regen oder Hagel gegen die Fensterläden schlägt; man hörte nämlich die ganze Unterhaltung, welche auf derselben Linie in den verschiedensten Richtungen stattfand, mit, und konnte in dem allgemeinen Verkehrslärm sein eigenes Wort nicht verstehen. Alle Ströme der daneben laufenden Leitungen wirken im Vorbeigehen auf das Telephon, indem sie nämlich in ähnlicher Weise, wie der bewegte Magnet, schwache Ströme in der Nachbarleitung hervorrufen, welche die gewöhnlichen Telegraphen-Apparate nicht in ihrer Arbeit stören, in dem empfindlichen Telephon aber einen Heidenspectakel erzeugen. Daher der äußerst günstige Effect auf der ungestörten unterirdischen Strecke, auf welcher man im Allgemeinen mit schwächeren Strömen arbeiten muß.

Die Möglichkeit, auf solchen für sich bestehenden Strecken mit den schwächsten Strömen arbeiten zu können, wird aber wahrscheinlich erlauben, die Empfindlichkeit des Apparates noch höher zu treiben, sodaß man einander auf weiten Strecken die wichtigsten Geheimnisse, ohne Gefahr, von dem daneben stehenden Beamten verstanden zu werden, „in’s Ohr flüstern“ könnte, viel leiser, als in den bekannten Flüstergalerien der Paulskirche oder an der Flüstermauer zu Charlottenhof bei Potsdam. Eine solche noch höher getriebene Empfindlichkeit besitzt das Telephon des [799] amerikanischen Physikers Edison. Derselbe hat ein Mittel gefunden, auch die zartesten Modulationen der Stimme getreu in elektrische Ströme zu übersetzen, indem er nämlich an Stelle der Platinspitze des Reis’schen Telephons eine Spitze aus Graphit, dem Material unserer Bleistifte, einsetzt; denn an dem Graphit hat er die höchst merkwürdige Eigenschaft entdeckt, dem elektrischen Strome nun so weniger Widerstand entgegen zu setzen, je stärker der mechanische Druck ist, welcher auf denselben ausgeübt wird. Wenn nun durch eine Hebung der Stimme die Membran in stärkere Schwingungen versetzt wird, so schlägt das Platinplättchen kräftiger gegen die Graphitspitze; der Strom findet in der momentan gepreßten Spitze weniger Widerstand und kommt auf den andern Station verstärkt an: so spiegelt sich jede Biegung und jeder Schmelz der Stimme getreu in den Strömen; das todte Graphiteinschiebsel giebt der Stimme des eisernen Kehlkopfes die Weichheit und den seelenvollen Klang.

Auch der Tonempfänger des Edison’schen Telephons ist eigenthümlicher und sinnreicher Art. In demselben dient nämlich das Geräusch, welches ein Metallstift aus einem chemisch präparirten und über eine Rolle bewegten Papier erzeugt, wenn die Schallströme hindurch geleitet werden, zur Wiedergabe der in der Ferne dem Drahte anvertrauten Laute. Um den Ton zu verstärken, ist der Stift mit einem hölzernen Schallkasten in Verbindung gesetzt worden.

Aber auch wenn das Telephon gar nicht weiter zu vervollkommnen wäre, sind seine bisherigen Leistungen bereits geeignet, eine große Umwälzung im Telegraphenwesen hervorzurufen. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, daß man alle die kleinen Seitenstrecken nach Orten, die nicht an den Hauptlinien liegen, zum Telephonbetriebe herrichten wird. Nicht nur weil dieser einfache Apparat äußerst billig (für zehn bis zwanzig Mark das Stück) herzustellen ist, sondern namentlich, weil sein Gebrauch nicht weiter erlernt zu werden braucht, vielmehr von dem ersten Besten geschehen kann. Es bedarf einzig nebenher einer in dieselbe Leitung eingeschlossenen Klingel, um die Beamten darauf aufmerksam machen zu können, daß ihnen mündlich etwas zur Weiterbeförderung aufgetragen werden soll.

Wir sehen, wie in diesen Apparaten die menschliche Stimme mit allen ihren Eigenthümlichkeiten von einfachen, schwingenden Stäben und Platten wiederholt wird, nachdem sie, in eine ganz andere Sprache übersetzt, lautlos ungeheure Wege zurückgelegt hat. Kaum kann es ein besseres Instrument zur Veranschaulichung der Sinnesempfindungen in unserem eigenen Körper geben. Auch unser Ohr ist nur ein Telephon, in welchem die übermittelten Töne mechanisch wiederklingen, dann in andere Schwingungen übersetzt – und durch einen Draht – den Gehörsnerven – zu dem freilich sehr nahen Centralbureau des Menschen geführt werden.

Eine Tonfolge, die als solche unterwegs verschwindet und drüben wieder auflebt, als sei sie nie verschwunden, Nüancen, welche die ganze Gluth der Empfindung einschließen, neu hervorgebracht durch einen seelenlosen mechanischen Apparat! Was will dagegen Münchenhausen’s Posthorn bedeuten, dessen unterwegs eingefrorene Töne am warmen Ofen des Wirthshauses aufthaueten und losschmetterten? So überflügeln die Leistungen der Wissenschaft die Phantasie des ärgsten Aufschneiders.

C. St.




Noch einer vom alten Schrot und Korn.

„In demselben Geiste der Unparteilichkeit und Wahrheit, wie wir dies von Wilhelm Zimmermann rühmen, hat die ‚Gartenlaube‘ seit ihrem Bestehen mit ihren Geschichtsbildern zu wirken gestrebt, und es geschieht aus diesem gesinnungsverwandtschaftlichem Gefühl, daß wir dem wackern deutschen Geschichtsreiniger als ein Zeichen wohlverdienter Anerkennung seines Wirkens auf dem Felde der Wahrheitsforschung und des Freiheitskampfes diesen Artikel widmen.“ Mit diesen Worten schlossen wir im Jahrgang 1869 unseres Blattes eine Mittheilung über W. Zimmermann als den „Geschichtsschreiber der Wahrheit“, welcher wir das Bildniß desselben beigegeben hatten.

Acht Jahre sind seitdem vergangen; der alte Herr hat am 2. Januar dieses Jahres sein siebenzigstes Jahr überschritten, ohne daß Geist, Herz und Hand ihm zu schwach geworden wären, um noch ein großes Werk zu vollenden. Als die Arbeit der letzten sechs Jahre liegt vor uns seine „Illustrirte Geschichte des deutschen Volkes“ (verlegt und trefflich ausgestattet von Gustav Weise in Stuttgart), von welcher 1873 der erste, zwei Jahre später der zweite und jetzt der dritte Band erschienen ist. – Die Charakteristik der Geschichtsbehandlung Zimmermann’s, auf die wir oben zurückgewiesen, findet in vollem Umfang auch auf diese neueste Leistung desselben Anwendung; auch in ihr herrscht von der ersten Seite des Buches bis zum Schlußworte derselbe warme nationale Zug und dieselbe Schärfe des Urtheils der historischen Gerechtigkeit, gleich unerbittlich nach oben wie nach unten, wie in den früheren Schriften des fleißigen Mannes, und so ist auch dieses; die ganze deutsche Geschichte bis zur Gründung des neuen deutschen Reiches umfassende Werk ein echtes Volksbuch, das die Weckung, Klärung und Stärkung eines gefunden vaterländischen und Freiheitssinnes sich zum offenen Ziel gesetzt hat.

Einen sehr hohen Werth legen wir seiner Darstellung der letzten fünfzig Jahre unserer Geschichte bei, die für Zimmermann eine selbstdurchlebte ist. Er war bereits als Privatgelehrter in Stuttgart thätig, als die Julirevolution ausbrach, arbeitete schon damals als Zeitungsschreiber mit an der öffentlichen Meinung, verlor die 1847 angetretene Professur für Geschichte, deutsche Sprache und Literatur an der Stuttgarter Polytechnischen Schule in Folge seiner Wirksamkeit in der Paulskirche und seines Verhaltens beim Rumpf-Parlament und in der würtembergischen Landesversammlung 1850 und ist erst seit 1864 als Landpfarrer wieder im Staatsdienst. Er hat demnach selbst in der Arena gestanden, auf welcher Geschichte gemacht wird.

Wie klar der politische Blick dieses ehemaligen Zöglings des Tübinger Stifts, stillen Gelehrten und Dorfpastors durch das Forschen in der Geschichte und die eigenen Erfahrungen im Volksleben geworden, dafür zeugt die folgende Stelle seiner Fortsetzung der „Deutschen Geschichte“ Wirth’s (Band IV, S. 97), die im Jahre 1865 geschrieben ist: „Zur Schöpfung eines lebenskräftigen deutschen Einheitsstaates, bei den ungeheuren von außen wie von innen vorliegenden Hindernissen, gehört eine eisenstarke, der Furcht wie der Verführung unnahbare Seele und eine geniale Geisteskraft von ausnahmsweiser Größe, in einem Manne vereinigt. Ob das ein regierender Fürst, oder ein Minister eines deutschgesinnten Fürsten, oder ob es ein durch die Zeitverhältnisse und in Folge davon durch eine allgemeine nationale Bewegung emporgehobener und an die Leitung der deutschen Angelegenheiten gebrachter Mann des Volkes ist, darauf kommt es nicht an, obgleich ein großbegabter Fürst, wie der zweite Friedrich von Preußen, oder wie der erste Kaiser Joseph, ja sogar noch wie der zweite Joseph, die meiste Wahrscheinlichkeit glücklichen Erfolges für sich hätte, so, wie die Sachen in Deutschland und in Europa einmal liegen. Nur das Eine ist gewiß: ein einziger Mann, die harmonische Einheit des Kopfes und Willens in gleicher Großheit an der Spitze der Leitung, gehört dazu, um die Schöpfung des deutschen Einheitsstaates ins Leben einzuführen. – – Wo dieser Eine Mann, der Mann im vollen Sinne des Wortes, welcher die zerstreuten Kräfte seines Volkes zusammenfaßt, auf das Eine hohe Ziel richtet und verwendet, rücksichtslos gegen alle Parteien, in einer Nation fehlt, da wird auch eines Volksparlamentes Sitzen und Tagen, wie das der Fürsten- und Ministercongresse, sich im Sande verlaufen."

Wenn wir bedenken, daß Zimmermann im Jahre 1865, wo man in ganz Deutschland mit lautem Grolle auf die oberste Leitung Preußens sah, Niemanden weniger, als den bekannten „bestgehaßten“ Mann vor Augen haben konnte, so müssen wir gestehen, daß der Mann, wie ihn die Zeit brauchte und wie er sich, als seine Zeit kam, erwies, nicht treffender gekennzeichnet werden konnte, als dies hier geschehen ist.

Mit demselben Scharfblicke, derselben Wahrheitstreue und Unerschrockenheit stellt er die von ihm selbst erlebte Zeit dar, und das ist ein Verdienst, das wir ihm nicht hoch genug anschlagen können. Haben wir auch keinen Mangel an Geschichtswerken, welche „bis auf die Gegenwart“ reichen, so fehlt es doch auch nicht an solchen, deren Verfasser einer jüngeren Generation angehören, denen das Herz nicht geschlagen hatte unter den Drangsalen, welche vor und nach der Julirevolution bis zu dem Sturm von Achtundvierzig zu erleben waren. Wer jetzt das Mannesalter betritt, war selbst in der traurigen Reactionszeit der fünfziger Jahre noch ein Kind. Allen diesen ist es schwer, ein wahres Bild von der Zeit zu gewinnen, wo Metternich und Rußland das politische Deutschland überwachten und der Gedanke an „ein deutsches Vaterland“, ein „deutsches Reich“ als Hochverrath gegen die Souverainetät jedes einzelnen Bundesstaates verfolgt wurde. Selbst uns Aelteren, die wir noch die Polen von Ostrolenka umarmt und am Hambacher Feste mitgejubelt haben, wird es nicht leicht, aus unserer jetzigen Lebensfreiheit in einem großen und mächtigen Deutschland heraus uns zurückzudenken unter den Druck der Polizeistaaterei mit ihrer Censur, ihren Verboten, ihren obrigkeitlichen Beschränkungen auf Schritt und Tritt und gar all den Widerwärtigkeiten, die Jeder zu erfahren hatte, der mit Paß, Wanderbuch und Heimathschein in's „Ausland“ kam, wie bekanntlich jedes jenseits der eigenen Heimathgrenzen liegende deutsche Land hieß. Und was Alles ist unter so jämmerlichen Verhältnissen im Leben und Treiben des Staats und der Gemeinde der Gesellschaft und des Einzelnen möglich gewesen! Das Schwerste hatten die kleinen Staaten, die zum Theil unter weisen und edlen Fürsten auf dem Wege der Bildung, des Wohlstandes und freierer politischer Regung geräuschlos fortschritten, von den beiden Großstaaten des Bundes zu leiden, besonders seit „Junker und Jesuiten“ über die letzten Folgen der Julirevolution gesiegt hatten. „Von da an,“ sagt Zimmermann’s Alters- und Gesinnungsgenosse Droysen, „gab das preußische Cabinet seine Zustimmung zu allen reactionären Maßregeln, welche Oesterreich auf dem Bundestage beantragte, zur Unterdrückung [800] der Preßfreiheit, zur Lähmung der Volksvertretungen, zur Verfolgung der liberalen Führer des Volks“, – und wie sehr es damit auch dem russischen Interesse diente, verräth die am Petersburger Hofe damals geläufige Tagesphrase: „Wir weisen Preußen seine Rolle an.“

Ja, was war da Alles möglich! Rußland winkt, und Rotteck und Welcker verlieren ihre Lehrstühle. Pietisten und Ultramontane feiern Sieg auf Sieg. Der „beschränkte Unterthanenverstand“ wird in Preußen erfunden und in Hessen Sylvester Jordan vor den Augen der ganzen Welt in einem politischen Racheproceß gefangen gehalten. Währenddeß läßt Bischof Arnoldi in Trier den heiligen Rock anbeten und erhält den Stern des rothen Adlerordens in demselben Jahre 1847, wo eine Lola Montez als Jungfrau von Orleans des baierischen Liberalismus gegen den Minister Abel auftrat und Heinrich Simon von Breslau als Sturmvogel des kommenden Jahres auf die Fragen „Annehmen oder Ablehnen?“ die Antwort des preußischen Volkes gab. Dann kommt – als zweihundertjähriges Jubiläum des Westfälischen Friedens – das Jahr 1848. Wie lebende Bilder führt Zimmermann uns die Hauptzüge dieser ersten großen nationalen Revolution Deutschlands vor, die Stürme in Wien, Berlin und Frankfurt und die Unthaten des Pöbels und der Reaction

Strafe vornehmer Verbrecher unter Joseph dem Zweiten
Illustrationsprobe aus Zimmermann’s „Illustrirter Geschichte des deutschen Volkes“.

bis zur „Rettung der Gesellschaft“ durch die politische Ebbe und zu deren Ausläufen, der Bundesauferstehung und Flottenauction.

Mit denselben energischen Strichen, wie die Ereignisse von Achtundvierzig und deren Folgen, malt er uns die aus den Schatten der Reaction, der Concordate und Conflicte in helleren Farben hervortretenden nationalen Bewegungen bis zu den Blut- und Eisenthaten, durch welche erst der Norddeutsche Bund gewonnen und zuletzt zum deutschen Reiche erweitert und erhoben worden ist.

Wir wiederholen es, daß wir gerade die beiden letzten „Hauptstücke“ des Werts der jüngeren Generation an das Herz legen, weil durch sie die schwere Zeit ihrer Väter ihnen so warm und klar vorgeführt wird, wie wir Alten nur in den besten Stunden der Erinnerung sie uns wieder vor Augen zu stellen vermögen. Die jüngere Generation bedarf aber einer solchen Einführung in jene schwere Zeit, damit die Märtyrer derselben von ihr gekannt, gerecht gewürdigt und nicht durch den Glanz neuer Ereignisse in den Schatten gestellt und mit Undank belohnt werden. Ebendeßwegen freuen wir uns, unseren Lesern mittheilen zu können, daß es der Wunsch des Herrn Verfassers ist, dem der Herr Verleger bereitwillig sich anschloß, den Abonnenten der Gartenlaube das an sich kostspielige Prachtwerk um einen bedeutend billigeren Preis abzulassen. Das Nähere über das Motiv und die Art und Weise dieser Preisermäßigung finden die Leser in dem dieser Nummer der Gartenlaube beigelegten Prospect.

Die Illustration welche wir als künstlerische Ausstattungsprobe des Werks aus dem dritten Bande desselben hier mittheilen, bezieht sich auf die Regierungszeit des Kaisers Joseph des Zweiten, von dem es (S. 374) heißt: „Er legte keinen Werth auf Geburtsrechte, auf unverdiente Bevorzugungen; er achtete nur das Verdienst und sah im Menschen nur den Menschen. – – Er ahndete jede Bedrückung, welche ein Beamter ausübte, auf das Strengste, und man sah hochgeborne Verbrecher, welche sonst fast immer vor Strafe sicher geblieben waren, unter seiner Regierung in Ketten die Gassen Wiens kehren.“

Fr. Hofmann.




Blätter und Blüthen.

Noch einmal die eingetheilte Vernunft. Der bekannte Ausspruch Ben Akiba’s findet auch auf die Mittheilung über die Eintheilung der Vernunft in Nr. 40 der „Gartenlaube“ Anwendung. Denn schon Beireis, Professor in Helmstädt, als Arzt und Naturforscher wissenschaftlich fast ebenso anerkannt und berühmt, wie als Adept und Charlatan im Volke beschrieen und berüchtigt (geb.1759, gest. 1809), theilt die Menschen ihrer geistigen Befähigung nach in Vollköpfe, Dreiviertelköpfe und Halbköpfe ein. Von den letzteren behauptet er, sie seien gute Geschäftsmänner. Die Dreiviertelköpfe brächten es in der Welt zu Ruhm, Würde und Ehren, aber erst die Vollköpfe wären die in Kunst und Wissenschaft wie sonst schöpferisch wirkenden Geister. Vollköpfe waren nach ihm Thales, Archimedes, Christus, Newton, Leibnitz, Büffon, Friedrich der Zweite, Katharina die Zweite, Napoleon. Dem Professor und Epigrammedichter Kästner in Göttingen wies er den Rang eines Dreiviertelkopfes an, ebenso dem Professor der Theologie Teller in Helmstädt, wogegen er des Letzteren Collegen Michaelis noch um eine Rangstufe herabsetzte.

Fr. Hg.




Unsern Lesern und namentlich den vielen anfragenden Briefschreibern können wir heute schon die hocherfreuliche Mittheilung machen, daß die in Nr. 45 erwähnten „drei Waisenkinder einer armen sächsischen Lehrerfamilie“ bereits eine neue Heimath, das heißt neue Eltern gefunden haben. Es sind auf unsere schlichte Anzeige so viele liebeswürdige und herzerwärmende Zuschriften eingelaufen, daß wir den Schreibern nicht genug dafür danken, freilich aber auch nicht überall schriftlich antworten können. Unser bei einer andern ähnlichen Gelegenheit abgegebener Ausspruch: „es giebt überall noch gute Menschen,“ hat sich hier wieder in glänzender Weise bewahrheitet. Der Himmel aber segne die Barmherzigen, welche sich der verlassenen Waisen so rasch annahmen.

D. Red.

  1. Das Blatt mit dem originellen Spruche von der Handschrift des alten Wrangel hat der Verfasser als ein ihm sehr werthvolles Document aufbewahrt und der Redaction der Gartenlaube zur Einsicht mitgetheilt.