Der erste Kirchgang der Genesenen

Textdaten
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Autor: E. U.
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Titel: Der erste Kirchgang der Genesenen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 93, 96
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[93]

Der erste Kirchgang der Genesenen.
Nach dem Oelgemälde von Hugo Oehmichen.

[96] Der erste Kirchgang der Genesenen. Mit Abbildung. „Verse,“ sagt der Philosoph von Ferney, „werden darüber, ob sie poetischen Geist haben oder nicht, am besten geprüft, wenn man sie in Prosa überträgt, und wenn sie ihn darin behalten.“ Sollte eine zweckähnliche Metamorphose sich nicht auch auf dem Gebiete der Malerei vornehmen lassen? Sind doch im Grunde genommen alle Kunstwerke der Ausfluß eines poetischen Geistes! – Ein Gemälde in Prosa übersetzen, was heißt das aber anders, als ihm den holden Farbenschimmer abstreifen, es durch die graphischen Künste, deren schmuckloseste sich im Holzschnitt bewährt, zur Anschauung bringen? Wirkt selbst dann – nach so wesentlichem Verluste! – das Bild noch sympathisch auf uns zurück, verbleibt ihm selbst dann ein unverwüstlicher Kern an poetischer Kraft: so ist der Beweis seines wahren, idealen Kunstgehaltes geliefert. – Auch das jetzt zu besprechende Gemälde konnte, weil darin das malerische Element zur Geltung gekommen und die Form in einen verklärenden Farbenschein getaucht war, die xylographische Uebertragung nicht ohne Einbuße passiren. Wie vermöchte der Grabstichel jenes goldenduftige Licht wiederzugeben, welches im Originale durch die ehrwürdigen Räume der Kirche bricht und weihevoll über den Häuptern der frommen Betenden schwebt? wie vermöchte er jene zarte Mischung in der Erscheinung des Mädchens anschaulich zu machen, dessen blasses, von der Anstrengung des ersten Ganges nur leicht angehauchtes Gesicht und dessen müdes und doch gewinnendes Lächeln ob der Fürsorge des alten Mütterchens ebensosehr die ersten Zeichen völliger Genesung, wie die letzten Spuren überstandener Krankheit zeigt?

All’ dieser holden Farbenwirkung, welche dem Gemälde einen so unwiderstehlichen Zauber verleiht, muß der formgebundene Holzschnitt entbehren, und trotzdem, welcher beträchtliche Fond an Poesie ist noch in ihm verblieben! Gleich vorn der weißhäuptige Alte, andächtig durch’s Glas in die mürben Blätter seines Gesangbuches schauend, wie charakteristisch ist er in jeder Linie! Man sieht es ihm an, daß es sein Leiblied ist, das trostreiche „Befiehl du deine Wege“, was laut der am Chore hängenden Nummer eben gesungen wird, und wie scharf contrastirt mit ihm der im Mittelgrund befindliche, am Glanze seiner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit leicht erkennbare Dorfschulze, in dessen Nähe die Alte aus dem Gemeindespital auf das Pflaster gesunken ist, in der Hand die Krücke, auf der sie sich mühsam in die Kirche geschleppt! Es ist das Ende eines sorgen-, vielleicht auch schuldgebeugten Lebens, das hier unsere wärmste Theilnahme anregt, und wie lichtvoll hat der Künstler die in das Leben tretende Unschuld danebengestellt in den beiden Kindergestalten mit dem noch unverletzten Siegel Gottes auf der Stirn!

Obwohl sich noch eine Fülle von solchen Hinweisen aufdrängt, glaube ich doch – bei der Raumbeschränkung des Blattes – dem Leser selbst das Nachempfinden des diese Gestalten belebenden Schönheitsgefühles überlassen und mit der Mittheilung schließen zu müssen, daß der „Sächsische Kunstverein“ die Originaldarstellung als Hauptbild für das Jahr 1870 erworben und der junge Maler, Hugo Oehmichen (geboren 1843 zu Borsdorf bei Leipzig), seinen Bildungsgang in Prof. Dr. Julius Hübner’s Atelier begonnen hat.
E. U.