Die „Vivisektion“ vor dem Richterstuhl der Gegenwart

Textdaten
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Autor: Carl Ludwig
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Titel: Die „Vivisektion“ vor dem Richterstuhl der Gegenwart
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 417–420
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die „Vivisection“ vor dem Richterstuhl der Gegenwart.[1]

Ein Wort zur Vermittelung.

Von Prof. C. Ludwig.

Das deutsche Publicum wird seit einiger Zeit von einer Agitation heimgesucht, welche mit den drastischsten Mitteln sich an schwachnervige und sentimentale Gemüther, namentlich der Frauen wendet, vor Allem aber an die Frömmigkeit appellirt, um durch den Druck der öffentlichen Meinung das gänzliche Verbot der sogenannten Vivisection, des wissenschaftlichen Experimentes am lebenden Thieren zu erzielen. Diese ganze Bewegung hat ihren Ursprung in England, und die Triebfedern derselben dienen wissentlich oder unwissentlich den Zwecken, welche die englischen Urheber im Auge haben. Um daher ein sicheres Urtheil in der Frage zu gewinnen, muß man sich zunächst Ursprung und Verlauf der Bewegung jenseits des Canals vergegenwärtigen.

Zum vollen Verständniß dieser Bewegung halte man sich gegenwärtig, daß alle ärztlichen Lehranstalten in England nur Privatinstitute sind. Der Staat ernennt keine Professoren; er ordnet nicht den Lehrplan und giebt zur Unterhaltung des Unterrichts keine Mittel; mit dem Staate kommen die medicinischen Facultäten nur in Berührung, wenn sie gegen die allgemein gültigen Gesetze verstoßen. Da dieser Fall eingetreten zu sein schien, als sich in öffentlichen Blättern die Anklage erhob, es werde in den medicinischen Laboratorien unter dem Vorwande der Wissenschaft gegen die Thiere auf das Grausamste vorgegangen, so verhängte im Jahre 1876 das Parlament wie billig eine Untersuchung. Aus einer strengen und sachgemäßen Prüfung der Thatsachen ergab sich jedoch alsbald, daß die gegen die medicinischen Schulen geschleuderten Vorwürfe durchaus ungerechtfertigt gewesen, und es traten nicht blos alle hervorragenden Aerzte, es traten auch alle anderen Naturforscher, ja sogar die Mitglieder des Thierschutzvereins, welche von dem Gebrauche Kenntniß genommen, der in England von der Vivisection gemacht worden, für die Ausübung der letzteren ein. Obwohl unter diesen Umständen keine Veranlassung zu einem Eingriff in den bisherigen Zustand vorlag, so erließ doch das [418] Parlament zur Beruhigung der Gewissen ein Gesetz, welches die Ausübung der Vivisection unter die besondere Aufsicht des Ministeriums des Innern stellte, ähnlich der, wie sie in allen continentalen Instituten seit lange geübt wird.

Nachdem hierdurch allen berechtigten Anfordernden der Thierfreunde an die ärztliche Wissenschaft genügt war, stand zu erwarten, daß sich von nun an die Agitation gegen die Vivisection beruhigen werde; statt dessen gewann sie einen erhöhten Aufschwung. In heftigen Worten erklärten die Gegner der Vivisection, der Staat habe seine wahre Aufgabe verkannt, nicht zu überwachen, sondern auszurotten sei der Gebrauch der Thiere zur Vivisection, und was die Gesetzgebung versäumt, das müsse auf dem Wege der Selbsthülfe erreicht werden. Zu diesem Ende gründete die Partei einen Verein, dessen weit ausschauende Aufgabe sich schon durch seinen Namen „Internationale Association zur totalen Unterdrückung der Vivisection“ ankündigte. Da an seiner Spitze Bischöfe und Lords, Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft standen, welche über Reichthum und Einfluß geboten, so gebrach es der Assoziation nicht an dienstfertigen Kräften; zahlreiche Flugblätter, voll von falschen Anklagen gegen die Fruchtlosigkeit der grausamen Experimente mit Thieren, voll von Angriffen gegen die Gelehrten, welche dieselben ausüben, wurden im Volke verbreitet; an allen Ankündigungstafeln, in den Coupés der Eisenbahnen erschienen die jüngst auch bei uns herumgebotenen Bilder; anatomische Präparationen, wie sie nur an der Leiche ausführbar sind, werden zu Ergebnissen der Vivisection gestempelt, und um die zerfleischten Thiere sind Professoren und Studenten, junge und alte Galgengesichter, gestellt, welche sich an der Qual ihrer Opfer weiden. Nicht genug damit, auch in den Kirchen wurden die Gemüther des Volkes erhitzt, von vielen Kanzeln Englands herab ertönten Verwünschungen gegen die Wissenschaft und ihre Vertreter. Man drohte den Lehranstalten und Hospitälern mit der Entziehung der bisher gewährten Unterstützung, wenn sich die an ihnen beschäftigten Professoren und Aerzte der Vivisection nicht enthielten, und bei der Abhängigkeit, in der sich die Krankenhäuser und die mit ihnen verbundenen Facultäten der Medizin von der Unterstützung durch milde Gaben befinden, mußte die Wissenschaft der hülfsbedürftigen Armuth das Opfer bringen.

Damit war für England das vorgebliche Ziel der Association erreicht; wäre das Mitleid mit dem Thiere die Ursache der Anstrengung gewesen, so wäre nur etwa noch die Agitation im Auslande ihr als Ziel verblieben. Was kann noch immer die Gegner der Vivisection veranlassen, in Flugblättern und Annoncen gegen die einzeln namhaft gemachten Professoren der Physiologie, welche seit Jahren keine Vivisection geübt, den Haß und die Verachtung der Menge zu erwecken? Wenn es von vornherein befremdlich war, daß aus den Schichten derjenigen Gesellschaft, welche rücksichtslos nach den Genüssen dieser Welt jagt, welche sich durch die raffinirteste Pflege des Sports, der Hetzjagden und des grausamen Fischangelns auszeichnet, solch ein Angriff auf den Stand hervorging, der selbstlos gegen das Elend kämpft, so wurde jetzt offenbar, daß die Vivisection nur den Vorwand abgegeben. Nicht aus dem Bedürfnisse des Herzens, sondern aus dem Schooße der Hierarchie erhob sich der Sturm. Wie voreinst die Päpste in Copernicus und seinem Jünger Galilei die Zerstörer des traditionellen Himmels gefürchtet, so wähnt jetzt die englische Geistlichkeit, die Physiologie könne ihr die Seelen entfremden.

Vor einer Wissenschaft, welche die Brücke zwischen Physik und Philosophie schlägt, welche die Sinne, jene Außenwerke des Geistes, erfolgreich in den Kreis ihrer Forschung gezogen, wird mancher Begriff verschwinden, der einer blinden Wortgläubigkeit für den Kern der Religion gilt, aber niemals wird eine Religion, die in Wahrheit diesen Namen verdient, durch die Einsicht in den natürlichen Verlauf der Dinge verkümmert. In der freien Bewegung der Geister, welche sich seit den Tagen der Reformation in Deutschland entfaltete, ist es längst erwiesen, daß zwischen dem Glauben an eine sittliche Ordnung der Welt und der genannten Erkenntniß der irdischen Dinge kein feindlicher Gegensatz herrscht. Jene englische Agitation ist ein neues trauriges Zeugniß, wie hartnäckig sich die Feinde der freien Forschung dieser Wahrheit verschließen.

So viel über die Motive der englischen Agitation gegen die „Vivisection“!

Indem wir uns nun zu dem Wesen der letzteren selbst wenden, bemerken wir zunächst, daß von vornherein das unpassende Wort „Vivisection“, mit welchem man eine wissenschaftliche Operation belegte, die Schuld daran tragen dürfte, daß jeder Uneingeweihte zu der Meinung kam, der Versuch am lebenden Thier gleiche der anatomischen Section, welche in ungemessenen Schnitten Höhle um Höhle, Glied um Glied der Leiche zerlegt. Keine Annahme ist irriger als diese; mit ganz anderen Empfindungen, als an die gefühllosen Cadaver, tritt der Forscher an das lebende Thier, dessen Leiden er weit mehr als jeder Andere zu würdigen versteht; nach sorgfältigem Erwägen dessen, was nothwendig und was überflüssig ist, und getragen von der genauesten Kenntniß des anatomischen Baues, beschränkt er die Verletzung auf das unumgängliche Maß; mit Vorsicht umgeht er die empfindlichen Theile des Körpers, und so oft es nur irgend thunlich, hat er vor seiner Operation das Thier durch Narcotica betäubt. Zu dieser durch menschliches Empfinden gebotenen Vorsicht gesellen sich die Forderungen der Wissenschaft, da für diese der Versuch einen um so größeren Werth gewinnt, je mehr sich der Zustand des Geschöpfes, an welchem eine Vivisection geübt wird, der vollen Gesundheit nähert. In unserer Kunst – denn als eine solche ist sie zu bezeichnen – gilt es als ein Fortschritt, wenn es gelingt, das Maß der Verletzung zu verringern, und als ein Triumph, wenn man zur Aufklärung der geheimnißvollen Vorgänge des Lebens an die Stelle der Vivisection ein Verfahren zu setzen vermag, das sie entbehrlich macht.

Daß dieses Letztere in reichlichem Umfange geschieht, daß die Wissenschaft unserer Tage sehr oft das lebende Thier umgeht, wo es früher unentbehrlich erschien, weiß jeder Fachmann. Das Mikroskop, die organische Chemie, die Fortschritte der Physik bieten so vielfache Hülfe, es hat die Kunst, die herausgenommenen Organe des getödteten Thieres durch künstliche Mittel zu beleben, so große Fortschritte gemacht, daß gegenwärtig die Vivisection einen, wenn auch unentbehrlichen, aber doch nur geringen Theil der Verfahrungsarten ausmacht, durch welche die Einsicht in das Leben und seine Bedingungen gewonnen wird.

Daß die Physiologie und die experimentelle Pathologie von einem einseitigen Gebrauche der Vivisection weit entfernt sind, davon überzeugt den unseren Wissenschaften ferner Stehenden schon die Vergleichung der Verzeichnisse der akademischen Vorlesungen von heute mit denen von vor dreißig Jahren. Wie dürftig nimmt sich das Ehemals gegen das Jetzt aus! Und derselbe wissenschaftliche Streit, welcher den Gegnern der Physiologie zum Beweise dienen soll, daß ihre einzige Frucht in nutzlosem Gezänke bestehe, sollte vielmehr als Zeugniß angesehen werden, um wie viel mehr die Vertreter dieser Wissenschaft sich vom rohen Drauf- und Dreinexperimentiren entfernt haben und wie lebhaft sie bemüht sind, aus dem unumgänglichen Experiment den möglichsten wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen.

Daß in der That aus der Vivisection reichlicher wissenschaftlicher Nutzen geflossen und daß derselbe in eminentem Grade der Menschheit zugleich praktisch zu Gute gekommen ist, dies zu erweisen ist leicht genug. Ja, wollte man alle die Dienste aufzählen, welche der Versuch am lebenden Thier der Heilkunde geleistet, so würde man eine Geschichte der medizinischen Wissenschaft zu verfassen haben, denn es ist in dieser kein Fortschritt geschehen, an dem die Vivisection nicht mehr oder weniger betheiligt gewesen; statt dessen mag es hier genügen, in kurzen Umrissen einige ihrer großen Hülfsleistungen für die Heilung des kranken und das Gedeihen des gesunden Menschen anzuführen.

1) Ohne die Vivisection wäre es niemals gelungen, von dem Blutstrom und den Kräften, die ihn treiben, eine Kenntniß zu erlangen, wie sie zur Beherrschung derselben dem Arzte nothwendig ist. Was dieser Erwerb für die leidende Menschheit bedeutet, geht daraus hervor, daß erst er die sichere und schmerzlose Stillung großer Blutung ermöglicht hat; denn vor seiner Entdeckung konnte nur durch ein glühendes Eisen, das in die Wunde gesenkt wurde, die Blutung aus den Schlagadern gestillt werden. Welche Schmerzen hatte der zu überstehen, der auf diese Weise von dem sicheren Tode gerettet wurde, und wie Viele mußten ohne Rettung auf dem Schlachtfelde oder nach plötzlichen Verwundungen verbluten! Wie Wenigen auch, denen nur eine größere chirurgische Operation Heilung zu bringen vermochte, konnte die ersehnte Hülfe zu Theil werden!

[419] Obschon dieser eine Erfolg genügte, um die Entdeckung des Blutstroms für unschätzbar zu erklären, so haben sich doch an sie andere und weit größere angereiht, seitdem die fortschreitende Wissenschaft tiefer und tiefer in die Eigenthümlichkeiten des lebendigen Blutlaufs eingedrungen. Wenn gegenwärtig zahlreiche Herzkrankheiten erkannt und geheilt, gefahrdrohende Entzündungen gehoben werden, wenn heute das Blut, statt daß man es in unnützem Aderlaß stromweise vergießt, nach Kräften gespart und hierdurch dem kranken Körper die Kraft zur Ueberwindung des Siechthums gesichert wird, so verdankt dies die menschliche Gesellschaft nur der durch die Vivisection gewonnenen Erkenntniß.

2) So lange der Arzt die Einsicht in den Organismus nur aus der Zergliederung der Leiche gewann, mußte er, getäuscht von dem äußeren Anschein, zwei ihren Leistungen nach so grundverschiedene Gebilde, wie die Nerven und Sehnen, mit einander verwechseln. Erst der Versuch am lebenden Thier bewies ihm, daß die Sehne ein träger Strang, der Nerv aber zu der Erfüllung der Aufgaben befähigt sei, denen nach der Ueberzeugung unserer Vorfahren nur beseelte Wesen gewachsen waren. Die unablässige Arbeit der Physiologen hat endlich auch die Nerven als mechanische Apparate erwiesen, und noch mehr, sie hat uns gezeigt, daß, statt einer einzigen, zahlreiche Gattungen von Nerven bestehen, welche, dem trüglichen Augenschein zuwider, ihrem inneren Wesen nach durchaus verschieden sind. Wie wäre es möglich gewesen, an todten Nerven zu erfahren, daß dieser empfinde, jener aus den Drüsen den Speichel oder Thränen hervorlocke, und ein anderer nach den Befehlen unseres Willens die Glieder bewege, den Blutstrom hemme und beschleunige, und wie könnte ohne die Hülfe des lebendigen Thieres der Einblick in die wundervolle Mechanik der Nerven gelingen? Nur durch den Versuch konnten wir erfahren, daß sich die Nerven von einem zum andern Orte unseres Körpers erstrecken, daß sie sich im Gehirne und im Rückenmarke kunstvoll verflechten und alle Werkzeuge unseres Körpers zu gemeinsamer Arbeit verknüpfen. Naturgemäß erwuchs aus der Kenntniß dieses Baues und seiner Verrichtungen in der Hand des denkenden Arztes die Einsicht in das Wesen einer unabsehbaren Schaar von schweren Erkrankungen, und durch sie gelang die Linderung zahlloser Schmerzen. So lange man nicht wußte, daß die Nerven des Herzens und der Athmung nach anderen Gesetzen wirken, als die, welche unserer Seele den Schmerz zutragen, wäre es ein Verbrechen gewesen, auf die Anwendung von Mitteln zu denken, welche die Empfindung lähmen. Daß wir jetzt kein Bedenken tragen, durch diese Lähmung den unerträglichen Schmerz zu stillen, ist allein die Frucht der Vivisection. Aber ihre Erfolge reichen noch weit hierüber hinaus; man denke nur an die erquickende Kraft der Elektricität – dieser neue, um nicht zu sagen neueste Zweig der Heilkunst wurzelt allein in dem physiologischen Experiment.

3) Wer vor vierzig Jahren seine Studien begann, der fragte seine Lehrer vergebens, aus welchen Stoffen die Nahrung bestehen müsse, um den Menschen gesund zu erhalten, und man wagte nicht einmal die Frage, weshalb die Nahrung dem Körper Kräfte verleihe. Daß bei einem solchen Stande der Wissenschaft die Einsicht in die Verdauung und in die Bildung des Blutes fehlen mußte, bedarf keiner Erwähnung. Wäre es untersagt gewesen, den Aufschlüssen, welche uns die Chemie geschenkt, den Versuch am lebenden Thiere zu gesellen, so würde das Dunkel niemals gewichen sein, und zahlreiche Erfolge, deren sich die ärztliche Kunst rühmen darf, wären nie errungen worden. Die Mutter, welche ihr sieches Kind unter einer vernünftigen Regelung der Diät aufblühen sieht, und der Hypochonder, welchem der physiologisch geschulte Arzt mit der geregelten Verdauung die Lebenslust zurückgegeben, sind dem Experimente zum Danke verpflichtet.

4) Einer groben Fahrlässigkeit würde sich gegenwärtig der Arzt schuldig machen, welcher die Temperatur des Kranken, in dessen Adern das Fieber wüthet, nicht bis auf das Zehntel eines Grades messen würde. Daß kein Vorwurf dem zu machen war, welcher vor zwanzig Jahre den Gebrauch des Thermometers am Krankenbett verschmähte, leuchtet ein, wenn man erfährt, seit wie kurzer Zeit man erst weiß, daß bei einer Wärme des Blutes, die nahe über 42° Celsius liegt, das Leben augenblicklich erlischt. Die Aufdeckung des merkwürdige Gesetzes, daß die Erhöhung der normalen Körperwärme um wenige Grade schon für sich allein den Tod bringe, konnte selbstverständlich nur am lebenden Thiere gefunden werden. Seitdem man in den physiologischen Laboratorien die allmähliche Steigerung der Körperwärme bewirkte und ihre Folgen erkannte, hat die Heilkunde durch kühne Anwendung der Kälte Tausende von Kranken gerettet, die vormals dem hitzigen Fieber zum sichern Opfer fielen.

5) Längst war es durch die einfachste Beobachtung bekannt, daß Pflanzen und Thiere im Menschen keimen, wachsen und seine Gesundheit erschüttern. Doch der ganze Umfang, in dem dies geschah, daß auch kleinste, mit den besten Mikroskopen kaum erkennbare Schmarotzer sich das Fleisch und das Blut zum Aufenthalte erwählen, daß sie auf jeder Wunde nisten, daß sie Gifte und damit Qualen in uns führen, die an Grausamkeit alle übertreffen, welche jemals der Haß und die Bosheit erdacht, das lehrte erst die Vivisection. Als eine gütige Fügung muß es dem menschlichen Bewußtsein erscheinen, daß mit der Erkenntniß, welche Leiden die höchste Organisation zu Gunsten der niedrigsten erdulden muß, auch die Hülfe gegen sie entdeckt ward. Durch den Gebrauch des Carbols, welches die Parasiten tödtet, die sich in der Wunde niederlassen, gelang die Heilung größter Verletzungen so schmerzlos und in so kurzer Zeit, daß von nun an auch der vorsichtigste Operateur zu einem Gebrauche des heilenden Messers schritt, vor dem sonst auch der tollkühnste zurückschreckte. In die Seele des Kranken, der verzweifelnd in die nächste Zukunft sah, ist Ruhe und Zuversicht eingekehrt, denn warum sollte er die Operation fürchten, seitdem ihn das Chloroform vor dem Schmerze schützt, die antiseptische Behandlung das zehrende Wundfieber fernhält und die klaffende Wunde in wenigen Tage zuschließt?

Diese Thatsachen dürften genügen, um den Werth des Experimentes am lebenden Thiere darzuthun und die heutige Physiologie gegen die Anschuldigungen zu vertheidigen, die ihr gemacht werden. Wären wir der Vergehen schuldig, deren uns die Gegner anzuklagen nicht ermüden, längst wäre uns von den vorgesetzten Stellen aus Einhalt gethan, denn das Gesetz bedroht jetzt schon Denjenigen, „der in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt“, mit Geldstrafe und Gefängniß, und nicht in der Stille, nein vor den Augen Vieler vollführen wir unsere Werke. Und wie es uns selber alle Gründe des Gemüthes und des Verstandes nahe legen, jeden Makel zu verhüten und zu tilgen, der sich an den Name unserer Kunst heften könnte, so ist wirklich Niemand mehr, als wir bestrebt, auf alle gerechten Klagen zu hören und allen Ausschreitungen entgegenzutreten, welche unter dem Deckmantel ärztlicher Bestrebung an dem Thiere geübt werden; in diesem Sinne stimmen wir unsern Gegnern aus voller Ueberzeugung bei. Nur unter Aufsicht der vom Staate ernannten Vertreter der Wissenschaft soll das Experiment am lebenden Thiere geübt, und die strengsten Strafen sollen über denjenigen verhängt werden, der diese Experimente vornimmt, ohne seinen Beruf dazu nachweisen zu können. Aber wenn die Anschuldigungen frivoler Ausübung des Experiments sich gegen längst Verstorbene richten, wenn sie zudem den Stempel der Unwahrheit an der Stirn tragen, mit einem Worte, wenn sie den Angriffen gleichen, welche sich in den gegenwärtig verbreiteten Schriften befinden, so werden wir die Verfasser, je nach ihren Motiven, beklagen oder verdammen müssen, der Sache aber, die wir vertreten, wird hoffentlich eine in ihren Voraussetzungen und Zielpunkten so hinfällige Agitation, wie es die in Rede stehende ist, nicht schaden.

Ob auch der englische Klerus die Bücher, welche auf seine Bestellung geschrieben, bis in die kleinsten Schulen verbreitet, seine Verbindungen sich bis in die höchsten Kreise erstrecken – seine Mühe ist vergebens. An dem weltgeschichtlichen Berufe des deutschen Geistes, die Forderungen des Gemüths mit denen des Verstandes in Einklang zu bringen, sind größere Agitationen als die heutige gegen die Physiologie gescheitert, und man kann nur das Aergerniß beklagen, das mancher warmen Empfindung durch die Verpflanzung des Angriffs nach Deutschland bereitet wurde und noch bereitet wird.

  1. Die „Gartenlaube“ hat über den Gegenstand bereits im vorigen Jahrgang (1878, S. 12 ff.) einen Artikel gebracht, welcher unsere Stellung zu der Frage erschöpfend darlegte. Wenn wir trotzdem einer der berufensten wissenschaftlichen Autoritäten hier das Wort zu erneuerter Erörterung der Frage ertheilen, so geschieht dies, weil in jüngster Zeit in Deutschland eine energische Anstrengung sichtlich wurde, die öffentliche Meinung für die Ausrottung der Vivisection zu interessiren – neuerdings aber, nachdem jener erste Ansturm die Aufmerksamkeit auf die Sache gelenkt, Versuche gemacht werden, in aller Stille planmäßig durch Bildung von Antivivisectionisten-Vereinen vorzugehen. Wir möchten das Unsrige thun, um in Deutschland Bewegungen zu verhüten, welche mit dem bekannten Weiberfeldzug gegen geistige Getränke in Amerika starke Aehnlichkeit haben.
    D. Red.