Der Sieg über die Branntweinpest in Oberschlesien, historisch, medicinisch und mystisch beleuchtet

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Autor: Carl Ignaz Lorinser
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Titel: Der Sieg über die Branntweinpest in Oberschlesien, historisch, medicinisch und mystisch beleuchtet
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Auflage: 1. Auflage
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Erscheinungsdatum: 1845
Verlag: F. Weilshäuser
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Erscheinungsort: Oppeln
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Quelle: MDZ München = Commons
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[I]
Der Sieg
über die
Branntweinpest
in
Oberschlesien,
historisch, medicinisch und mystisch beleuchtet
vom
Geheimen Medicinalrath
Dr. C. J. Lorinser
in Oppeln.




Oppeln,
Verlag von F. Weilshäuser.
1845.
[III]
SALVTI INFIRMORVM
AVXILIO CHRISTIANORVM
D. D.
[1]
I.

Das denkwürdige Ereigniß, durch welches in Oberschlesien die Herrschaft des Branntweins gestürzt, ist vielfach und weithin besprochen, bis jezt aber noch nirgend ausführlich beschrieben; kaum sind die äußern Erscheinungen und Folgen davon bekannt, und seine Bedeutung ist am häufigsten mißverstanden worden. Die öffentlichen Blätter haben andere Dinge zu thun, als sich mit solchen Untersuchungen zu befassen, selbst wenn durch die Thatsache eine völlige Umwandlung im Vaterlande eingetreten wäre. Es schien mir daher nicht überflüssig, über einen Kampf zu berichten, der, mit den Waffen des Friedens gestritten, zu einem so schnellen und wunderbaren Siege ausgeschlagen ist. Inzwischen vernehme ich mit Freuden, daß von einem kundigen Verfasser, der selbst an der Sache lebhaften Antheil genommen, eine größere Schrift vorbereitet und dadurch die meinige nach allem Anschein entbehrlich [2] wird. Es ist aber auch möglich, daß eine der andern zur Ergänzung diene, weil die vorliegende sich mehr an das Allgemeine hält, jene dagegen vorzüglich das Besondere und Einzelne umfassen soll.

Vielleicht sind unsere Quellen zum Theil verschieden, zum Theil auch unsere Ansichten nicht gleich. Dieser Umstand kann der Wahrheit frommen, mich aber von meinem Vorhaben um so weniger abhalten, als ich die Aufmerksamkeit auf einige Puncte zu lenken wünsche, die bei der Sache bis jezt entweder gar nicht, oder nicht hinlänglich gewürdigt worden sind. –

Um einen Begriff von der Größe des erlangten Sieges zu geben, müssen wir zuvor an die furchtbare Macht des Feindes erinnern, die kaum in einem andern europäischen Lande – Irland vielleicht ausgenommen – so verderblich als in Oberschlesien gewüthet hat. Ich habe das benachbarte Galizien, das wegen des Branntweintrinkens sehr verrufen ist, von einem Ende bis zum andern durchreist, und auf dem weiten Wege von Krakau bis an die Grenze der Moldau sind mir nicht so viele Betrunkene begegnet, als ich an einem Sonntage auf der nur drei Meilen langen Straße zwischen Beuthen und Myslowitz taumeln und liegen sah. Wenn Jemand bei uns die Tausende hätte zählen können, denen die Berauschung zum täglichen Bedürfniß geworden, auch nur die Hunderte, die sich auf jedem Jahrmarkt um Sinn und Vernunft gebracht: die civilisirte Welt würde vor diesen [3] Zahlen erschrecken. Bei Hochzeiten stieg der Unfug so hoch, daß öfters das Brautpaar mit allen Gästen vom Altar zurückgewiesen, und die Trauung auf einen andern Tag verschoben werden mußte; bei Kindtaufen gerieth der Täufling nicht selten in Lebensgefahr. Zu allen Zeiten und an allen Orten, bei Nacht und bei Tage, während der Arbeit und der Muße wurde Branntwein getrunken; nur am Charfreitage, am ersten Tage der drei hohen Kirchenfeste und am Frohnleichnamstage schien die Völlerei von einer kurzen Sabbathruhe unterbrochen zu werden. Das männliche und das weibliche Geschlecht, und nicht allein Erwachsene, sondern auch Kinder, waren dem Laster der Trunksucht ergeben. Unter den Aermsten sogar, die selten Brod, fast niemals Fleisch genossen, und deren gewöhnliche Nahrung aus Kartoffeln, saurem Kohl und saurer Milch bestand, war Branntwein das tägliche und unentbehrliche Getränk. Diejenigen, welche nur so viel tranken, daß sie noch die Besinnung und den Gebrauch ihrer Glieder behielten, wurden kaum als Säufer angesehen. Ueberall im Volke war der Irrwahn verbreitet, und die falsche Ueberzeugung eingewurzelt, daß der Branntwein zur Erhaltung und Stärkung des Lebens ein nothwendiges Erforderniß sei, ohne welches der Mensch nicht bestehen, nichts ertragen, nichts vollbringen könne.

Es wäre sehr wünschenswerth und wichtig, zu wissen, wie viel Branntwein alljährlich erzeugt und consumirt worden ist. Mit Genauigkeit läßt sich aber die Quantität [4] nicht feststellen, da die Steuer-Controle, die hier allein einen Anhalt geben und zum Grunde gelegt werden kann, nur auf die Maischung und nicht auf den Alkohol gerichtet wird. Deßhalb ist nur eine approximative Rechnung möglich, aus der jedoch unzweifelhaft hervorgeht, daß während der lezten fünf und zwanzig Jahre die Production im Allgemeinen höchst bedeutend gestiegen ist. Im Jahr 1819 betrug im Regierungsbezirk Oppeln die Menge des versteuerten Branntweins nur wenig mehr als zwei Millionen Quart[WS 1], im Jahr 1825 schon über fünf Millionen. Nach den amtlichen Angaben, die ich der Güte des Herrn Provincialdirectors der Steuern verdanke, war jene Menge im Jahr 1830 auf sieben, im Jahr 1832 auf neun Millionen Quart gestiegen, und vergrößerte sich noch im Jahr 1839 bis über elf Millionen. Seit vierzehn Jahren hat überhaupt das Verhältniß zwischen sieben und elf Millionen geschwankt, und im Jahr 1842 sind 9,254,568, im Jahr 1843 aber noch etwas mehr, nämlich 9,686,664 Quart Branntwein versteuert worden. Diese Berechnung erlaubt aber keinen sichern Schluß auf die wirklich stattgefundene Production, und ist in Bezug auf diese ohne allen Zweifel viel zu gering. Nach der gesetzlichen Annahme soll das Quart Branntwein zu 50% (Tralles[WS 2]) mit einem guten Groschen besteuert werden; man wird aber nach dem Urtheil der Sachkundigen wenig irren, wenn angenommen wird, daß für das Quart nur ein Silbergroschen Steuer gezahlt worden, obgleich in einzelnen [5] Fällen sich ergeben hat, daß doppelt so viel Alkohol gewonnen wurde, als nach der gesetzlichen Annahme gewonnen werden sollte. Hiernach würde z. B. der Branntweingewinn des Jahres 1839 nahe an 14,300,000 Quart betragen, und die dafür gezahlte Steuer von nur 475,433 Thalern hätte sich noch beträchtlich vergrößern sollen.

Noch schwieriger ist es, nachzuweisen, wie viel Branntwein getrunken worden ist. Da indeß noch bedeutende Quantitäten im freien Verkehr nach Oberschlesien gelangten, und diese das Gleichgewicht den Mengen halten, welche ausgeführt und zu andern Zwecken, als dem Genuß, benutzt wurden, so nimmt die Steuerbehörde an, daß der Consumtion wohl das ganze producirte Quantum zugefallen sei, und im Durchschnitt der lezten vierzehn Jahre etwa elf Millionen Quart Branntwein (zu 50% Tralles) alljährlich getrunken sein mögen, vielleicht in der ersten Hälfte jenes Zeitraumes etwas weniger, in der zweiten aber mehr, so daß auf den Kopf der Bevölkerung jährlich und durchschnittlich zwölf Quart zu rechnen wären. – Zufolge einer allgemeinen Angabe, die mir früher übertrieben vorkam, soll es im Jahr 1840 in der gesammten Preußischen Monarchie 54,733 Branntweinschänken gegeben haben, und auf jeden Kopf der Bevölkerung ein Quantum von 12 bis 151/2 Quart Branntwein gekommen sein. Dieses Verhältnis scheint mir in Beziehung auf Oberschlesien jetzt um so richtiger zu sein, je mehr ich hier die unläugbar größere Zahl der Betrunkenen, [6] und die der Schänkstätten in Erwägung ziehe. Diese können in drei verschiedene Classen abgetheilt werden. Zur ersten gehören die Wirthschaften, welche die Gutsherren auf ihren mit dem Schankrecht versehenen Grundstücken, und öfters auch auf gleichberechtigten Rustical-Besitzungen durch Pächter und Verwalter betreiben lassen; zur zweiten sind die concessionirten Schänken zu rechnen, die das Geschäft in nicht geringerem Umfange treiben, und eine dritte Classe bilden die Winkelschänken, welche von Hökern, Victualienhändlern und Krämern der verschiedensten Art gehalten werden. Hiernach ist zu begreifen, daß in mancher kleinen Stadt das vierte oder fünfte Haus einen Credenztisch enthielt, und allein auf dem Wege von Gleiwitz nach Königshütte (auf drei Postmeilen) mehr als fünfzig Branntweinschänken entstanden waren. In den Gegenden, wo der Bergbau getrieben wird, gaben die Schänkwirthe nicht allein Branntwein, sondern auch Lebensmittel auf Credit, und durch diesen hauptsächlich bildete sich ein System von Abhängigkeit aus, bei welchem die Arbeiter fast gänzlich in die Hände jener Menschen gegeben waren. Der Lohntag war zugleich der Zahltag; von dem verdienten Gelde wurde der Schänker befriedigt, und jede Woche oder jeder Monat mit neuen Schulden angefangen. Die Qualität des verkäuflichen Branntweins war in der Regel schlecht, da der Brenner wegen der Art der Besteuerung so viel als möglich in der kürzesten Zeit zu produciren suchte, mithin durch [7] die übereilte Destillation eine Menge von rohen betäubenden Stoffen (Fusel) in das Getränk überging, und dieses auch im Kleinhandel nicht selten durch Schwefelsäure, spanischen Pfeffer und andere Dinge geschärft und noch mehr verdorben wurde.

Ich habe nicht nöthig, hier alle Uebel aufzuzählen, die aus dem Taumelkelch wie aus der Büchse Pandora’s hervorgegangen sind. Keine Feder ist im Stande, auch nur den Jammer und die Mißhandlungen der unglücklichen Weiber und Kinder zu schildern, deren Gatten und Väter Trunkenbolde gewesen. Die vielfachen Zerrüttungen der Seele und des Leibes, des Wohlstandes und des Familienlebens, die Verschlimmerung der Sitten und die hieraus entstandenen Laster und Verbrechen, die tiefe Entwürdigung, das ganze unermeßliche Elend konnte von jedem Sehenden beobachtet werden; wenngleich das Auge, selbst des Menschenfreundes, bei dem immer gleichen Anblick durch lange Gewöhnung abgestumpft wurde. Nur über Einiges, wobei mein Beruf und mein Geschäft zunächst betheiligt waren, mögen hier einige Worte folgen.

Es leidet keinen Zweifel, daß in Oberschlesien ein nicht unbeträchtlicher Theil der jetzigen Generation im Zustande der Trunkenheit gezeugt, und schon im Mutterleibe durch Branntwein vergiftet worden ist. Das allgemeine Naturgesetz, wonach der Apfel nicht weit vom Stamme fällt, obgleich mit vieler Einschränkung zu verstehen, wird ohne weitere Bemerkung erkennen lassen, daß ein solcher [8] Ursprung keine gleichgültige Sache ist. – Die Geburt eines Kindes war kaum vorüber, als die Mutter reichliche Dosen Branntwein empfing, die in den meisten Fällen ohne auffallenden Nachtheil vertragen wurden, in andern zu einer tödtlichen Entzündung führten, oder den Tod beschleunigen halfen. Es mag unglaublich scheinen, ist aber eine bekannte Thatsache, daß sogar Säuglinge, außer der spirituösen Muttermilch, zuweilen noch mit reinem Schnaps getränkt worden sind. Die aufwachsenden Kinder nahmen mehr oder weniger Theil an den Genüssen ihrer Eltern; der natürlichen Fröhlichkeit der Jugend mischte sich frühzeitig wilde Sinnenlust bei, und die so häufigen Tanz- und Trinkgelage waren nicht nur der nächste Weg zum sittlichen Untergang, sondern veranlaßten auch am häufigsten die Mittheilung und Verbreitung von Krankheiten der verschiedensten Art. Der Branntwein galt überdies als Universalmedicin, und selten wurde von den Landleuten ärztliche Hülfe angesprochen, wenn nicht zuvor die Hauspanacee – innerlich, äußerlich, rein oder mit andern Dingen gemischt – von den Kranken versucht worden war. Die verschiedensten Leiden wurden auf gleiche Weise curirt, und wie Viele sich durch solche Behandlung geschadet, wie Viele, besonders Kinder, bei Entzündungen, hitzigen Fiebern und Hautausschlägen, z. B. bei Scharlach und Masern, zu Grunde gegangen, dies ist vollständig Gott allein, den Aerzten nur zum Theil bekannt. Außer den Krankheiten, die der Branntwein accessorisch verschlimmert, [9] oder für immer gehoben hat, gab es eine Reihe von anderen, deren Entwickelung und Wirkung er allein und primitiv hervorgebracht. Von dem Uebelsein, welches mit Umnebelung des Kopfes, mit Magen- und Verdauungsbeschwerden, Unlust und Ermattung, Kolik und Zittern verbunden ist, bis zum vollendeten Säufer-Wahnsinn (delirium potatorum), der jedoch merkwürdiger Weise viel häufiger in den Städten als auf dem Lande vorgekommen, gab es eine Menge von Graden und Varietäten, aus welchen ein Arzt der naturhistorischen Schule mit Leichtigkeit besondere Krankheitsspecies hätte machen können. Anders waren die Erscheinungen des Todes bei dem Kinde, das in Folge einer Branntweinvergiftung unter Krämpfen dahinschied; anders bei dem thörichten Wüstling, der im Wettkampf mit seinen Gesellen sich apoplektisch zu Tode soff; wiederum anders bei den Vielen, welche trunken im Schnee auf freiem Felde erfroren, und bei Jenen, die, berauscht in Flüsse, Bäche oder Teiche gefallen, durch Feuer und Wasser zugleich um’s Leben kamen. – Nicht wenige Krankheiten, die sonst bei andern Menschen zur Genesung führen, nahmen bei Branntweintrinkern einen schlimmen Verlauf, und zu einer Menge von chronischen Uebeln, vorzüglich des Unterleibes, obgleich sie oft spät erschienen und andern Ursachen zugeschrieben wurden, hatte der Branntwein den ersten Grund gelegt.

Aus derselben Quelle entsprangen auch die unzähligen Schlägereien, Zwiste und blutigen Händel, bei welchen [10] von den Betrunkenen die gröbsten Excesse begangen, Wunden und andere Verletzungen beigebracht, schwere Mißhandlungen, ja Todtschläge verübt, und unaufhörliche Untersuchungen und Processe veranlaßt wurden. In jedem Orte, so äußerte sich der Landrath eines Kreises, möchte ein Gensdarmes die Aufsicht über die Schänken führen, und zwei Landräthe hätten zu thun, um die angezeigten Excesse zu untersuchen und zu strafen. – Nicht zu gedenken Derjenigen, die bei solchen Gelegenheiten körperlich verlezt und elend verstümmelt wurden, so muß in der statistischen Uebersicht des Regierungsbezirkes die Rubrik der sogenannten „Unglücksfälle“ (wobei die schnell tödtlichen Krankheiten, Stick- und Schlagflüsse, so wie die Selbstmorde ausgeschlossen sind) zum großen Theil der Trunksucht beigemessen werden. Diese trägt hauptsächlich die Schuld, daß hier alljährlich so viele Menschen durch gewaltsame Hand, durch Erfrieren, Ertrinken, Ersticken, Verbrennen, Stürzen u. s. w. ihr Leben verloren, so daß im Jahr 1843 nicht weniger als 451 „Unglücksfälle“ sich ereigneten, und unter 33,276 Gestorbenen der 74ste an einem solchen Unglücksfall starb. (Im Jahr 1831 starb auf diese Weise der 86ste, und kamen 302 solcher Fälle unter 26,925 Gestorbenen vor.) Der Branntwein hat auch ohne Zweifel nicht wenig dazu beigetragen, daß in demselben Jahre 322 Mütter im Wochenbett gestorben, unter den 40,578 Geburten 1211 Kinder todt geboren, und 50 Selbstmorde begangen worden sind. Schon längst [11] ist mit Befremden wahrgenommen worden, daß die Zahl der gewaltsamen Todesarten in Oberschlesien nach Verhältniß die in andern Regierungsbezirken weit übertraf; ich glaube aber nicht zu irren, wenn ich nach den mir vorliegenden Obductionsberichten annehme, daß mindestens ein Drittheil der Todtschläge in der Trunkenheit begangen worden, und ein zweites Drittheil nur die entferntere Folge der durch den Branntwein angerichteten Zerrüttung und Verwilderung gewesen ist.

Die tiefste Versunkenheit, zugleich mit ihren häufigsten und sichtbarsten Folgen, herrschte in den südöstlichen Kreisen, wo der Gegensatz von Reichthum und Armuth am grellsten hervortritt, die Gelegenheit und Noth den Landmann mehr und mehr seiner ursprünglichen Bestimmung entfremdet und dem Berg- und Hüttenwesen zugeführt haben, wo in Gruben und Schachten, auf Werken und Straßen Tausende mit dem Gewinne, Bearbeiten und Fortschaffen der Erze und Steinkohlen beschäftigt sind. Die Leichtigkeit des Erwerbes schien dort nur dazu beizutragen, die Menschen noch ärmer und trunkener zu machen. Besonders war dieses bei der ungemein zahlreichen Classe der Arbeiter und Fuhrleute (Vecturanten) zu bemerken, die ich fast niemals wiedersehen konnte, ohne eine Art von Schauder zu empfinden. Fast täglich betrunken, und beständig im Dusel und Fusel lebend, verlor ein solcher Mensch mit dem Bewußtsein seines Zustandes nicht allein das Vermögen der Voraussicht, durch welches der [12] Europäer sich von den Wilden unterscheidet, sondern auch die Vorsorge um seine Familie, die er ihrem Schicksal überließ. Es konnte nicht fehlen, – die rohe, fast thierische Lebensweise mußte bald in der äußern Erscheinung der Säufer, in Ausdruck, Haltung und Kleidung auf eine so abschreckende Weise sich darstellen, daß Fremde in diesen verkommenen, schmutzigen und zerlumpten Menschengestalten eine absonderliche Race zu erblicken glaubten, oder sie geradehin für Paria’s erklärten.

Seit zwanzig Jahren im Lande, und mit der Sorge für das allgemeine Gesundheitswohl beauftragt, habe ich selten eine Woche verlebt, in welcher nicht traurige Folgen der Trunksucht zu meiner Kenntniß und Wahrnehmung gelangten. Man erwäge, mit welcher schmerzlichen Ironie die Sanitätspolizei ihre Wirksamkeit betrachten, oder vielmehr ihre Ohnmacht beklagen mußte, einem Krankheitszustande gegenüber, der ungehemmt sich immer furchtbarer entwickeln durfte, und der menschlichen Einwirkung schon völlig entrückt zu sein schien! Wie kleinlich nahmen sich dagegen die Bemühungen aus, wenn zur Verhütung anderer Vergiftungen, die sich höchst selten und nur bei einzelnen Individuen ereignen, hier die Glasur eines Topfgeschirres, dort eine Essigprobe oder Tabakssauce untersucht, oder die Schränke einer Apotheke, oft ohne allen Verdacht, besehen wurden, während täglich ohne Hinderniß das größte und allgemeinste Gift sich Tonnenweise in den Schlund der Bevölkerung ergoß, und wie ein Dämon [13] aus dem dritten Höllenkreise Tausende moralisch und physisch verdarb,

„per la dannosa colpa della gula.“[WS 3]

Also diesen Verderber vor Augen und nach Mitteln forschend, durch welche seine Macht zu beschränken wäre, glaubte auch ich das Heil in einer zweckmäßigen Volksbelehrung, so wie in gewissen der Regierung zu machenden Vorschlägen zu finden, und war schon i. J. 1828 im Begriff, die Masse der Branntweinschriften um eine neue zu vermehren. Die Herausgabe wurde indeß verzögert, und unterblieb endlich ganz, nachdem längere Erfahrung und weiteres Nachdenken mich belehrt hatten, daß Bücher bei dieser Sache von keiner erklecklichen Wirkung sind. Die Mäßigkeitsvereine, in der Weise, wie sie uns von Norden her empfohlen wurden, hatten auch in der That keinen ernsten Erfolg. Ohne ein Gegner dieser menschenfreundlichen Anstalten zu sein, hielt ich sie doch für viel zu kraftlos gegen ein Uebel wie das unsrige, und blieb auch noch ungewiß darüber, ob nicht die plötzliche Entziehung des einzigen und lang gewohnten Reizmittels bei vielen hauptsächlich von Kartoffeln lebenden Menschen andere Nachtheile für die Gesundheit herbeiführen werde, zumal da ein Ersatz des bisherigen Getränkes durch ein besseres sobald nicht zu erwarten war.

Wer noch zu Anfang dieses Jahres (1844) den Zustand des oberschlesischen Volkes betrachtet, die Größe und Summe des ganzen durch den Branntwein entstandenen [14] Unglücks erwogen, und dabei einerseits die Schwäche der menschlichen Natur, den Stumpfsinn und die Gebrochenheit des Willens, so wie andererseits die unwiderstehliche Macht der Gewohnheit und Leidenschaft, und die unzähligen Gelegenheiten und Anlasse zur Verlockung und Befriedigung des sinnlichen Triebes gewürdigt hatte, der mußte vernünftiger Weise eine langsame Veränderung dieses Zustandes kaum für wahrscheinlich, eine schnelle für unmöglich halten. Die Kanzelredner und Beichtväter hatten es von jeher an Ermahnungen nicht fehlen lassen, und besonders zu gewissen Zeiten mit großem Nachdruck, im Ganzen aber vergebens wider die Trunksucht geeifert; die Philanthropen waren noch weniger im Stande gewesen, sich Gehör zu verschaffen, und die Polizei hatte vollauf mit den Verwüstungen des reißenden Stromes zu thun, vermochte aber diesen weder einzudämmen noch in seinen Quellen zu verstopfen. Der Unterricht in den Schulen, die unentgeldliche Vertheilung von Branntweinschriften, unter welchen die vom Pastor Liebetrut hier auch in’s Polnische übersezt worden war, das Posener Centralblatt für die Enthaltsamkeitssache, und selbst die wirklichen in zwei oder drei Städten etablirten Mäßigkeitsvereine, die nur aus wenigen und meistens nüchternen Mitgliedern bestanden, hatten nichts gefruchtet, und leztere sich bald wieder aufgelöst. Was konnte die Regierung thun? – Es wäre eben so thöricht, ihr die Macht zur Vertilgung eines solchen Uebels zuzumuthen, als es ungerecht wäre, sie für [15] die Entstehung und Zunahme desselben verantwortlich zu machen. Der Umfang und die Tiefe des Schadens ist von ihr erkannt, und gründliche Untersuchungen sind deßhalb angestellt worden, besonders in den lezten Jahren, als des Königs Majestät darüber Vorschläge verlangte, wie den Nachtheilen des Branntweintrinkens zu begegnen sei. Uebrigens wird es der Regierung Niemand verdenken, wenn sie noch zu Anfang dieses Jahres sich zu der Ansicht bekannte, daß Mäßigkeits-Vereine hier nicht helfen können, weil dieselben, das Bedürfniß des gemeinen Mannes übersehend, den Genuß geistiger Getränke gänzlich auszurotten streben, und eben hierdurch ihren etwaigen Einfluß noch mehr verringern. Im Allgemeinen hatten alle bisherigen Mühen und äußern Veranstaltungen sich erfolglos gezeigt.

Nur ein außerordentlicher Hebel, eine höhere geistige Dynamik vermochte hier noch rettend zu wirken, und eine solche, man möge sie Nachahmung, Wunder, Begeisterung oder Fanatismus nennen, hat wider alles Erwarten sich in Bewegung gesetzt, und ohne verhältnißmäßige Anstrengung den Riesenfeind zu Boden geworfen. Binnen sechs Monaten hat in dem polnischen Oberschlesien das Volk sich selbst überwunden, der Monarch vernünftige, zur Sitte und Zucht zurückgekehrte Unterthanen gewonnen, und die Kirche einen eben so seltenen, als herrlichen Triumph gefeiert. – Wodurch ist ein so unverhofftes und folgenreiches Ergebniß herbeigeführt worden? Wie ist es dabei zugegangen? [16] Was ist geschehn und ausgerichtet? – Wenn man diese höchst interessanten Fragen stellt, so erhält man gewöhnlich die richtige aber sehr oberflächliche Antwort, daß die Leute in Folge einer noch niemals dagewesenen Aufregung, deren Träger und Leiter der katholische Klerus gewesen, dem Branntweintrinken abgesagt haben. Aber von dem Ursprung und Wesen dieser Bewegung, von den Mitteln und Wegen ihrer Fortpflanzung, von ihrem Umfange und der Bedingung ihrer Wirksamkeit wissen nur Wenige etwas Gründliches zu sagen; Vielen sind darüber die wunderlichsten Gedanken in den Kopf gestiegen, und die Klügsten haben die Begebenheit am wenigsten begriffen.

Es ist bekannt, wie schief die Sache im Anfange beurtheilt, und welche unlautere Motive und verwerfliche Mittel ihr angedichtet wurden. Anstatt aber mich jezt noch auf unnütze Widerlegungen einzulassen, oder alle Ansichten Derer zu berichtigen, die es vorzogen, viel lieber bei den abgeschmacktesten Vermuthungen zu beharren, als Gott und seinen Dienern die Ehre zu geben, will ich mich an die Thatsachen halten, wie sie mir aus den ersten und besten Quellen, und zum Theil aus eigener Anschauung, bekannt geworden, und dabei nur einige erläuternde Betrachtungen mit einfließen lassen. Es ist nicht meine Schuld, wenn die Erzählung nicht Allen gefällt; es ist sogar, nicht unmöglich, daß die endemische Branntweinpest mir noch zum lezten Abschied denselben schlimmen Leumund und Jammer bereitet, welchen weiland die Cholera und das [17] noch immer nicht gründlich geheilte Siechthum der Schulen mir angethan haben. Diese Krankheiten sind nun einmal sehr bösartig, und eben so, wie die Meinungen darüber, höchst complicirter Natur. Indessen hoffe ich den Freunden der Wahrheit, vorzüglich einigen frommen Correspondenten der Breslauer Zeitungen, einen erwünschten Dienst zu leisten, indem ich ihnen zu ihrer „Branntweinmystik“ einen Beitrag in die Hände spiele, wie sie bis jezt noch keinen erhalten haben.

[18]
II.

Nach einer beliebten und wirklich sehr nüchternen Erklärung ist es mit dem Triumph der Enthaltsamkeit in Oberschlesien ganz natürlich zugegangen: Ein Zeitungsartikel, obgleich unausführbare Vorschläge enthaltend, hat dazu den ersten Anstoß gegeben, indem er Veranlassung wurde, daß mehrere Geistliche sich mit einander besprachen, und aufs Neue wieder anfingen, auf der Kanzel und bei andern Gelegenheiten das Volk zur Nüchternheit zu ermahnen. Ein Pfäfflein von dem betreffenden Kreislandrath im Monat März dazu besonders aufgefordert, hat den Anfang gemacht; die Andern sind ihm nachgefolgt. Glücklicher Weise hatte der Erste von auswärtigen Mäßigkeits-Vereinen nähere Kenntniß erlangt, und konnte sich des Beistandes eines polnischen Franciscanermönchs bedienen, der, mit natürlicher Beredsamkeit begabt, die Leute auf eine geschickte Weise zu bearbeiten verstand. Gewöhnlich [19] wurde in jedem Kirchspiel einige Sonntage nacheinander, hier und da auch an Werktagen, über das Laster der Trunkenheit gepredigt, und zulezt das Volk aufgefordert, durch ein feierliches Versprechen vor dem Altar dem Genuß des Branntweins zu entsagen. Jeder Gelobende wurde mit einem gedruckten Zettel entlassen, welcher außer dem Bildchen der Madonna und einem mysteriösen Titel, in dem die Worte „Mariä Lichtmeß“ vorkamen, das mit dem Namen des Mitgliedes versehene Gelöbnißformular, so wie einige passende Bibelstellen und kräftige Sittensprüche enthielt. Die ersten Versuche fielen so günstig aus, daß immer mehrere Pfarrer und Capelläne, natürlich im Einverständniß und mit Beihülfe der Kreis- und Ortsbehörden, sich bestrebten, auf dieselbe Weise dem Laster der Trunksucht entgegenzuwirken. So entstand ein Wetteifer, der, immer weiter um sich greifend, nach wenigen Monaten dahin führte, daß ein Betrunkener fast nirgend mehr zu sehen war. Es wäre jedoch ein großer Irrthum, wollte man eine so merkwürdige Veränderung allein dem katholischen Klerus vindiciren. Der Trieb zur Nachahmung, der immer um so stärker hervortritt, je niedriger die Stufe der Intelligenz und Bildung ist, auf welcher ein Volk stehen geblieben, hat dabei wesentlich mitgewirkt. Die Geistlichen haben durch Verheißung des ewigen Lebens und Androhung des höllischen Feuers diesen Trieb zu verstärken und die abergläubischen Menschen noch mehr zu bewegen gewußt. Die Trunksucht war überdies zum Extrem [20] gediehen, und ihre zerstörenden Folgen lagen schon lange so sichtbar vor Augen, daß man sich nicht wundern dürfte, wenn endlich das Volk des beständigen Branntweintrinkens überdrüßig geworden wäre. –

Diese Erklärung, nach welcher die so schnell bewirkte Enthaltsamkeit hauptsächlich durch Beispiel und Nachahmung entstanden ist, erinnert mich unwillkürlich an eine andere, die im vorigen Jahrhundert der alte Gatterer zu Göttingen[WS 4] im zweiten Hauptstück seiner Einleitung zur Universalhistorie über den Ursprung der Sprache gab: – Adam, noch allein im Paradiese stehend, hörte das Geschrei der Thiere, sah zugleich die Gestalten und Bewegungen derselben, und gelangte durch diesen sinnlichen Eindruck zu den Tönen und Namen, mit welchen er die Creaturen bezeichnete. Er erblickte z. B. das Schaaf, und hörte es blöken; er blökte nach, und dieser nachgeahmte Ton konnte sofort der Name des Schaafes (ein Onomatopoeticon) werden. Die neu geschaffene Gattin kommt hinzu, und es entsteht zwischen den ersten Stammeltern ein pantomimisches Gespräch, vermischt mit einsylbigen Lauten, die der Gatte aus bisherigen Hebungen schon mit einiger Fertigkeit hervorbringen kann, und nun auch Eva von ihm lernt. In Kurzem wird aus solcher Bemühung die Sprache einer ganzen Familie, dann mehrerer Familien, und kommt somit als Muttersprache auf die Nachkommenschaft. – Credat Judaeus Apella!.

Auch ich bin der Meinung, daß die Geistlichen insgesammt [21] das Werk einer solchen Wiedergeburt ihrer Gemeinden nicht allein und aus eigener Kraft bewirken konnten; ja der beste Theil des Klerus ist selbst davon auf das Innigste überzeugt, daß ihm nicht die Ehre eines Erfolges gebühre, der seine eigenen Hoffnungen weit überstieg und über welchen er selbst mit aller Welt in das gerechteste Erstaunen gerieth. Es ist eben die Größe dieses Erfolges, den sogar höchst aufgeklärte Personen nicht umhin können, als wunderbar und außerordentlich zu bezeichnen, welche in keinem Verhältniß zu den angewendeten Bemühungen und Mitteln steht, und deßhalb durch diese auf eine befriedigende Weise eben so wenig, wie das Geheimniß der Sprache durch Nachahmung thierischer Laute zu begreifen ist. Offenbar hat dabei Einer dem Andern geholfen, Einer ist durch den Andern angeregt und so die Sache, bei welcher nicht einmal eine gemeinsame Berathung stattgefunden, allmählig verbreitet worden. Aber wodurch ist diese Anregung und Fortpflanzung bewirkt, und was hat eigentlich das Volk bewogen, das ihm gegebene Beispiel nachzuahmen? – That is the question!

Selten geschieht es, daß ein Mensch von einem lang genährten Laster und Irrthum sich plötzlich und vollständig befreit; so selten, daß jede wahre Bekehrung für ein Wunder, und nur durch Gottes besondere Gnade für möglich gehalten wird. Ein Jeder greife in die eigene Brust, und frage sich selber, ob es ihm so leicht gelingen werde, einer zur Gewohnheit gewordenen Leidenschaft sofort und [22] auf immer zu entsagen, zumal wenn diese Leidenschaft sich überdies durch eine physische Nöthigung verstärkt, und im eigentlichen Sinn bereits zu einer zweiten Natur geworden ist. Wer aber die Trunksucht kennt, der weiß auch, daß sie unter den Feinden, die der Mensch in seinem Innern bergen und ernähren kann, eine der grausamsten Bestien ist, mit welcher im Kampfe am häufigsten sogar der Starke unterliegt. Gab es doch Manche, und unter diesen auch Seelsorger und Aerzte, welche die Bekehrung eines Säufers kaum für möglich hielten, weil ihnen selbst in ihrem Leben von einer solchen nicht ein Beispiel vorgekommen. Wenn nun unter uns nicht zehn oder zwanzig, nicht hundert oder tausend, sondern viele Tausende fast gleichzeitig den Banden dieses Dämons sich entrissen, und fest der ferneren Versuchung widerstehen, also den schwersten und schönsten Sieg, den je ein Mensch gewinnen kann, den Sieg über sich selbst erringen, so ist dies ein Phänomen, zu welchem ein gleiches in der Geschichte des europäischen Continentes noch gefunden werden soll, und dessen Ursache nicht im bloßen Predigen und Versprechen, Ermahnen und Schreiben, nicht in einer blinden, fast bewußtlosen Nachahmung, am allerwenigsten in polizeilichem Verfügen und Einschreiten gesucht werden darf.

Man wende nicht ein, daß der Klerus sich ungewöhnlicher Mittel bediente, um auf das Volk zu wirken. Die Mittel waren wesentlich dieselben, deren sich die Kirche auch sonst zur Besserung der Sünder bedient, nur in der [23] Anwendung den Umständen angepaßt, und auf den besonderen Zweck mit einem Eifer gerichtet, der nur deßhalb sich wirksamer und allgemeiner als früher gezeigt hat, weil er selber erst durch den zunehmenden Erfolg hervorgerufen, gesteigert und verbreitet worden ist. Hat aber der Klerus nicht den Beichtstuhl gemißbraucht? Hat er nicht durch Vorenthaltung der Gnadenmittel, durch Verweigerung der Absolution, durch Androhung der ewigen Verdammniß seinen Zweck erreicht? – So ist nicht allein gefragt und vermuthet, sondern auch geradehin behauptet worden. – Ich zweifle nicht im mindesten, daß einzelne Seelsorger auch während dieser großen Mission in den Fall gekommen sind, manchen verstockten Sünder die Schlüsselgewalt fühlen zu lassen; es ist aber wenig Kenntniß, und durchaus kein Scharfsinn vonnöthen, um die Absurdität jener Behauptung einzusehen. Nicht der dritte, kaum der vierte Theil der Vereinsglieder hat Gelegenheit gefunden, vor dem Gelöbniß zur Beichte zu gehen; die Geistlichen hatten mit den Predigten, mit der Aufnahme der andringenden Menge, mit dem Einschreiben in’s Vereinsbuch, mit dem Ausfertigen und Vertheilen der Gelöbnißscheine so viel zu thun, daß ihnen keine oder nur wenig Muße übrig blieb, sich außerdem noch mit dem Seelenzustande jedes Einzelnen zu beschäftigen. Nur da, wo die Bewegung zufällig mit der österlichen Zeit, oder mit besondern Festen zusammentraf, mußte es möglich gemacht werden, auch in dieser Hinsicht den freiwillig Kommenden Genüge [24] zu thun. Nirgend ist die Beichte als nothwendige Bedingung zur Zulassung in den Verein erklärt, und Niemand ist zur Enthaltsamkeit gezwungen worden. Ja hätten auch Alle zuvor das Bußsacrament empfangen können: die allgemeine und schnelle Bekehrung würde dadurch noch nicht begreiflicher sein. Denn Beichtstühle haben im Lande seit der Einführung des Christenthums bestanden, und da die Völlerei zu den sieben Todsünden gehört, so mußte sie als ein hier einheimisches Laster nothwendig ein Hauptgegenstand der Selbstanklage sein, und keinen Priester wird es geben, dessen Ermahnungen und Censuren nicht vielfach und lange schon die Trunksucht betroffen hätten.

Wenn aber selbst die Thränen der Buße und die an heiliger Stätte so oft gefaßten Vorsätze die Rückkehr zur Sünde nicht verhindern konnten, so wird es wohl das feierliche Gelöbniß oder die Abschwörung gewesen sein, durch welche dem Volke die Nüchternheit aufgedrungen wurde. – Allein die größte und die ganze Kunst hat eben darin bestanden, den Willen der Menschen zu bewegen und bis zur Abschwörung zu bringen; diese selbst ist nur das Bekenntniß des vorausgegangenen Entschlusses, das Siegel unter dem Contract, und schon die erste Frucht eines neu angefangenen nüchternen Lebens, nicht aber dessen Grund gewesen. Also wird auch in dem papiernen Denkzettel, den Jeder nach abgelegtem Versprechen aus der Hand des Priesters empfing, die ursprünglich bewegende Kraft mit Nichten zu suchen sein, und Keiner wird in diesem Gelöbnißschein [25] etwas Anderes erblicken, als ein Zeichen der Erinnerung, welches, im Gebetbuch aufbewahrt, zur Treue und Beharrlichkeit auch für die Zukunft mahnen und ermuntern soll. Freilich wird nicht Jeder das Gedruckte lesen können, aber das Bildchen, welches der Zettel an der Stirne trägt, wird sicherlich von Allen verstanden werden, und selbst dem Aermsten im Geiste die Bedeutung nicht fremd geblieben sein.

Ich will nicht läugnen, daß der Ritus bei der Aufnahme mit einer tiefen Kenntniß des Charakters unserer slavischen Bevölkerung angeordnet, und besonders durch die öffentliche Bezeugung von heilsamem Einfluß gewesen sei; allein man muß sich hüten, diesem äußerlichen und dabei sehr einfachen Verfahren eine zu große Wichtigkeit beizulegen. Abgesehen davon, daß man den Zutritt schon als eine Wirkung, nicht aber als das Motiv der erfolgten Sinnesänderung zu betrachten hat, so ist es gewiß keinem Katholiken begegnet, jenem Act der Aufnahme die Kraft und Würde eines Sacramentes beizulegen, oder, wenn es möglich wäre, darin noch etwas Höheres als selbst die Beichte und das Abendmahl zu erblicken. Nicht immer konnte genau nach jener Weise verfahren, und bei großem Gedränge oder während des Gottesdienstes mußte oft das Gelübde in der Sacristei oder an andern Orten abgenommen werden. Die Wirksamkeit der Sache ist überhaupt nicht wesentlich von dem dabei üblichen Verfahren bedingt gewesen, und nirgend hat sich diese Beobachtung [26] deutlicher herausgestellt, als in einigen Gegenden, wo das Predigen und die Abnahme des Versprechens noch gar nicht stattgefunden hatte, und dennoch die Trunksucht bei dem bloßen Herannahen der Bewegung gleichsam von selbst und ohne alles Zuthun der Pfarrer schon beträchtlich nachzulassen schien.

Diese nicht zu bezweifelnde Thatsache hat zu der Vermuthung geführt, daß im Volke schon vor dem Eintritt des großen Ereignisses eine gewisse Hinneigung zur Enthaltsamkeit vorhanden gewesen, die nur durch den späteren Impuls von Seiten der Geistlichkeit vermehrt worden sei. Gewiß mögen nicht Wenige den unglücklichen Zustand, in welchen sie die Trunksucht gebracht hatte, zu manchen Zeiten eingesehn und aufrichtig beklagt haben; die Stimme ihres Gewissens und auch wohl ihres Beichtvaters mag oft genug zum Herzen gesprochen, an guten Wünschen und Vorsätzen mag es auch nicht gemangelt haben; und obwohl der Branntwein die Klarheit des Geistes zu verdunkeln pflegt, so mögen doch Manchem die augenscheinlichen Vortheile eines nüchternen Lebens zu nahe gelegen haben, um sie nicht wahrzunehmen, und selbst darnach Verlangen zu tragen. Allein es ist nicht minder gewiß, daß zur Erfüllung solcher Wünsche und Vorsätze in der Regel dem Willen die Kraft, und der Natur die Folgsamkeit gefehlt und vor der neuen Botschaft das Branntweintrinken im Ganzen nicht merklich abgenommen hatte.

[27] Wenn man die Trunksucht nach ihren Eigenschaften und Wirkungen betrachtet, die in der Seele wie im Leibe des Menschen sich offenbaren, so wird man in ihr ein Doppelwesen erkennen, das eben sowohl ein Laster als eine Krankheit ist, mithin in Bezug auf den Willen eine Bekehrung, in physischer Hinsicht eine Genesung erfordert, einerseits also durch moralische und religiöse Mittel, andererseits durch eine veränderte Diät, und zuweilen auch mit Zuziehung von Arzneien zu heben ist. Ein fester Entschluß ist immer die erste und die Hauptbedingung; er kann der Versuchung widerstehn, und selbst die widerstrebende Natur bezwingen. Bekanntlich sind jedoch vernünftige Vorstellungen und moralische Betrachtungen, sogar bei gebildeten und willenskräftigen Personen selten genügend, einen solchen Entschluß hervorzubringen, und eine Entwöhnung herbeizuführen; wer aber unsere slavischen Landleute kennt, wird unschwer einsehen, daß bei einem Laster, gegen welches die von ihnen als die heiligste Autorität verehrte Macht der Kirche so viele Jahre nur mit so schwachem Erfolge gekämpft, die bloße Sittenpredigt und alle Berechnungen und Reflexionen des Verstandes noch viel erfolgloser sich erweisen mußten. – Wollte man das Uebel nur als eine Krankheit betrachten, und ihr schnelles Umschlagen in Enthaltsamkeit etwa für eine nach natürlichen Gesetzen geschehende Umkehrung zweier entgegengesezter Pole halten, oder als eine Krisis gelten lassen, bei welcher das herstellende Princip des Lebens über das [28] zerstörende des Todes siegt, und ein Extrem das andre selbst hervorruft, so müßte auch eine solche Analogie als völlig unpassend zurückgewiesen werden, sobald man sich nur erinnert, daß die Trunksucht kein schnell verlaufendes Fieber, sondern in Wahrheit ein chronisches Leiden darstellt, bei welchem eine eigentliche Krisis im pathologischen Sinne nicht stattfinden kann. Nach meiner Erfahrung ist auch eine physische Uebersättigung noch niemals im Stande gewesen, einen Säufer zu bessern, weil eben Keiner des Branntweins auf diese Weise überdrüßig geworden. Beispiele vom Gegentheil werden sich kaum an Individuen, geschweige an einer großen Volksmenge nachweisen lassen. Es hat sich überhaupt noch niemals ereignet, daß ein ganzes Volk durch rein verständige Vorstellungen und physische Mittel von der Trunksucht befreit worden wäre. Um daher den Ursprung, die Kraft und den Fortgang des außerordentlichen Phänomens in Oberschlesien zu verstehen, reichen jene gesuchten Erklärungen nicht aus; mit trivialen oder oberflächlichen Gründen befriedigt sich kein denkender Geist, und die Erfahrung steht ihnen nicht zur Seite, denn sie hat früher nichts Aehnliches dargeboten. Eine höhere Potenz muß diese Sache beherrscht, und ihren Fortschritt gesichert haben. Dafür sprechen auch die vielen besiegten Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihr entgegengestellt, so wie die Beschaffenheit der Werkzeuge, die das ganze Ergebniß vermittelt haben.

[29]
III.

Man würde höchlich irren, wollte man voraussetzen, daß überall die Predigt der Enthaltsamkeit mit Wohlwollen aufgenommen, oder mit großem Beifall begrüßt worden sei. Das Volk Israel, in dessen Besitz sich eine namhafte Zahl von Brennereien, Liqueurfabriken und Branntweinschänken befand, erhob zuerst und mit der sichersten Ahnung des kommenden Erfolges ein Zetergeschrei; die Destillirer und Schänker der Christenheit sahen sauer und zornmüthig drein; den meisten Gutsbesitzern mochte die Sache, selbst vom Standpunct der Humanität betrachtet, auch nicht zur Freude gereichen, wenn sie ihre weiten und wohlbestellten Kartoffelfelder, ihre kostbaren Apparate nach Pistorius, die Zinsen von den verpachteten Schänkstätten, und die für unentbehrlich gehaltene Schlempe in Betrachtung zogen. – Wahrhaft erfreulich ist es jedoch, berichten zu können, daß auch unter diesen durch [30] die Sache am meisten benachtheiligten Ständen und Classen die edelste Gesinnung sich hervorgethan hat. Ich könnte die Namen von Gutsherren nennen, die, den bedeutendsten Verlust an Einkünften erleidend, dennoch mit hochherziger Aufopferung das Werk beförderten, indem sie erklärten, in ihrem Dienste keinen Menschen ferner behalten zu wollen, der nicht dem Vereine beigetreten sei. Christliche Schänkwirthe sah man das Gelübde der Enthaltsamkeit ablegen, und dann ihrem Gewerbe entsagen. Und wer möchte zweifeln, daß auch unter den Juden nicht Viele den Abscheu vor dem Branntwein gefühlt, und seine unheilbringenden Folgen beklagt haben, da sie selbst – die Gerechtigkeit erfordert, es zu sagen – den Christen beständig ein musterhaftes Beispiel von Mäßigkeit gegeben haben? Indeß vermochten alle Wohlgesinnten nicht dem Gewitter zu gebieten, welches von allen Seiten über das neue Unternehmen heraufgestiegen war.

Vorzüglich im Beginn und in den Kreisen, die dem Ursprungsorte des Vereins am nächsten lagen, wurde die Botschaft des Heiles mit Befremden und Mißtrauen, ja mit Bestürzung und Erbitterung empfangen; in den Werkstätten und Sitzen des alten Branntweingeistes gab sich geschäftige Unruhe kund, und es dauerte nicht lange, so war das Zauberwort gefunden, durch welches der neue fremde Geist, der ohne Paß und andere Legitimation in’s Land zu kommen sich gewagt, zurückgebannt und jede ungehörige Aufregung erstickt werden sollte. „Fanatismus“ - [31] – so schrieen sie, ist der Name des Beelzebul, durch welchen die katholischen Pfaffen den Teufel vertreiben wollen, ein viel schlimmerer Rausch als sonst hat jezt die Köpfe entzündet, Judenhaß wird von den Kanzeln gepredigt, eine Verfolgung, auch der Protestanten steht bevor, der Staat ist in Gefahr, und ein Umsturz alles Bestehenden kann nicht ausbleiben, wenn diesem verwegenen Treiben noch länger zugesehen wird. – Ueber dem großen Halloh gerieth nun auch die Polizei in Angst, beschränkte sich aber in ihrer Gutmüthigkeit meistens nur darauf, nach allen Seiten hin zur Mäßigkeit zu ermahnen, nachdem sie nemlich gesehen, wie ordentlich und ruhig sich überall das Volk verhielt, und wie der neue Rausch die seltsame Eigenschaft hatte, von einer noch niemals dagewesenen Stille und Nüchternheit begleitet zu sein. Die Gegner aber wurden nicht sofort beruhigt und zum Schweigen gebracht, auch hat nicht überall so viel Sanftmuth oder Einsicht gewaltet, daß Untersuchungen, Mißverständnisse, Chicanen und Mißgriffe sich gänzlich hätten vermeiden lassen.

Schon der ersten Nachricht, welche die Regierung von dem Dasein der Bewegung erhielt, war eine Beschwerdeschrift jüdischer Schänker und die amtliche Anzeige beigefügt, daß bereits angeordnet sei, den polnischen Capuziner über die Grenze zu schaffen, und diejenigen Geistlichen zur Strafe zu ziehen, welche ihn ohne Wissen der Polizei bei sich aufgenommen und beherbergt hatten. Die [32] Ausführung dieser Maßregeln ist zwar unterblieben, aber Conflicte mit der Geistlichkeit sind eingetreten, und eine große Anzahl von Personen, die den Predigten als Zuhörer beigewohnt, sind amtlich und mit Fleiß vernommen worden. Ob es erlaubt sei, mit dem Eide Spott zu treiben und vor dem Altar ein Gelübde abzulegen, von dem nicht zu bezweifeln, daß es häufig werde gebrochen werden, ist gewissenhaft zur Frage und als erhebliches Bedenken aufgestellt worden. Die Fassung des Gelöbnißscheins hat ebenfalls Anstoß erregt, und selbst ein unverfängliches Schnapsgedicht, hauptsächlich für die Schulkinder bestimmt, mußte sich gefallen lassen, unter einem der Sache sonst wohlgeneigten Beamten gestempelt zu werden, so lange bis den Kanzelisten, da immer neue Auflagen nothwendig wurden, von der Operation die Hände geschwollen und die Kräfte ausgegangen waren. Bei der Regierung und dem Ministerium wurden die Geistlichen als fanatische Unruhstifter und Friedensbrecher angegeben, und auch dem geistlichen Amte wollte man zumuthen, dem Unwesen ein Ende zu machen.

Die Verläumdung war erfinderisch genug, dem Thun des Klerus die niedrigsten Beweggründe unterzulegen; sie hat in Wort und Schrift der Sache bald mit gleisnerischem Ernst, und bald mit beißendem Spott zu schaden gesucht, sogar sich nicht zu sagen gescheut, daß bei den Geistlichen ein Dispens von dem Gelöbniß für Geld zu erkaufen sei. Es wurde das Gerücht verbreitet, die Staatsbehörde [33] sei dem Treiben durchaus entgegen, und wolle für den Ausfall der Branntweinsteuer Jeden, der sich zur Enthaltsamkeit bekennt, mit einer neuen Abgabe strafen. Die Verführung bot alle Künste auf, um durch Verhöhnen, Anlocken und Widerreden, durch List und Schalkheit, z. B. durch Verfälschung des Bieres mit Branntwein, die Nüchternen zum Bruch des Versprechens zu bewegen, die Trinker von diesem zurückzuhalten. Kein Wunder also, wenn die Geistlichen in vielen Orten einen schweren Stand zu behaupten hatten, besonders da, wo Herren und Beamte sich abgeneigt zeigten, Juden und Judengenossen ihnen entgegenstanden, und unter den Gliedern selbst der eigenen Kirchengemeinde der Dämon die lezten Anstrengungen machte, um die von ihm Besessenen zum Widerstreben aufzustacheln, und die gewohnte Herrschaft sich nicht rauben zu lassen. Wo aber ist ein Ort zu finden, in dem nicht mehr oder weniger das persönliche Interesse verlezt worden wäre, der Sieg nicht einen größeren oder geringeren Kampf erfordert hätte? Gewiß; die Aufgabe des Klerus ist keine dornenlose, und mit dem später gerühmten Beistand der Kreis- und Ortsbehörden ist es so ernsthaft nicht gemeint gewesen. Denn bei Lichte betrachtet, waren die Geistlichen in der Sache allein auf Gott und auf sich selbst gewiesen, schon zufrieden und dankbar, wenn man sie ungestört gewähren ließ. Sie sind von dem Erfolge ihrer Arbeit, von der Zustimmung des ihnen beifallenden Volkes getragen und ermuntert worden; sie haben, wie [34] im Kirchenblatt Herr Wit von Döring richtig sagt, in wenig Monden ohne alle höhere Beihülfe als die höchste dieses Riesenwerk vollbracht.

Wenn aber Mehrere der Kämpfenden, des redlichen Strebens sich bewußt, in Mitten ihrer Bedrängniß die Blicke nach der Regierung wandten, und von dieser zur Beschleunigung des Sieges eine beifällige Erklärung oder sonst eine Hülfe erwarteten, gleichwie in der Schlacht bei Waterloo die Preußen von den Engländern mit Sehnsucht herbeigewünscht wurden, so ist ihnen ein solcher Wunsch so wenig zu verargen, als es der Regierung zum Vorwurf gereichen darf, ihm nicht sogleich genügt zu haben. Es war eigentlich für den Klerus ein Vortheil, und für die Regierung ein Ruhm, daß diese bei der Neuheit und Eigenthümlichkeit des großen unter ihren Augen vor sich gehenden Genesungsprocesses sich im Ganzen an die exspectative Methode des Hippokrates gehalten, das zureichende Wirken einer selbstständigen Kraft auf keine Weise gestört, zuweilen nur einige Puncte in der Diät regulirt, und übrigens auf eine treue Beobachtung des Verlaufes sich eingeschränkt hat. Als der Erfolg gesichert war, ist auch das verdiente Anerkenntniß ausgesprochen worden, und auf beiden Seiten alle Besorgniß verschwunden. Die Regierung hat gethan, was ihres Amtes gewesen, und dem Klerus ist der Sieg in seiner Sache ungeschmälert verblieben.

Bei weiterem Nachdenken muß die Ueberwindung all’ [35] jener Schwierigkeiten, Vorurtheile und Hindernisse um so merkwürdiger erscheinen, je genauer man die Streiter betrachtet, deren sich die Vorsehung bei diesem Kampfe bedient. Selbst in einem Lande, wo die Verhältnisse der Kirche aufs Beste geordnet, die Priester ganz untadelhaft wären, und an der Spitze ein apostolischer Mann mit hoher Kraft und Einsicht stände, würde ein solches Zusammenwirken mit solchem Erfolge ungewöhnliches Erstaunen hervorbringen können; wieviel mehr in Schlesien, wo der kirchliche Organismus noch an schweren Wunden darniederliegt, die er zum Theil von der Ungunst der Zeit empfangen, zum Theil sich selber geschlagen hat. Wem der Zustand unserer Diöcese und ihre neuere Geschichte nicht fremd geblieben, der wird keinen Augenblick zweifeln, daß bei dem Feldzuge gegen die Trunksucht eine Hand aus den Wolken im Spiele, und der mächtigste Führer gewesen sein müsse. Allerdings giebt es hier nicht wenige Geistliche, die als wahrhaft hochwürdige Männer in jeder Beziehung die größte Achtung und Liebe verdienen. Deßhalb läßt sich aber nicht behaupten, daß an heldenmüthigen Propheten und Märtyrern ein Ueberfluß vorhanden sei. Erwägt man nur, wie ungenügend seit langer Zeit die geistlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten waren, wie schwer dabei die Entwicklung klerikalischen Sinnes und Lebens gedeihen, wie leicht auch bei dem lange bestandenen Priestermamgel Unberufene in’s Heiligthum sich eindrängen konnten, so ist zuvörderst klar, daß solche Verhältnisse [36] nicht geeignet waren, eine Elite von Seelenhirten hervorzubringen. Erinnern wir uns ferner, welche Sorgen und Widerwärtigkeiten dem Klerus schon die früheren kirchlichen Wirren bereitet hatten, wie wenig Uebereinstimmung dabei im Ganzen geherrscht, und wie überaus bequem unter mißlichen Umständen die Unthätigkeit oder sogenannte Friedensliebe ist: so kann es nicht befremden, wenn im Beginn der neuen „Aufregung“ es Viele sehr bedenklich fanden, ohne besondern Auftrag an einem Werke Theil zu nehmen, welches bei dem offenen Widerstande, den es hervorgerufen, große Beharrlichkeit und Anstrengung zu erfordern schien, dessen Ausgang auch nicht zweifellos, und wobei noch keine Gewißheit darüber vorhanden war, mit welchem Auge das Unterfangen höhern Ortes werde angesehen werden, zumal da auch die geistliche Behörde während der inzwischen eingetretenen Erledigung des bischöflichen Stuhles die exspectative Methode der Regierung durchaus nachzuahmen schien. Nur ein bedeutender Erfolg vermochte das ungewöhnliche Beginnen zu rechtfertigen, ein solcher war ohne Mühe und Erduldung nicht zu erreichen, und auf irdischen Gewinn war keine Aussicht vorhanden. – Die Tapfersten freilich haben sich nicht lange besonnen; die Fahne der Enthaltsamkeit ist kühn von ihnen aufgepflanzt worden. Aber man versetze sich in die peinliche Lage so mancher armen Pfarrer, welche zufällig zur Verwandtschaft Don Abbondio’s gehören, den Manzoni in seinen Verlobten so meisterhaft [37] geschildert hat. Schon die dem Schlesier angeborene Höflichkeit verbot den Menschen lästig zu werden; die Klugheit rieth, es mit Niemand, und am wenigsten mit den Mächtigen zu verderben, der eigene Vortheil schien ein ruhiges Beharren im alten Gleise zu erfordern, und die Besorgniß und Ungewißheit wegen des Ausganges mußten eine strenge Neutralität noch mehr empfehlen. – Ehre den Männern, die auch nach solchen Betrachtungen sich dennoch dem edlen Unternehmen angeschlossen haben! – Erklärlich ist es und sehr bemerkenswerth, daß diejenigen Geistlichen, die als die ersten und vornehmsten Beweger und Leiter der Sache mit den größten Erfolgen hervorgetreten sind, gerade dem Theile des Klerus angehören, der in den früheren Wirren sich am strengsten an die kirchliche Vorschrift gehalten, und den festesten Sinn bewiesen hat. Diesmal aber war der Impuls so stark, und die darauf im Volk entstandene geistige Strömung so unaufhaltsam, daß bei ihrem Wachsen und Vordringen auch die schwankenden, bequemen und furchtsamen Hirten mit ergriffen, und in die allgemeine Bewegung hineingezogen wurden. Manche, die mit dem Beitritt so lange gezögert, bis dieser ihnen nicht mehr als vorzügliches Verdienst in Anrechnung gestellt werden konnte, mußten sich zulezt noch beeilen, die Ehre und Autorität zu salviren, wollten sie nicht den Verdruß erleben, daß die Mitglieder der eigenen Gemeinden in andere Kirchen zum Gelöbniß gingen. Einige haben, klüger als die Brüder sein wollend, nicht [38] Enthaltsamkeit, sondern nur Mäßigkeit gepredigt, ohne zu bedenken, daß leztere bei Branntweintrinkern der geradeste Weg zur Unmäßigkeit ist. Nur Wenige sind zurückgeblieben, über deren starren Häuptern der Strom des Segens wie über unfruchtbare Steinklippen hinweggezogen ist.


[39]
IV.

Die Mission hat in jedem Kirchspiel einige Wochen gedauert. Sie begann mit der Predigt, in welcher die unglücklichen Folgen der Trunksucht, so wie der Segen und Vortheil der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit auf eine möglichst lebendige Weise geschildert, und die Zuhörer aufgefordert wurden, sich aus den Banden dieses Lasters zu befreien. Dasselbe Thema wurde gewöhnlich an einigen nach einander folgenden Sonntagen noch weiter erörtert, und somit gewissermaßen ein Noviziat eröffnet, während dessen sich Alle prüfen, und an sich selbst die etwa nöthigen Versuche und Proben anstellen konnten. Am Tage der feierlichen Aufnahme schritt der Pfarrer, wenn nicht ein auswärtiger Geistliche dazu berufen, von der Kanzel zum Altare, wo er selbst zuerst vor der versammelten Gemeinde das eigene Gelöbniß aussprach, und dann Alle herbeirief, die seinem Beispiele folgen wollten. Diejenigen [40] nun, die schon vorher die Probe bestanden, und die Erfahrung gemacht hatten, daß man auch ohne Branntwein leben könne, desgleichen die Nüchternen, die nur des guten Beispiels und der künftigen Versuchung wegen sich zur Sache entschlossen, traten alsbald und unverzagt hinzu; Andere, die bisher noch schwankten, wurden entweder durch den Vorgang sofort zum Entschluß gebracht, sich jenen mit anzureihen, oder doch bewogen, denselben Schritt mit Nächstem zu thun. Sie gelobten aber sämmtlich: mit Gottes Hülfe dem Genuß des Branntweins so wie aller gebrannten Wasser und alles Dessen, was daraus bereitet wird, für immer zu entsagen (ausgenommen in Krankheitsfällen, wo eine ärztliche Verordnung es gebietet), andere Getränke, namentlich Bier, Wein, Meth u. dergl. nur mäßig zu genießen, zu solcher Enthaltsamkeit und Nüchternheit aus allen Kräften auch Andere zu ermuntern, und jeden Wortbrüchigen nach liebevoller Ermahnung der Geistlichkeit anzuzeigen, damit sein Name aus dem Vereinsbuch gestrichen und für ihn gebetet werde. – Meistens bedurfte es zur Aufnahme nur weniger Tage oder Wochen, selten war eine längere Zeit dazu erforderlich. Am Schluß ist in der Regel ein feierliches Dankfest gehalten, und unter Ausstellung des Hochwürdigsten der Ambrosianische Lobgesang angestimmt und der Segen gegeben worden.

Nicht als die Folge eines Zwanges oder Befehles, nicht als das Werk einer gemeinsamen Berathung und [41] Zusammenkunft, und folglich auch nicht als die Frucht eines modern organisirten Vereines mit Statuten, Vorständen, Assistenten, Secretären und Cassirern läßt sich die Begebenheit betrachten, von der wir Zeugen gewesen. Verabredungen der Geistlichen haben nur unter Freunden und den nächsten Nachbarn stattgefunden; von Geldmitteln ist keine Rede gewesen, und Jedem ist die Freiheit geblieben, zu thun und zu meiden was ihm gut gedünkt. Das Ganze war einer unsichtbaren Führung überlassen, und die im Volk erwachte Begeisterung und Zustimmung konnte nur mit jenen plötzlichen Erhebungen des Gemüthes verglichen werden, wie sie vor Zeiten, und auch nicht immer, bei den Kreuzzügen stattgefunden haben, obgleich es für Hunderttausende noch leichter ist, ein fremdes Land zu erobern, als sich selbst und die eigene Natur zu besiegen. Wie eine Welle die andere treibt, so hat von einer Gemeinde zur andern die Bewegung sich fortgepflanzt, mit gleichmäßigem Rhythmus in fünf bis sechs Monaten drei Viertheile des Regierungsbezirkes überziehend, bis sie, in den deutschen Gegenden angelangt, allmählig schwächer geworden, oder auch schon an der Sprachgrenze völlig zur Ruhe gekommen ist.

Der Quellbrunn dieser Gnadenströmung ist gegen Sonnenaufgang, und zwar in der Gegend zu suchen, wo schon längst der Dämon der Trunksucht seinen Hauptsitz aufgeschlagen, und die größten Verheerungen angerichtet hatte. Dort lebt in dörflicher Einsamkeit ein Mann der [42] Sehnsucht und des Gebetes, der, seit Jahren die gesegnete Wirksamkeit des irischen Capuziners bewundernd, und gleichen Segen seinem Vaterlande wünschend, zuerst die neue Botschaft verkündigt hat, im guten Vertrauen auf Gott und unter dem Schutze der gnadenvollen Jungfrau, welcher zu Ehren er einen neuen Tempel aus Gaben der Liebe erbaut. Sein Name hat einen guten Klang, und ist im Lande so verbreitet, daß man der Verlegenheit überhoben wird, durch Nennung desselben die Demuth zu verletzen. Er hatte sich auch schriftlich an den bekannten Capellan Seeling gewendet, der im vorigen Jahre in England beim Vater Mathew gewesen, und als dessen Schüler nach Norddeutschland zurückgekehrt war. Nach eben so gern ertheilter als empfangener Belehrung konnte jedoch das irische Verfahren in unserm Lande nicht unbedingt zur Norm genommen, es mußte vielmehr dem Stamm und Sinn der hiesigen Bewohner angepaßt werden. Dies ist geschehen, und was für die Verständigsten keine leichte Aufgabe gewesen wäre, das hat unter dem Schilde des Glaubens die Einfalt und Liebe des Pfarrers von D. Piekar auf die zweckmäßigste Weise gethan. Wo immer nach dieser verfahren worden, wie dies fast durchgängig geschehen ist, da hat auch der Erfolg sich trefflich bewährt, und jedes Bedenken schnell verscheucht. Im Wesentlichen ist jedoch die religiöse Grundlage, auf welcher zuerst der Pater Mathew, dann der Capellan Seeling, und jezt der Oberschlesische Klerus die Sache der Enthaltsamkeit gebaut, [43] überall eine und dieselbe geblieben, nur mit dem Unterschiede, daß sie bei der ersten Generation in irischer, bei der zweiten in deutscher, und bei der dritten in slavischer Gestalt sich zu erkennen giebt.

Es war ein günstiger Umstand, daß hier der Anfang der Sache in die Zeit der vierzigtägigen Faste fiel, die selbst nichts Anderes, als eine Uebung der Mäßigkeit, die Gemüther für religiöse Eindrücke stets empfänglicher macht, und wenn die Kirchenzucht nicht in so großen Verfall gerathen wäre, allein hätte hinreichen müssen, der Völlerei ein Ende zu machen. Nicht minder günstig und wahrhaft erhebend wirkte auf die Geistlichkeit der öffentliche Aufruf, der von Seiten zweier Gutsherren an sie ergangen war. Herr Wit von Döring hatte den Abgrund des Verderbens, worin das arme Volk versunken war, in seiner ganzen Tiefe erkannt, und schon am Neujahrstage zur Beschränkung des Uebels nicht weniger als zehn verschiedene Vorschläge, und unter diesen, obgleich Protestant, auch den gemacht, daß das Oberhaupt der katholischen Kirche angegangen werde, durch besondere Anweisungen und Gnadenbewilligungen den Klerus zur Theilnahme, und das Volk zum Gehorsam zu bringen; ein Vorschlag, über welchen einige Leute in Furcht und Schrecken geriethen. Bald darauf ließ sich im Kirchenblatt Herr Ludwig von Schmakowski vernehmen, der mit freudiger Anerkennung seines Vorgängers laut erklärte: nur auf geistlichem Gebiete könne das Uebel mit der Wurzel ausgerottet [44] werden; jede Finanz- und Polizeimaßregel und alle Mittel der Moral und Humanität ohne kirchliche Unterlage würden den fressenden Krebs nicht wegbeitzen; deßhalb möge die Kirche helfen, wo die Welt nichts mehr vermag. –

Im Monat März hatten in der Nähe von D. Piekar schon mehrere Pfarrer die Mission eröffnet, zu Ostern war diese in die benachbarten Kreise eingeführt, um Pfingsten unter der slavischen Bevölkerung in vollem Gange begriffen. Erwähnung verdient, daß unter den ersten Mitgliedern des Vereines sich einige Geistliche befanden, die früher selbst als keine Muster der Enthaltsamkeit gegolten hatten. Mächtigen Beistand leistete der ehemalige Guardian des Franciscaner-Klosters zu Chelm am Bug, Pater Stephan Brzozowski, welcher, da ihm dort das russische Unionssystem nicht allzu wohl gefallen, zu uns herübergekommen war, und hier durch sein Gewand, so wie durch seine Redekraft und ganze Persönlichkeit so hinreißend auf das Volk zu wirken wußte, daß er eben deßhalb von dem Pfarrer, bei dem er eine Stätte gefunden, und mit Genehmigung der Obrigkeit sich aufgehalten, öfters ausgesendet und von vielen Geistlichen zur Predigt eingeladen wurde.

Im Monat April hatten die Pfarrer von Beuthen und Boguschütz, der erstere gegen 5000, der andere 2344 Personen zur Entsagung des Branntweins gebracht, und mit demselben Erfolge hatte auch in andern Orten die Enthaltsamkeit ihr Haupt erhoben. Zu Myslowitz waren [45] von 3845 Communicanten 3759 zum Gelöbniß gekommen, und nur diejenigen noch außerhalb des Vereines, die entweder zur ferneren Prüfung auf einige Zeit zurückgestellt waren, oder als „Gebildete“ ihm beizupflichten Anstand nahmen. Zu Ende des Monats berichtete ein Pfarrer, daß eine völlige Umwandlung in seiner Gemeinde stattgefunden habe. Lärmen und Schwärmen habe aufgehört, der Kirchen- und Schulbesuch zugenommen, und lezterer sei fast regelmäßig, seitdem die Kinder nicht mehr von betrunkenen Eltern zurückgehalten werden. Eintracht und Friede sei in den Familien eingekehrt; bei jeder Gelegenheit danken und erzählen ihm die Leute, wie glücklich jezt ihre Ehe, wie wirthlich der Mann, wie eingezogen das Weib geworden. Gott wolle der Sache langen Bestand verleihen. Ein Anderer schrieb: „Nach vielen unermüdeten, aber beinahe vergeblichen Anstrengungen habe ich im glaubensvollen, festen Vertrauen auf den Allerhöchsten das neue Werk begonnen. Viele bekannte Säufer haben einen rechten Heroismus in Beherrschung ihrer Natur an den Tag gelegt. Eine Regeneration scheint eingetreten, der häusliche Unfriede mit seinem Gefolge verschwunden zu sein. Die durch Trunkenheit gegebenen Aergernisse werden öffentlich bereut, Ordnung und Fleiß kehren zurück, und Hunderte strömen deßhalb in die Kirchen, um Gott heiße Thränen der Dankbarkeit für die große ihnen widerfahrene Wohlthat darzubringen.“ Gleiche oder ähnliche Wirkungen gaben sich in jener ganzen Gegend kund. Noch in [46] der zweiten Hälfte desselben Monats hatte der Landrath zu Beuthen der Regierung angezeigt, daß bereits in seinem Kreise die Zahl der Enthaltsamen mindestens 40,000 betrage. Unter den Arbeitern habe ein ganz anderes Leben begonnen, und die Herren seien jezt zufrieden mit ihnen. In der Kreisstadt, wo jährlich 8 bis 10,000 Eimer Spiritus abgesezt wurden, stehen die Schänken leer, und Ruhe sei in den Straßen eingekehrt. Man erblicke in Wahrheit keinen Trunkenen mehr, und lasse sich einer sehen, so werde er verspottet und verhöhnt. Auch auf den materiellen Wohlstand werde die Sache von großem Einfluß sein. Großes sei schon erreicht, noch Größeres werde erreicht werden; möchte auch die Hälfte der Bekehrten wieder rückfällig werden. – Zwei Tage später meldete der Landrath des Rybniker Kreises, daß zu Ostern unter der katholischen Bevölkerung eine fast durchgängige Bekehrung der ärgsten Trunkenbolde bewirkt worden sei. Ein kurzer Zeitraum habe genügt, um 50,000 Säufer zu den nüchternsten Unterthanen S. M. des Königs zu machen. – Die Bürger von Rybnik, wo mehr als 7000 Männer und Frauen, Städter und Landleute das Gelöbniß abgelegt hatten, richteten an ihre Geistlichkeit eine öffentliche Dankaddresse, worin sie bezeugen, daß auch der evangelische Pastor sich rühmlich der Sache angenommen habe. In einigen andern Orten und Kreisen ist dieses Beispiel nachgeahmt, und von den Pastoren mit mehr oder weniger Erfolg Enthaltsamkeit gepredigt worden.

[47] Eben so reißend und unaufhaltsam waren die gleichzeitigen Fortschritte im Kreise Pleß, obgleich von Seiten der Industriellen hier am meisten entgegengewirkt wurde. Der Magistrat zu Nicolai, wo 4300 Menschen dem Genuß des Branntweins feierlich entsagten, konnte nicht genug die wohlthätigen Folgen der Enthaltsamkeit schildern. Das Volk, so wird berichtet, ist zum klarsten Bewußtsein gekommen, daß der unmäßige Branntweingenuß die Ursache seiner Armuth und seines Elends, der Räuber seines Glückes, der Zerstörer seiner Gesundheit und seines Lebens, und der Weg zu allen Lastern und Verbrechen war. Jezt bedauern Alle, die sich von der Trunksucht befreit haben, daß sie nicht früher zur Entsagung angeleitet wurden. An Arbeitstagen geht Jeder seinen Geschäften nach, die Sonn- und Festtage werden ruhig in der Kirche und zu Hause zugebracht. Wochen- und Jahrmärkte gehen ohne Exceß vorüber. Seit zwei Monaten ist keine Criminal-Untersuchung vorgekommen, während in den vorausgegangenen vier Monaten zehn dergleichen einzuleiten waren. Die Schänkhäuser sind leer von Gästen, aber auch die polizeilichen Gefängnisse. In Kurzem werden auch die Criminal-Gefängnisse nicht mehr wie bisher an Ueberfüllung leiden. Frohsinn und Anstand sind an die Stelle der früheren Ausgelassenheit und Rohheit getreten, Verträglichkeit und Liebe an die Stelle des Zankes und Haders, und bald dürfte, wie es schon teilweise zu bemerken, auch die häusliche Noth sich mindern, [48] und der äußere Wohlstand sich erhöhen. Für die Fortdauer der allgemeinen Nüchternheit bürge die bisherige gewissenhafte Haltung des Versprechens, und die noch fortdauernde Ablegung desselben. – In der Nähe von Nicolai waren in einer Landgemeinde von 1900 Communicanten 1835, und unter diesen sogar ein Branntweinbrenner und alle christlichen Schänkwirthe, bald auch in einem andern Dorfe sämmtliche Communicanten, 2669 an der Zahl, dem wachsenden Vereine beigetreten. Die Lezteren zeichneten sich besonders durch die feierliche Begehung ihres Dankfestes aus. Am Tage desselben zog die ganze Gemeinde unter Lobgesängen und von zwei Musikchören begleitet in großer Procession auf einen Berg, wo in einer alten, angeblich von den Tempelherren erbauten Capelle der solennste Gottesdienst abgehalten wurde, und Alle nebst den Tausenden, die aus der Umgegend herbeigeströmt waren, fast den ganzen Tag in freudiger Andacht verweilten, zulezt mit einem weithin schallenden Te Deum Gott allein die Ehre gebend. –

Wenn in der Gegend von Pleß ein verstockter Säufer, der ungeachtet aller Ermahnungen nicht entsagen wollte, auf freiem Felde neben seiner Kuh vom Blitz getroffen wurde, ein Anderer bei Ratibor, nachdem er Branntwein getrunken, und dadurch die Nüchternen geärgert hatte, vor deren Augen plötzlich in einem Teiche ertrank; so mögen solche und ähnliche Ereignisse, deren sich mehrere zugetragen, immerhin als bloße Zufälle betrachtet werden: das [49] Volk hat sie als göttliche Strafen und Fingerzeige erkannt, und deßhalb um so eiliger Enthaltsamkeit gelobt. Mir aber wollen die vielen und gründlichen Bekehrungen der ärgsten Trunkenbolde noch ungleich wunderbarer erscheinen, und wenn beispielsweise ein roher, bis zum Vieh herabgesunkener Mensch, der Jahre lang sich fern von der Kirche und dem Sacrament gehalten und bei der Ankunft des Pater Stephan hohnlachend erklärt hatte, er werde ihm seinen Hund zum Schwören schicken, der trinke keinen Schnaps – wenn so ein Mensch am andern Tage schon zerknirscht, bekehrt und entsagend am Tische des Herrn gesehen wurde, so kann ich eine solche Rückkehr zum Leben viel sicherer für ein Wunder halten, als jene plötzlichen Todesfälle, bei welchen, wie merkwürdig sie auch sein mögen, noch immer eine natürliche Erklärung zulässig ist.

In den Monaten Mai und Juni ist die Strömung immer weiter nach Norden und Westen gezogen, die Kreise Tost-Gleiwitz, Groß-Strehlitz und Rosenberg zur Rechten, und die Oderkreise Ratibor, Cosel und Oppeln zur Linken fast zu gleicher Zeit befruchtend. Der vorausgehende Ruf erwies sich in manchen Orten schon allein so einflußreich, daß viele Menschen der Predigt, wenn nicht durch gänzliche Entsagung, doch durch Mäßigkeit zuvorzukommen suchten, und dadurch bewirkten, daß der Feind noch vor der Ankunft der Siegerin schon halb geschlagen war. In keinem dieser Kreise hat es an Geistlichen gefehlt, die durch ein glänzendes Beispiel im Stande [50] waren, auch ihre Mitbrüder zum heilsamen Eifer anzuregen. Die Früchte desselben waren daher fast überall die nämlichen; der Starke half dem Schwachen auf, der Sehende führte den Blinden vom Abgrund hinweg, und selbst der Hohe stieg herab, um den Niedrigen heraufzuziehen. Im Allgemeinen gelang aber das Werk viel leichter auf dem Lande und unter den Slaven, als in den Städten und bei den Deutschen, ja es scheint, als ob der Erfolg sich überall genau nach den Graden der sogenannten Bildung gerichtet habe. Von den Handwerkern und ihren Gesellen, die zum Theil aus Fremden bestehen, ist in einigen Städten nur ungefähr die Hälfte gewonnen worden; noch viel geringer ist die Theilnahme unter den Beamten gewesen, und an den gelehrten Schulen ist die Sache spurlos vorübergegangen. Dagegen erreichte in den meisten Landgemeinden die Zahl der Entsagenden fast die der Communicanten, und in vielen blieb von diesen auch nicht einer vom Gelöbniß zurück. In Dörfern selbst, die früher durch Excesse der Trunksucht berüchtigt waren, wurde die Vertreibung des Branntweins jezt wie eine Ehrensache angesehen, und manche Gemeinde wollte einen Branntweintrinker nicht ferner in ihrer Mitte dulden. Ordnung und Friede waren eingezogen, und zu den früher so häufigen Mißhandlungen schien alle Veranlassung verschwunden zu sein. Ist doch sogar ein alter Chirurgus bei mir gewesen, Beschwerde führend, daß ihn die Enthaltsamkeit zu Grunde richte, da nach dem gänzlichen Aufhören der [51] sonst allwöchentlich vorgefallenen blutigen Schlägereien keine Verwundungen, Contusionen u. dergl. mehr vorkämen, keine Befundscheine mehr auszustellen seien! Es wäre zu weitläufig, auch nur die merkwürdigsten Fälle von Selbstüberwindung und all’ die bezeichnenden Thatsachen anzuführen, die an so vielen Orten bei der Einführung der Enthaltsamkeit stattgefunden haben. Mir ist nichts Merkwürdigeres erschienen, als die ernste Begeisterung, mit welcher die slavischen Landleute zu den Altären sich gedrängt, die innige Andacht, die sie beim Dankfest gezeigt, und die gewissenhafte Treue, die sie alsdann in der ersten und schwersten Zeit, d. i. während der Erndte, bewiesen haben. Auf allen Gesichtern schien sich nur ein Gedanke auszusprechen: Gott und die heilige Jungfrau will es so haben! –

Für große Schaaren ist auch in Bezug auf die Trunksucht der St. Annenberg ein wahrer Gnadenort gewesen. Zu diesem höchsten Punct, und fast in der Mitte des Landes, pflegen an gewissen Tagen aus der Nähe und Ferne, selbst aus dem benachbarten Auslande viele Tausende zu wallfahren, obgleich das ehemalige Franciscanerkloster längst verödet und dem Verfalle preisgegeben ist. Mehr als vierzig Jahre, die seit der Säcularisation verflossen sind, haben nicht hingereicht, um diese Pilgerzüge zu vermindern; noch immer sieht man auf dem waldigen Basaltberge an manchem Kreuz- und Marienfeste 10 bis 20, ja 30,000 Menschen sich versammeln. Auch dort [52] oben hatten sich Prediger der Enthaltsamkeit eingefunden, und das Gelöbniß von Einheimischen und Fremden entgegengenommen. Durch diese ist die Sache bis in entlegene Gegenden fortgetragen worden. Die Wirkung zeigte sich später so auffallend, daß am Tage von Mariä Geburt, an welchem mindestens 10,000 Menschen hinaufgeströmt waren, in sämmtlichen Schänken nur 23/4 Quart Spirituosa, und zwar an Oesterreichische Unterthanen, verkauft wurden. Und da der Ort eine vorzügliche Gelegenheit zur Verbreitung der Nüchternheit darbietet, so ist es schon mit hohem Danke aufgenommen worden, daß auf die von Herrn von Döring vorgetragene Bitte der Bisthumsverweser sich entschlossen hat, dem verdienten Pater Stephan einstweilen die Ruinen jenes Klosters zum Aufenthalt anzuweisen.

Gegen das Ende des Monats Juni war in sämmtlichen zur Rechten der Oder gelegenen Kreisen, mit Ausnahme des Creutzburger im Norden, die Mission beinah’ beendet, und von dem Ergebniß bald auch die Behörde durch einen umfassenden Bericht des Ober-Regierungsrathes Herrn Ewald, der die Gegenden bereiset und genaue Erkundigungen eingezogen, in nähere Kenntniß gesezt. In diesem Berichte heißt es: „Die Erscheinung ist in der That großartig. Die Schänken stehen leer, und an den Wochen- und Jahrmärkten herrscht völlige Ruhe und Ordnung. Keine Trunkenen, deren sonst immer Viele auf dem Wege und zum Theil in den Gräben lagen, sind [53] jezt dort anzutreffen; das wilde Geschrei hat aufgehört; Hochzeiten haben in aller Stille und ohne Branntweingenuß stattgefunden. Arbeiter-Vereine schließen Diejenigen von ihrer Gemeinschaft aus, die nicht dem Branntwein entsagen; Hütten- und Grubenaufseher wie Gutsherren rühmen den Fleiß, die Ordnung und Folgsamkeit Derer, die das Gelöbniß abgelegt haben. Da, wo dies bereits seit Wochen oder Monaten geschehen ist, kommen die Weiber zu den Geistlichen, und danken für die Wohlthat, die ihnen und ihren Männern widerfahren, weil jezt Friede im Hause und Arbeitsamkeit eingekehrt sei. Oft genug schließen sich ihnen auch Männer an, zufrieden, daß sie jezt ihren Arbeitslohn nützlich verwenden, ihren Hausstand regeln und verbessern können; ja sie machen sogar den Geistlichen Vorwürfe darüber, daß nicht schon vor zehn Jahren Gelübde abgefordert wurden. Sogar Erzsäufer haben bisher die harte Probe und Verlockungen aller Art glücklich überstanden, ohne wieder zum Branntwein zu greifen. – Das große und folgenreiche Ereigniß hat mit Recht die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich gezogen, und Jedermann in Erstaunen gesezt. Ja der Klerus Oberschlesiens ist von dem die kühnsten Hoffnungen weit übersteigenden Erfolge seiner Bemühungen selbst höchlich überrascht, da er sich eine solche Macht über die Gemüther des Volkes kaum zugetraut, und darum erst nach langem Zögern und mit großen Zweifeln zu den ersten Versuchen geschritten ist.“

[54] Zu Anfang des Juli legten in Oppeln 6300 Personen das Versprechen der Enthaltsamkeit ab, und diese breitete sich bis an die Grenze von Niederschlesien aus. In Ratibor, wo länger als seit hundert Jahren kein Bischof gewesen, wurde die Sache besonders dadurch geehrt, daß der zur Firmung gekommene Herr Weihbischof ihr beitrat, und seinen Namen eigenhändig in’s Vereinsbuch schrieb. Diese Stadt hat zwei katholische Kirchen, von welchen die eine vorzüglich für das eingepfarrte polnische Landvolk bestimmt ist, die andere den größtentheils deutschen Einwohnern angehört. In jener war Pater Stephan als Prediger aufgetreten, und schon am ersten Tage der Andrang so gewaltig, daß die Communionbank brach, und nur etwa 1000 Menschen eingeschrieben werden konnten, während mindestens 3000 das Versprechen geleistet hatten. Nicht so stürmisch und rasch gelang der Sieg über die deutsche Gemeinde, in welcher sich von Anfang keine sonderliche Neigung zum Beitritt, wohl aber viel Widerstreben kundzugeben schien. In solcher Stimmung würden auch wahrscheinlich die Meisten verblieben sein, hätte nicht der hochgeachtete Erzpriester die kälteren Herzen durch das Feuer seiner Rede erwärmt.

„Blicket auf Irland – rief er ihnen zu – auf jenes unglückliche Volk, das, durch Jahrhunderte von seinen Unterdrückern beraubt und mißhandelt, zulezt noch durch den Branntwein, seinen ärgsten Feind, in’s tiefste Elend hinabgestoßen, in die Fesseln der niedrigsten Knechtschaft geschlagen [55] war. – Sieh, da verließ ein frommer Mönch seine stille Zelle, und wie einst die Apostel trat er hinaus unter sein versunkenes Volk, allein auf den Beistand Gottes vertrauend, um es von diesem Uebel zu erlösen. Die Klugen der Welt lachten, und Viele meinten, der Mann habe den Verstand verloren. Aber der Herr legte seinen heiligen Geist auf die Zunge des armen Mönchs, und in Schaaren sammelte sich das Volk um ihn; Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, Männer und Frauen reihten sich an einander zu einem heiligen Kreuzzuge gegen den Feind, und das ehrwürdige Oberhaupt der Kirche ertheilte dem Werke den apostolischen Segen. – Und heute trinken sechs Millionen Irländer keine berauschenden Getränke mehr, die Laster sind mit dem Branntwein aus dem Lande gezogen, und mit der Enthaltsamkeit sind alle anderen Tugenden zurückgekehrt. – Oeffnet eure Augen, und verschließet eure Herzen nicht. Der Herr ist langmüthig und gütig, er kommt unserm Unglauben zu Hülfe, und damit Niemand entgegne, die Kunde aus jenem fernen Lande sei erfunden oder übertrieben, so wirkt er vor unsern Augen ähnliche Zeichen und Wunder. – War das Volk in Oberschlesien nicht schon zum Sprüchwort geworden wegen seiner Trunkenheit? Wurde es nicht öffentlich einer so tiefen Verwilderung angeklagt, daß es der Thierheit fast näher als der Menschheit stehe? –

Sehet, Gottes Stimme ist auch bei uns erklungen, seine Hand ist über uns ausgestreckt, und wie er in Irland [56] sich zum Werkzeug einen Mönch gewählt, so hat er bei uns seinen Ruf in die Seelen einiger frommen Priester gelangen lassen, die ihn weiter verkündigen. Und damit die Welt es deutlich erkenne, daß der Herr es sei, der hier wirket, und nicht menschliche Kraft, so wurde das Wort der Enthaltsamkeit dort zuerst laut, wo die Arbeit in den Schachten der Erde den Genuß des betäubenden Getränkes zum täglichen Bedürfniß gemacht, die edle Menschennatur am meisten sich befleckt hatte, in Orten und Gegenden, wo es ganz unmöglich schien, dem Worte Eingang zu verschaffen. – Wem die Nachrichten aus jenen Gegenden unglaublich scheinen, der gehe hin und sehe selbst, was dort die Kraft des Herrn vollbracht, wie begeistert die ganze Masse des Volkes sich aus seiner Erniedrigung erhoben, und von den Fesseln des Lasters und der Sünde sich befreit. Erkennen wird er, daß der Arm des Allmächtigen nicht verkürzt ist, und auch heute noch die Spötter und Frevler zu finden weiß. – Und wir, die wir in Vergleich mit jenem Landvolk uns so gern für gebildeter und besser halten, wir wollen uns an Edelmuth und Entsagung von ihm übertreffen lassen? Soll der Branntwein allein unter uns noch seine Freunde und Verehrer haben? Soll man von den Landleuten hören: „Während wir den Unhold aus unsern Grenzen verbannt haben, hat er seine Ruhestätte in den Mauern dieser Stadt gefunden?“ – Soll die Stimme Gottes, die sich in diesen Tagen so laut zu erkennen giebt, ungehört an Euch vorübergehn? [57] Dann wehe uns, dann haben wir deine Strafgerichte wohl verdient, o Herr, dann dürfen wir nicht klagen, wenn die Schaale deines Zornes sich über uns ergießt. – Doch getrost erhebe ich mein Auge zu dir, o Herr! Siehe, es ist dein Werk, das wir beginnen, dein Ruf ist’s, der heute unter uns ertönt, und dem wir folgen wollen. Gieße deinen Segen aus über uns; gieße deine heilige Liebe aus in unsere kalten Herzen, und erwärme sie, damit wir freudig bereit sind, ein Opfer zu bringen. Siehe an, o Herr, das Elend der Menschheit und die Unglücklichen, die dem Laster der Trunksucht verfallen sind; siehe sie an mit den Augen jener Barmherzigkeit und unergründlichen Liebe, die dich einst bewog, den Thron deiner Herrlichkeit zu verlassen und unser Bruder zu werden. Treibe hinweg den Unhold der Finsterniß, der unser Herzblut vergiftet, und laß uns werden ein frommes, heiliges Volk, das in Nüchternheit und Mäßigkeit allem Guten nachtrachte und dir ähnlich werde.“ –

Die Wirkung dieser Rede, aus welcher hier nur die bedeutsamsten Stellen mitgetheilt sind, übertraf so sehr alle Erwartung, daß noch an demselben Tage das Buch der Entsagung weit über tausend Namen erhielt, in den nächsten Tagen die Zahl auf 1700, und zulezt bis gegen 2000 stieg. In keinem andern Orte haben sich dem Verein so viele Deutsche als in Ratibor angeschlossen. Der benachbarte Kreis Leobschütz und zum Theil auch der Neustädter nahmen noch Antheil an dem Segen der [58] Mission, gehörten aber schon zu denen, wo diese unter der deutschen Bevölkerung einen härteren Boden fand, und große Lücken übrig blieben. Ueberhaupt sind in den übrigen deutschen Städten auf der linken Seite der Oder kaum so viele Hunderte, als auf der rechten Seite Tausende beigetreten; von Falkenberg und Grottkau hat man nichts gehört, und Neisse, die alte bischöfliche Stadt, ist wie das deutsche Niederschlesien bis jezt der Sache fremd geblieben.

Es scheint in der That, als ob dieser Segen sich diesmal nur über die Familie der Slaven und ihre nächsten Verwandten ergießen wolle. Denn während selbst bei uns die deutschen Gegenden ihn nicht empfingen, und zum Theil zurückwiesen, pflanzte sich die Bewegung in südöstlicher Richtung noch weiter in’s Gebiet von Krakau, nach Galizien, Oesterreichisch Schlesien und Mähren fort. Dies geschah durch Wallfahrer, welche aus jenen Nachbarländern nach D. Piekar oder auf den St. Annenberg gekommen, und von hier mit Begeisterung für die Sache der Enthaltsamkeit in ihre Heimath zurückgekehrt waren. „Wir wurden“ – so heißt es in einem Schreiben aus Teschen, welches die Allg. Preuß. Zeitung (N. 278) mittheilt – „zuerst an den Grenzen durch das Volk selbst aufmerksam gemacht, welches, wenn es nach Preußen ging, das Enthaltsamkeitsgelübde abgelegte. Unserm Wirken traten vor Allem die alten Josephinischen Bestimmungen gegen alle Vereine, Brüderschaften u. s. w. und leider fast noch [59] mehr die bedeutenden Grundbesitzer in den Weg, die Alles dagegen in Bewegung sezten. Dennoch bahnte die gute Sache sich ihren Weg. Kaum hatte der edle Erzherzog Karl von der Lage derselben Kunde erhalten, als er die gemessensten Befehle an seine Beamten erließ, hierbei Hand in Hand mit der Geistlichkeit zu wirken, obschon er sich dadurch einer Revenue von 100,000 Gulden beraubt. Die großen Gegenbestrebungen mancher Magnaten, die sogar eine Menge von Untersuchungen gegen Geistliche provocirten, wurden von unserer höchsten Regierungsstelle nach Gebühr gewürdigt. Aber nicht auf unsere Gegend bleibt jener Segen beschränkt, den der Himmel dem Osten Europa’s verliehen zu haben scheint; er schreitet weiter und weiter vorwärts der Sonne entgegen. Der treffliche Bisthums-Administrator von Krakau hat deßhalb einen ausgezeichneten Hirtenbrief erlassen, und im Freistaate gilt es schon für die größte Schande, Branntwein zu trinken. Die Begeisterung dringt täglich weiter nach Lemberg vor, und mehrere der größten Gutsbesitzer, an ihrer Spitze die Gräfin Potocka, haben allen ihren Unterthanen, die das Gelübde ablegten, einjährige Befreiung von allen Grundzinsen als Belohnung gewährt.“ – Schon im Monat August hatte auch der hochwürdigste Fürst-Erzbischof von Olmütz die Sache der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit mit Wohlgefallen aufgenommen, und zum Gedeihen derselben die Decanate mit oberhirtlicher Anweisung versehen. Ja die Strömung hat bereits das Königreich Ungarn erreicht, und [60] die Augsburger Allgemeine Zeitung (Nr. 301) berichtet unter’m 23. October aus Preßburg: „In den nördlichen Karpathengegenden, also im eigentlichen Lande der Slowaken, gewinnen die Mäßigkeitsvereine immer größere Ausdehnung. Seelsorger und Schullehrer wetteifern gemeinschaftlich, das Volk über die furchtbare Branntweinpest aufzuklären. Hunderte von Landleuten strömen nach den Kirchen und legen das feierliche Gelübde ab: nicht blos sich selbst des Branntweingenusses zu enthalten, sondern auch in ihrem Kreise so viel als möglich diese Idee zu verbreiten. Der gute und ausdauernde Charakter dieses Volkes läßt sich am besten aus der religiösen Innigkeit erkennen, womit solche Vorsätze gefaßt, und redlich gehalten werden."

Jeder Menschenfreund muß wünschen, daß die Sache aus Oberschlesien sich auch einen weiteren Weg nach Norden, besonders in’s Großherzogthum Posen bahnen, und der dortige Klerus zu gleichem Eifer sich ermannen möge. Ein Anfang scheint gemacht zu sein. Ich weiß aber nur, daß in der Gegend von Krotoshin ein Pfarrer die Mission mit überraschendem Erfolge begann, nachdem er durch sechs seiner Kirchkinder, die als Wallfahrer auf unserm St. Annenberge dem Branntwein entsagt und die Gelöbnißscheine nach Hause getragen, die Kunde von der hiesigen Umwandlung mit Freuden vernommen hatte.

Woher kommt es, daß die südöstlichen Slaven für die Predigt der Enthaltsamkeit viel empfänglicher als die Deutschen sind? Es heißt nicht erklären, wenn jezt vermuthet [61] wird, daß diese den Branntwein viel mehr als jene lieben, da doch früher stets das Gegentheil behauptet wurde. Man hat also die geographische Lage erwogen, und nach einer unter uns noch immer gangbaren Meinung geglaubt, daß bei den nördlichen Völkern der Verstand, bei den südlichen das Gefühl (die Fantasie) vorwaltend, und lezteres bei der Sache das Entscheidende sei. Allein die Slaven leben hier mit den Deutschen unter demselben Breitegrade, und jener geistige Unterschied, der blos ein quantitatives Verhältniß ausdrückt, wird als ein allgemein gültiger schwerlich von Solchen anerkannt werden, die den Charakter der verschiedenen Nationen aus Erfahrung kennen. Die Franzosen z. B. sind von kundigen Beobachtern sogar als reine Verstandesmenschen angesehen worden, der Scharfsinn der Italiener ist fast zum Sprüchwort geworden, und die Deutschen werden unter beiden das gefühlvolle Wesen und die sogenannte Gemüthlichkeit am häufigsten zu vermissen glauben. Hätte bei den lezteren wirklich der Verstand ein so großes Uebergewicht, so müßte sie dieses um so mehr bestimmen, einer Gewohnheit zu entsagen, die für Leib und Seele offenbar verderblich ist. Mir scheint der unterscheidende Charakter vielmehr qualitativ zu sein und vorzugsweise in der Beweglichkeit des Gemüthes zu liegen, welches bei einigen Völkern regsamer und lebendiger, bei andern ruhiger und fester sich verhält. In dieser größeren Beweglichkeit, die auch den Slaven eigenthümlich ist, finde ich das wichtigste [62] Merkmal jener schon oft erkannten Verwandtschaft, in welcher die Polen zu den Franzosen und in mancher Beziehung auch zu den Italienern stehen. Und hieraus folgt allerdings, daß unsere Slaven leichter und schneller zur Enthaltsamkeit zu bewegen sind, aber keinesweges, daß die Deutschen, selbst bei schwächerem Glauben, unbeweglich bleiben werden. Die deutschen Seelsorger, welche die neue Mission bereits angefangen haben, oder noch in Zukunft unternehmen wollen, mögen sich also durch die schwerere Aufgabe nicht entmuthigen lassen, sondern getrost mit den etwa nöthigen Modificationen im Verfahren die Enthaltsamkeit einzuführen suchen. Das Beispiel des Kreises Leobschütz und die Stadt Ratibor können zum Beweise dienen, daß auch deutsche Gemeinden der Entsagung nicht hartnäckig widerstehen, und wenn die Mühe bei ihnen größer ist, und längere Zeit erfordert, so wird vielleicht der Erfolg um so dauerhafter, und wenn er auch nicht so bedeutend wäre, doch nicht weniger zu preisen sein.

Die Summe Derjenigen, welche in Oberschlesien dem Branntwein entsagt haben, wird schwer zu ermitteln sein, da bei der Abnahme des Gelübdes sehr oft die Zeit nicht hingereicht, um alle die Namen von Hunderten und Tausenden aufzuschreiben, nicht selten auch Nachlässigkeit bei diesem Geschäft gewaltet hat. Nach der i. J. 1843 vorgenommenen Volkszählung enthielt der ganze Regierungsbezirk Oppeln gegen eine Million Einwohner, genauer 930,788 Seelen, unter denen sich 825,499 Katholiken befanden, [63] von welchen zuverlässig mehr als 600,000 dem slavischen Stamme angehören. Vergleicht man diese Summe mit den jezt vorliegenden allgemeinen Ergebnissen des Enthaltsamkeits-Vereines, so läßt sich annehmen, daß hier die Gesammtzahl der Verbündeten, mit Einschluß der beigetretenen Deutschen, nicht viel weniger als eine halbe Million betragen werde. In den südöstlichen Ländern, wohin der Strom von hier aus die Hauptrichtung genommen hat, und fortwährend weiter dringt, muß die Zahl schon jezt eine viel bedeutendere Höhe erreicht haben, und bis zum nächsten Auferstehungsfeste werden die Bekenner der Enthaltsamkeit nicht mehr nach Hunderttausenden, sondern nach Millionen zu schätzen sein.

[64]
V.

So verhielt es sich mit dem Gange und der nächsten Wirkung eines Ereignisses, welches aus kleinem unscheinbaren Saamen schnell zum großen fruchtbaren Baume emporgewachsen ist, der seine Zweige über die Länder des Ostens immer weiter verbreitet, und Oberschlesien eine ganz neue Zukunft verspricht. Schon jezt, gegen das Ende des Jahres, lassen sich die heilsamen Früchte mit Händen greifen, und eine Umwandlung ist eingetreten, die das Leben durchdringend in Bezug auf Kirche, Staat und Familie nicht ohne den wohlthätigsten Einfluß bleiben kann. Wenn aber in dieser großen Bewegung nicht Alles mit sanftem Glimpf und in wohlhergebrachter Ordnung abgelaufen, Mancher unliebsam berührt, und hier und da auch ein Mitglied des Klerus nicht immer im rechten Tact verblieben ist, so gehört dergleichen zu den menschlichen Dingen, die leicht zu begreifen, zum Theil auch zu entschuldigen, [65] aber niemals ganz zu vermeiden oder plötzlich zu ändern sind. Läßt doch auch ein Schiff, wenn es die Wellen durchschneidet, auf kurze Zeit noch eine Spur seines Laufes zurück. Die Zukunft wird die augenblicklichen Verluste reichlich ersetzen, die etwa begangenen Mißgriffe bald in Vergessenheit bringen.

Von den schweren Anklagen, die man auf mancher Seite gegen die Geistlichkeit erhoben, hat sich nichts weiter erweisen lassen, als daß einige christliche Dienstboten sich geweigert, länger bei den Juden zu dienen. Von Fanatismus und Judenhaß ist viel geredet worden, thatsächlich aber nichts zum Vorschein gekommen. Die Behauptung, daß die Menschen nur aus Furcht vor dem Geistlichen und aus Haß gegen den Gutsherrn ihr Versprechen geleistet, jezt aber, bereuend und ihres einzigen Trost- und Stärkungsmittels beraubt, entweder mit sich selbst zerfallen oder wohl gar in dumpfer Verzweiflung herumirren, hat durch das überall hervorgetretene Gegentheil sich selber Lügen gestraft. Solche und ähnliche Beschwerden, deren Ursache zu Tage liegt, sind nicht allein von dem Gubernium des Nachbarlandes, sondern auch von unserer Landesbehörde nach Gebühr gewürdigt worden. Der Ungrund jener Verdächtigungen und das Zeugniß der Wahrheit können nicht besser in’s Licht gestellt werden, als durch die Erklärungen, welche der Regierungs-Präsident, Herr Graf Pückler, bei verschiedenen Anlässen in amtlichen Schreiben niedergelegt hat, von welchen mir [66] gestattet ist, hier Gebrauch zu machen, obgleich der Inhalt längst kein Geheimniß mehr ist. Der Werth dieser Erklärungen wird noch dadurch erhöht, daß sie nicht allein auf die eingesendeten Anzeigen und Berichte gegründet, sondern noch vielmehr aus selbsteigener Anschauung und scharfer Beobachtung hervorgegangen sind. Sie lassen sich auch nicht kürzer und treffender, als durch die eigenen Worte des Herrn Grafen wiedergeben:

„Nicht ein scheues verschlossenes Umherschleichen, nicht der Druck des Gefühles, dem Verbrecher gleich zu Wasser und Brod verurtheilt zu sein, nicht Furcht vor der Geistlichkeit, Haß gegen den Gutsherrn, Mißtrauen gegen die Regierung machen sich als die Gesammt-Resultate der Umwandlung bemerkbar, sondern vielmehr eine sichtliche Hebung der Sittlichkeit, des Wohlbefindens, der heitern und zufriedenen Berufserfüllung, Rückkehr zur Ordnung und Gesetzlichkeit, Verminderung der Excesse, und Evacuation der Polizei- und Criminalgefängnisse. Die Mehrzahl der Berichte von den Stationen, wo eine große Arbeiterzahl beschäftigt ist, besagen in dieser Hinsicht Gleichlautendes. Die Landwehrmannschaften, welche sonst mindestens einen halben Tag Behufs ihrer Ausnüchterung in Beobachtung gehalten werden mußten, bevor sie in militärische Disziplin traten, sind diesmal überall verständig und behandlungsfähig angekommen, und haben sofort eingekleidet werden können; und was sonst unerhört, es sind mir Bataillone bekannt, die während der ganzen Uebungszeit nicht [67] einen einzigen Straffall gehabt haben. Ich selbst habe mich überzeugt, daß, sogar in Gegenden, wo eine sogenannte Abschwörung des Branntweins noch nicht stattgefunden hatte, Jahrmärkte ohne Betrunkene, Hochzeiten ohne Straßenlärm gehalten worden sind, daß die heimkehrenden Vecturanten nicht mehr besinnungslos auf ihrem Fuhrwerk liegen, und die Wirthshäuser nicht mehr eine Stätte des Abscheu’s und viehischer Verworfenheit vorstellen. Dies Alles sind Erscheinungen, die der Menschenfreund nur mit inniger Freude begrüßen kann, und daß sie auch da sich bereits offenbaren, wohin ein directer Einfluß der Kirche noch nicht gereicht hat, darin liegt ein Beweis mehr, daß nicht fanatischer Zwang, daß vielmehr die Macht des Beispiels und der bessern Einsicht das wirksamste Motiv der äußeren Wandlung ist. Beruht aber die mächtige Wirkung nicht auf bloßer Kraftanwendung von Außen, hat sie sich hauptsächlich von Innen herausgebildet, ist sie eine Folge des Bedürfnisses der Zeit, und trägt sie daher, trotz ihrer ungewöhnlichen Darstellung, nichts künstlich Erzwungenes an sich, so wird sie auch Bestand haben.

Man hat, um die Sache der Enthaltsamkeit zu verdächtigen, das Wort gebraucht: es sei der Teufel durch Beelzebul ausgetrieben worden; wer aber dieser Beelzebul sei oder welches schlimmere Uebel an die Stelle des bekämpften und besiegten getreten, das hat man nicht klar zu machen vermocht. – Was die zur Sprache gebrachte Provocation des Judenhasses anbelangt, so hat sich dies bei [68] sorgfältiger Untersuchung nirgend bestätigt gefunden. Der Judenhaß ist weder gepredigt, noch wirklich erregt worden, wie lezteres schon der Mangel jedes Beispiels, daß eine Regung sich thätlich geäußert hätte, hinlänglich erweist. – Zu entschuldigen ist es, wenn Viele, die den Branntweindebit gewerbmäßig betrieben, und die nun plötzlich ihre Nahrungsquelle versiegt sehen, der Sache der Enthaltsamkeit abhold sind, und sie in anderem Lichte erblicken, als der unbefangene Beobachter. Wenn aber bei der Umstimmung des Volkes sich Angst und Schrecken der Branntweinschänker bemächtigte, wenn sie sich Befürchtungen überließen die, – zur Ehre Oberschlesiens, und ungeachtet der Vorgänge in andern Landestheilen, die sich für weit höher stehend erachten – noch nirgend verwirklicht worden sind, so mag man darin immerhin das Walten der Nemesis erkennen. Denn schuldlos ist wohl eine große Anzahl der Schänker nicht, an der traurigen auf’s Aeußerste getriebenen Demoralisation des Volkes durch die Zaubermacht der Branntweinflasche, und an dem traurigen Zustande, der es endlich in den heroischen Kampf gegen Gewohnheit und Leidenschaft drängte, und den schwersten aller Siege, den Sieg über sich selbst, zur rühmlichen Folge hatte. – Das Wunderbare des Totaleffectes kann (durch Witzworte und Anekdoten von Schalkstreichen) nicht verdunkelt werden – nicht die Thatsache widerlegt, daß unter Hunderttausenden, welche dem gebrannten Wasser feierlich entsagten, sich bis jezt äußerst wenige Ab- und [69] Rückfälle gezeigt haben; denn das Volk hat sich mit Aufrichtigkeit und Treue dem Entschluß der Enthaltsamkeit zugewendet, und entwickelt in der Ausführung eine moralische Kraft und Haltung, die ihm, wenigstens außerhalb der Provinz, gewiß nicht zugetraut worden ist. – Was das Verhalten und Streben der katholischen Geistlichkeit betrifft, das als verwerflich und bedenklich dargestellt worden, so halte ich dasselbe im großen Ganzen für rein menschenfreundlich, edel und beifallswerth, und darum seine Erfolge für gesichert, obgleich, wo so Viele wirken, nicht überall das rechte Maaß und die richtige Weise getroffen werden kann. – Die Beschuldigung, daß vorzüglich der B° eine leidenschaftliche Erbitterung gegen die Juden hervorgerufen, hat sich nicht erweisen lassen. Die Orte, an welchen die größte Versuchung zum Branntwein trinken stattfindet – die Schänkstätten – hat er allerdings dem Volke verhaßt zu machen getrachtet; er hat gezeigt, daß der saure Verdienst des Arbeiters, welcher größtenteils in die Tasche der Schänker floß, weit besser und segensreicher auf die wahren Bedürfnisse des Lebens verwendet werden könne; und die Herrschaft, die bisher die Schänkwirthe über die Trinker ausgeübt, mag er allerdings mit sehr grellen Farben geschildert haben. Traf dieser Angriff zunächst die Interessen der Juden, welche sich im Besitz der Mehrheit der Schänken befinden, so ist dies nicht die Schuld des Predigers gewesen. – Daß dieser Fremdling sonst gehässige oder staatsgefährliche Tendenzen in sich trage, läßt sich [70] nach Allem, was von ihm bekannt ist, auch nicht annehmen. Eine gültige Bürgschaft für das Gegentheil scheint mir in dem Schutze und der Aufnahme zu liegen, welche er von dem Erzpriester ° genießt, der mir als ein Mann bekannt ist, welcher den strengsten und eifrigsten Katholicismus mit den besten staatsbürgerlichen Gesinnungen in sich vereinigt.“ – Dies wird genügen, um alle jene grundlosen Gerüchte und Beschuldigungen niederzuschlagen. Zur Steuer der Wahrheit ist nur noch hinzuzufügen, daß unter den Bekehrten wirklich hier und da sich eine tiefe Reue kundgegeben hat, aber nicht des Gelübdes wegen, sondern darüber, daß sie dieses nicht früher abgelegt, und Jahre lang sich selbst um ihr Glück gebracht haben.

Mit besonderer Aufmerksamkeit habe ich zu beobachten und auch von Andern zu erfahren gesucht, welche Wirkungen das plötzliche Unterlassen des Branntweintrinkens in dem Gesundheitszustande wahrer Säufer hervorgebracht habe, besonders solcher, deren feste Nahrung fast allein oder hauptsächlich aus Kartoffeln bestand. Welche Besorgniß ich in dieser Beziehung früher gehegt, ist oben schon angedeutet worden; sie schien um so gerechter zu sein bei Menschen, die, auf eine völlig reizlose Kost beschränkt, im Branntwein die einzige Würze ihres Lebens fanden, und diese von Jugend auf als ein nothwendiges Bedürfniß sich angewöhnt hatten. Vor einem Jahre halte ich noch nicht zu widersprechen gewagt, wenn ein Mann von ärztlicher Erfahrung mit der Prognose hervorgetreten wäre, [71] daß durch die gänzliche Enthaltsamkeit von Branntwein in Oberschlesien viele Menschen in Nervenschwäche, Zittern und Wahnsinn verfallen, Manche wohl auch das Gelöbniß mit dem Tode bezahlen würden. Nur der Gedanke, daß diese Nachwehen der Trunksucht theils von selbst vorübergehen, theils auch geheilt werden können, und am Ende ein Sterben im Zustande der Nüchternheit immer noch einem plötzlichen Tode in der Trunkenheit vorzuziehen sei, vermochte mich einigermaßen über diesen Punct zu beruhigen. Jezt aber muß ich unumwunden bekennen, daß meine Befürchtungen nicht in Erfüllung gingen. Und daß dieses nicht geschah, erhöht bei mir noch mehr das Wunderbare des Ereignisses, und beweist in jedem Falle, welche große Macht eine ächte Begeisterung selbst auf die Natur und die Gewohnheit des Körpers zu üben im Stande ist. Zwar sind nicht Alle verschont geblieben von Reactionen des Nervenlebens, dem der gewohnte tägliche Reiz so plötzlich entzogen wurde; allein diese Krankheitserscheinungen haben sich im Ganzen so selten ereignet, daß sie kaum in Betracht zu ziehen sind. In den meisten Orten und Gegenden hat man von Erkrankungen in Folge der Entsagung nicht das Geringste gehört noch gesehn; hier und da ist bei Einzelnen eine gewisse Unruhe und Reizbarkeit zum Vorschein gekommen, die sich aber bald wieder verloren; Andere haben sich einige Tage lang schwach und zitternd verhalten, bei Wenigen hat dieses Zittern sich zum Delirium potatorum gesteigert; kein Einziger ist meines [72] Wissens an der Enthaltsamkeit gestorben. – Viel heftiger und schwerer als diese körperlichen Affectionen waren die Kämpfe und Versuchungen der Seele, bei welchen Viele eine wahre Feuerprobe zu bestehen hatten. Keiner vielleicht ist so hart versucht worden, als ein alter Trunkenbold in D. Piekar, der den Branntwein nicht mehr aus Gläsern, sondern aus einem großen Kruge zu trinken pflegte, welchen er täglich wenigstens dreimal füllen ließ. Sein Angesicht war durch die fortwährende Umneblung aus widerwärtige Weise entstellt, die Augen quollen stier und gläsern aus dem Kopfe hervor, sein Athem war wie Feuerflammen; zur Arbeit war er fast untüchtig, obgleich er die Besinnung nie völlig verlor. Nachdem dieser Mensch sein Gelübde gethan, zu welchem er sich rasch und aufrichtig entschlossen, wurde er von stärkerem Zittern als jemals, und bald auch von so brennender Begierde zum Branntweintrinken befallen, als ob ihn eine unwiderstehliche Gewalt in die Schänke fortreißen wollte. Mehrmal auf dem Wege dahin, kehrte er doch jedesmal wieder um. Am achten Tage wurde der Drang so heftig, daß der Arme bereits auf der Schwelle des Wirthshauses stand. Auch diesmal gewann er den Sieg über sich selbst, und am neunten Tage war er von jeder Versuchung befreit und zugleich von seinem Zittern vollständig geheilt. Der tapfere Streiter ist jezt ein glücklicher Mensch geworden; sein ganzes Aussehen hat sich veredelt, mit der Gesundheit ist auch die äußere Lage gebessert, [73] und seinem Gelöbniß hat er bis jezt unverbrüchlich nachgelebt. Andere dagegen sind merkwürdiger Weise nach erfolgter Entsagung von einem so großen Widerwillen und Abscheu gegen den Branntwein befallen worden, daß sie denselben im eigentlichen Sinne nicht mehr riechen konnten, ohne sich übel zu befinden. Einer der größten Säufer z. B., der in Gr. Chelm seine Wirthschaft verkauft und sich planmäßig vorgenommen hatte, das erhaltene Geld zu vertrinken, wollte lange von einem Gelübde nichts hören, erschien aber endlich in der Kirche, um es abzulegen. Der Pfarrer ist über die kaum erwartete Bekehrung so gerührt, daß er dem Gelobenden in einer besonderen Anrede dazu Glück wünscht, und in seiner Freude sich nicht enthalten kann, ihn am Altar mit einem Kuß zu umarmen. An demselben Tage ist der Mann genöthigt in’s Wirthshaus zu gehen, und ohne daselbst nur einen Tropfen zu trinken, fällt er nach kurzer Zeit unter Krämpfen zu Boden. Er selbst hat versichert, daß in dem Augenblick, als die Jüdin Branntwein an ihm vorübergetragen, ein so unbeschreiblicher Ekel sich seiner bemächtigt habe, daß er außer Stande gewesen, sich länger auf den Füßen zu halten.

Wie im Nervensystem weder eine Stumpfheit der Sinne, noch eine Abnahme der Empfindung und Bewegung dauernd zurückgeblieben, vielmehr in kurzer Zeit ein freieres und regeres Leben hervorgetreten ist, so hat auch im Gebiet der Ernährung kein bleibender Nachtheil oder [74] sonst eine erhebliche Störung, sondern das Gegentheil sich überall kundgegeben. Die Eßlust und Verdauung, bei Trinkern bekanntlich mehr oder weniger schlecht bestellt, hat nach der Entsagung des Branntweins sichtbar sich gehoben, das Aussehn ist gesünder und geistvoller, der ganze Körper kräftiger geworden. Dies bezeugen auf eine höchst auffallende Weise vorzüglich die Arbeiter, deren Beschäftigung eine große körperliche Anstrengung erfordert. So z. B. lebten die Lastträger, welche die Oderschiffe mit Eisen beladen, der festen Ueberzeugung, daß dieses schwere Geschäft sich ohne Branntwein nicht vollbringen lasse. Während der Arbeit wurde immer so viel getrunken, als nöthig schien, um einen mäßigen Rausch und eine künstliche Aufregung der Kräfte herbeizuführen. Am andern und zuweilen noch am dritten Tage lagen diese Menschen entweder matt und betäubt zu Hause, oder sie waren doch unfähig, zu demselben Geschäft zurückzukehren. Jezt bringen sie ohne Branntwein weit mehr als sonst zu Stande, und können täglich ihren Dienst verrichten.

Wie groß und unberechenbar erscheint bei dem enthaltsamen Volke allein der negative Gewinn für Gesundheit und Leben! Das Kind wird nicht mehr im Mutterleibe oder bald nach der Geburt mit Branntwein vergiftet werden, die armen Kranken werden nicht mehr an demselben Gifte sterben, der größte Theil der körperlichen Verletzungen wird künftig wegfallen, das vielfache Branntweinsiechthum und der Säuferwahnsinn werden verschwinden, [75] die Quelle so vieler die Gesundheit zerstörenden Leidenschaften wird verstopft, die Zahl der Unglücksfälle weit geringer sein, die Lebensgefahren werden sich zugleich mit den plötzlichen Todesarten vermindern, Mord und Todtschlag werden sich nicht mehr so oft ereignen, und viele Krankheiten werden leichter als sonst geheilt werden können – wenn die Enthaltsamkeit von Dauer ist. Welcher Gewinn aber für den Frieden der Seelen, für den allgemeinen Wohlstand, für die öffentliche Ordnung, für Sittlichkeit und geistige Fortbildung zu erwarten wäre, ergiebt sich schon aus den Beobachtungen, die oben darüber mitgetheilt wurden.

Vielfach ist behauptet worden, dem Volke dürfe der Branntwein nicht eher genommen werden, bis ihm ein gutes und wohlfeiles Bier, an dem in Oberschlesien noch großer Mangel ist, als besserer Ersatz geboten werden könne. Ich wünsche von Herzen, daß außer dem Wasser, welches immer das beste Getränk bleiben wird, überall ein nahrhaftes Bier zu haben sei; theils um dadurch die Rückkehr zur Branntweinflasche einigermaßen zu verhindern, theils auch um durch den mäßigen Genuß eines guten Erquickungsmittels die gänzliche Enthaltung vom Branntwein zu belohnen. Insofern aber jene Behauptung von der Ansicht ausgeht, daß in Ermangelung des Bieres der Branntwein nicht zu entbehren, und wenigstens als Surrogat eines besseren Reiz- und Stärkungsmittels vorläufig noch zu dulden sei, muß dieselbe nach den jezt gemachten [76] Erfahrungen als eine völlig grundlose verworfen werden. Denn nirgend als in Oberschlesien hat es sich klarer und entschiedener herausgestellt, daß der Branntwein für die meisten Menschen schädlich, für alle Gesunde überflüssig, und für die wenigsten Kranken heilsam ist. Nur Freunde dieses verderblichen Getränkes können hinfort noch länger dem Irrwahn huldigen, daß es als diätetisches Mittel zur Belebung der Nervenkraft, und zur Beförderung der Verdauung geeignet, oder als ein Gewürz zu betrachten sei, dessen Entziehung größere Nachtheile als die Anwendung bewirken könne. Wiederholt und mit der innigsten Ueberzeugung sei es gesagt: diese gefährliche und weit verbreitete Ansicht beruht auf einem Vorurtheile, welches, nichtig und falsch wie es ist, mit Stumpf und Stiel vertilgt werden muß. Wenn die Enthaltsamkeit irgend einen bleibenden Nachtheil für die Gesundheit hätte hervorbringen können, so wäre dieser ohne Zweifel zuerst bei jenen Menschen zu bemerken, die, in Armuth und Elend versunken, fast nur Kartoffeln und Branntwein genossen haben. Und dennoch ist es diese Menschenrasse – für welche ich selbst am meisten besorgt gewesen – die durch Verwerfung des Branntweins an Gesundheit und Lebensfrische das Meiste gewonnen hat. Bei meinem früheren Bedenken hatte ich vergessen in Anschlag zu bringen, daß von solchen Armen der größte Theil des Arbeitslohnes auf Branntwein verwendet wurde, mithin schon allein durch die Ersparung dieser bedeutendsten [77] Ausgabe auch Mittel zur Anschaffung besserer Nahrung in den Händen bleiben. Von diesen Mitteln wird nun auch fleißig Gebrauch gemacht, und eine solche Familie kann jezt in einer Woche mehr Fleisch verzehren, als sie sonst im ganzen Jahre nicht auf ihrem Tische gesehen. Ein Beispiel für viele: Die Frau eines Arbeiters, durch die Trunksucht des Mannes schon lange zur Bettlerin geworden, hatte öfters den Fleischer um einen Abfall von der Schlachtbank angesprochen, und auch gewöhnlich das Erbetene als Almosen empfangen. Endlich erscheint sie wieder, und nimmt mit prüfendem Blick ein großes und feistes Stück Fleisch in Betrachtung, schüchtern fragend, wie viel es wohl wiegen und kosten werde. Der bisherige Wohlthäter, schon im Begriff, ihr wie sonst einen Ochsenfuß hinzuwerfen, wird ärgerlich über das Ansinnen, und bedeutet die Fragende, ihn in Ruhe zu lassen, da sie ja doch nichts kaufen werde. Diese aber erzählt mit halb empfindlichen, halb frohen Reden: die Zeiten hätten sich seit Kurzem gar sehr geändert; früher habe sie betteln und mit den Kindern darben müssen, weil der Mann den ganzen Wochenlohn im Branntweinhause durchgebracht; jezt aber empfange sie jeden Sonnabend das Verdiente ohne Abzug, und könne eine ordentliche Haushaltung führen. Zur Bekräftigung des Gesagten zieht sie den klingenden Beweis hervor, berichtigt ihren Einkauf, und entfernt sich mit hoher Genugthuung von dem besänftigten Fleischer, der über die Veränderung der Zeiten sich nicht genug wundern kann. –

[78] Man darf es also glauben, daß die ehemaligen Trinker schon jezt für die Absagung des Branntweins nicht sowohl einen Ersatz (denn ein schädliches und überflüssiges Ding braucht gar nicht ersezt zu werden), sondern an Leib und Seele eine wahre Gratification empfangen, welche sie sich selbst verschaffen, und die ihnen sicher und gewiß ist, so lange sie in ihrer Treue zum Gelübde verharren. Und wenn ihnen überdies noch durch allgemeine Einführung des Bieres eine Güte erwiesen sein wird, so werden sie bei fortwährendem Fleiß unfehlbar ein physisches Wohlsein erreichen, dessen sie bisher in ihrem Leben noch niemals sich erfreuen konnten. Die Vorzeichen dieses glücklicheren Zustandes sind mir schon entgegengekommen, als ich unlängst auf einer Reise durch die östlichen Gegenden keinen einzigen Betrunkenen sah, und überall harmlose Menschen von besserer Haltung und Bekleidung und – verödete Wirthshäuser fand.

[79]
VI

Nachdem nunmehr der Verlauf und die Folgen des neuen Kreuzzuges gegen das Laster geschildert worden, zwar nur in einer Skizze, aber auf authentische Weise, so drängt sich nicht allein die Frage auf, wie es der Enthaltsamkeit in Zukunft bei uns ergehen werde, sondern es kehrt auch die Frage über den zureichenden Grund der ganzen Begebenheit, und über den ersten Anfang derselben von Neuem zurück. Und da in dem Vorhergehenden nur gelegentlich nachgewiesen ist, worin die Entstehung und der Fortgang der Sache nicht zu suchen, so wird das wahre bewegende Princip und sein Zusammenhang mit den secundären Motiven und Mitteln, so viel davon mit Sicherheit in Erfahrung gebracht werden konnte, nicht ganz mit Stillschweigen zu umgehen oder zu verschleiern sein. Freilich wird der Klerus sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, und noch weniger das Volk, welches die [80] Wirkung an sich selbst erfahren und ein lebendiges Gefühl von der Ursache hat. Der größte Theil der Geistlichkeit ist nämlich mit dem Volke schon längst darüber einverstanden, daß der errungene Sieg über den Urheber so vielen Elends nichts Anderes, als eine Gnade von Gott, ein Werk der ewigen Allmacht und Barmherzigkeit, eine Fügung der göttlichen Liebe und Vorsehung ist. Diese Erklärung aber, die man auf allen Straßen hören kann, befriedigt die gescheuten Leute nicht; sie wollen nach ihrer Art und Weise einen vernünftigen Grund; die Annahme eines außerordentlichen Einschreitens von Oben scheint ihnen in der jetzigen intelligenten Zeit nicht mehr geziemend zu sein, und mit frommen Redensarten sind sie nicht abzuspeisen.

Indem ich mich nun ganz auf den Standpunct der Klugen versetze und mir alle Mühe gebe, eben so scharfsinnig und verständig wie sie zu sein, muß ich vor Allem jene Erklärung abweisen, mit welcher man sich einstweilen oft zur Noth beholfen hat, diejenige nämlich, welche das Ganze aus der Macht des Beispiels und der öffentlichen Bezeugung hervorgehen läßt. Denn einer strengen Logik wird unmöglich entgehen, daß schon das erste Beispiel nur als Effect und nicht als Ursache passiren darf, dadurch also im Grunde nichts erklärt wird, da ja eben erforscht werden soll, durch welche Potenz diese Beispiele und deren so vielfache Nachahmung hervorgebracht wurden. Weiter in den Gegenstand eingehend, befinde ich, daß der von mir [81] gewählte rationelle Standpunct ziemlich unbequem, und offenbar mit großen Schwierigkeiten umgeben ist. Um der Bedeutung und dem Grunde des seltsamen Ereignisses auf die Spur zu kommen und dieses von allem Wunderbaren zu entkleiden, wird der Rationalist zunächst zweierlei Wege einschlagen können, je nachdem er dabei die höhere und freie, oder die niedere und gebundene Seite des Menschen vorzugsweise in Betrachtung zieht. Im ersten Falle wird er die Thatsache am liebsten als Folge einer Verstandesoperation, im zweiten als ein Naturereigniß betrachten wollen. Wenn es aber geschehen könnte, daß eine halbe Million Menschen, von welchen ein großer Theil im Zustande der Verwilderung und Betäubung dahingelebt, in wenigen Monaten zum klaren Bewußtsein erwachte, und blos durch verständiges Ueberlegen nicht nur zum Entschlusse, sondern auch zur That gelangte, einer tief eingewurzelten Lebensgewohnheit und Leidenschaft abzusagen, so wäre dies von allen Wundern eines der größten, das sich jemals auf Erden begeben. Eine solche, allein durch bewußtes Denken vollbrachte Veränderung und Bekehrung in Masse wäre noch ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Andererseits ist auch die menschliche Natur, insofern sie äußeren Einflüssen nothwendig unterliegt und unwillkürlich darauf zurückwirkt, keineswegs geeignet, ein so schnelles Umschlagen der Trunksucht in Enthaltsamkeit begreiflich zu machen. Das Sprüchwort „les extrèmes se touchent“ ist hier im Allgemeinen nicht anwendbar, [82] und hat bei dieser Sache alle Erfahrung gegen sich; ihm steht ein anderes gegenüber, welches ungleich passender und wohl zu beachten ist: „die Natur macht keinen Sprung".

Daß ein natürlicher Ekel und Abscheu vor dem Branntwein auf einmal eine große Bevölkerung überfallen und dadurch die Nüchternheit hervorgebracht habe, wird Niemand im Ernste zu behaupten wagen. Eben so wenig hat auch ein anderer unwillkürlicher Naturtrieb die Menschen mit Nothwendigkeit zur gänzlichen Aenderung ihrer Lebensweise bestimmen können; vielmehr hat die Natur sich heftig gegen diese Aenderung gesträubt, das Fleisch hat überall gegen den Geist gekämpft, und nicht ohne große Gewalt hat dieser die widerspänstigen Gelüste überwunden. Es fragt sich aber, ob nicht dennoch ein ursprünglich natürlicher Einfluß, nur auf abnorme oder krankhafte Weise, das Unerhörte zu Stande gebracht, also, daß die Begebenheit als ein epidemischer Proceß in das Gebiet der Pathologie zu verweisen sei, und eigentlich nur eine Krankheit die andere vertrieben habe? – Diese Vermuthung wird ohne Zweifel meinen verständigen Gönnern sehr plausibel erscheinen, wenn sie dabei noch analogisch berücksichtigen, daß in der That schon öfters gewisse krankhafte Nerven- und Seelenzustände mit allen ihnen anklebenden Thorheiten und Excessen durch eine Art von Ansteckung auf große Schaaren Volkes sich übertragen und seuchenhaft verbreitet haben; wie dies bekanntlich im finsteren [83] Mittelalter beim St. Veitstanz vorgekommen, bei den Zügen der Geiselbrüder, bei den Kindfahrten nach St. Michael, bei den Zitterern im Cevennengebirg nicht minder der Fall gewesen, und in allerneuester Zeit, wie mich bedünken will, auch bei dem politischen Wahnsinn unsrer Radicalen zu bemerken ist. Sehen wir aber schärfer zu, so zeigt sich leider, daß auch dieser glänzende Anhaltpunct sich nicht als Leitstern zum Ziele bewährt, und nur so viel Licht verbreitet, als eben hinreichend ist, um in der Sache das grade Widerspiel von dem zu erkennen, was ex hypothesi erwartet und vermuthet wurde. Denn die Bewegung, von der wir sprechen, ist wohl epidemisch, d.h. unter dem Volke, aber an sich keine Krankheit gewesen. Die krankhaften Zufälle, von welchen einzelne Trinker nach Absagung des Branntweins betroffen wurden, gehören weder zum Wesen der Enthaltsamkeit, noch haben sie mit dem Princip derselben irgend etwas gemein; sie sind als die lezten Wehen der Trunksucht zu betrachten, und nur dadurch entstanden, daß die üble Gewohnheit (altera natura) sich plötzlich ihrer Nahrung beraubt gefühlt hat. Urtheilen wir nach dem allgemeinen Ergebniß, wie es jezt aller Welt vor Augen liegt, so hat jene Bewegung nicht Irresein und Krämpfe, sondern Besonnenheit und Ruhe, nicht Siechthum und Ermattung, sondern Gesundheit und Kraft, nicht einen neuen Rausch, sondern Nüchternheit, nicht Thorheiten und Excesse, sondern Anstand und Ordnung, nicht Schaden und Zwietracht, sondern [84] Wohlbefinden und Friede im Gefolge gehabt, und anstatt von einem allgemeinen Erkranken begleitet zu sein, hat sie im Gegentheil als ein gesunder neuer Lebensproceß in ihrem ganzen Verlaufe sich dargestellt, und wahrhaft heilend und erlösend an Leib und Seele als die größte Wohlthat sich erwiesen.

Ist nun weder der Verstand noch die Natur, oder nach dem Ausdruck neuer Philosophen weder das bewußte noch das bewußtlose Denken als die Ursache des Ereignisses anzusehen, so werden wir diese anderswo suchen, und jene Mitte des Menschen betrachten müssen, wo Geist und Natur, Seele und Leib am innigsten verbunden sind, Denken und Fühlen sich begegnen, Sinne und Triebe zusammengehen, und im Centrum des Bewußtseins sich der Wille als Regent bewegt, einerseits vom Verstande wie andererseits von der Fantasie seine Eindrücke empfangend und hiernach seine Herrschaft übend. Diese Mitte ist das Gemüth, in welchem alle wesentlichen Vermögen und Functionen des Menschen sich durchdringen und zur Einheit verbinden, stärker oder schwächer, je nachdem sie beschaffen sind, immer jedoch auf solche Weise, daß nach Außen und gleichsam an der Oberfläche des Gemüthes die Thätigkeiten mehr als natürliche, nach Innen aber und in der Tiefe mehr als geistige sich offenbaren. Der Rationalist – ich muß mich ihm jezt empfehlen – betrachtet aber nur die Oberfläche; der Punct, wo diese in die Tiefe geht, ist auch genau die Grenze, wo er stehen bleibt; [85] weiter wagt er nicht vorzuschreiten, nicht allein aus Mangel an Fähigkeit, sondern auch aus Furcht, dem Mysticismus in die Arme zu fallen. Und weil er auf seinem Standpunct nur ein Spiel der sinnlichen Empfindungen und Triebe, der Ahnungen und dunklen Gefühle, der Leidenschaften und Begierden sieht, von welchen sich Aehnliches auch bei den Thieren findet, so nimmt das Gemüth in seinen Augen nur eine niedrige Rangstufe ein, und muß ihm als das größte Hinderniß eines klaren Denkens und bestimmten Wollens erscheinen. Deßhalb werden auch alle Wirkungen, die aus der Tiefe dieses Gemüthes stammen, ihm unverständlich sein, und sollte er jemals auf diesem Boden den Grund der Sache, die uns hier beschäftigt, suchen wollen, so würde er denselben kaum in etwas Anderem, als in einem blinden Triebe und in einer fast bewußtlosen Nachahmung finden können. Wer aber die Oberfläche durchdringend, sich nicht scheut, mit unbefangenem Geiste in jene Tiefe zu blicken, und selbst dazu sich hingezogen fühlt, der wird bei aller Dunkelheit deutlich erkennen, daß im Gemüth und Willen des Menschen das Wesen von Gesinnung und Charakter, die Heimath des Gewissens, der Urquell von Gedanken und Handlungen, das Organ aller Andacht und Begeisterung, das Mittel zu einer Verbindung mit Gott und die Grundlage jeder Religion enthalten ist. Die Religion aber muß wesentlich im Wollen sich bewähren, und deßhalb ist der Wille schon längst als der eigentliche Gottessinn mit Recht bezeichnet worden.

[86] Bei dem Ereigniß, worüber ich schreibe, kam es einzig darauf an, den Willen der Menschen durch die Kraft der Religion in einer bestimmten Richtung zu einem festen Entschluß zu bringen. Dazu hatten alle früher angewandten Mittel, selbst die religiösen, sich zu schwach gezeigt; es mußte eine außerordentliche Hülfe kommen und eine viel kräftigere Steigerung des Willens eintreten, wenn der Gedanke jemals zum Entschluß, und dieser zur That reifen sollte. Auf welche Weise hätte aber der Zweck wohl anders und besser erreicht werden können, als dadurch, daß der menschliche Wille mit dem göttlichen, und dieser sich mit jenem verband? Dies ist geschehen und vermittelt worden durch Priester und Glieder der Kirche, die, fest an der Ueberlieferung und den Verheißungen haltend, im beständigen Besitz jener geistigen Dynamik geblieben ist, deren mächtigste Hebel der Glaube, das Gebet und die Fürbitte sind. Durch den Glauben werden die Wunder gewirkt; das Gebet des Gerechten vermag viel bei Gott, und die Fürbitte ist auch ein Gebet, nur dargebracht für uns von den Vollendeten und Auserwählten, die Gott zu erhören am geneigtesten ist.

Ungeachtet der geringeren Bildung und der Gewohnheit des Branntweintrinkens hat das slavische Volk in Oberschlesien die Mißachtung nie verdient, in die es bei den Deutschen, besonders in Niederschlesien gerathen ist. Von Natur zum Frohsinn geneigt, mit schneller Fassungskraft und leicht beweglichem Gemüth versehen, im hohen [87] Grade genügsam, fleißig, anstellig und tapfer, ist es im Allgemeinen lenksamer als das deutsche geblieben, und zeichnet sich vorzüglich durch einen willigen Gehorsam aus. Es ist, um einen neuen Ausdruck zu gebrauchen, das gouvernabelste Volk von der Welt, und wird daher von großen und kleinen Herren viel regiert. Als sein höchstes Kleinod hat aber dieses Volk den lebendigen und angestammten Glauben sich bewahrt, trotz aller Ungunst und Mühe, die ihm denselben entreißen wollten, und ungeachtet des Verfalles selbst der kirchlichen Zucht. Durch die Sprache dem Einfluß mancher Versuchung entzogen und von dem Gifthauch der schlechten Presse noch wenig oder gar nicht berührt, haben die Eltern in ununterbrochener Folge den gläubigen Sinn auf ihre Kinder und Enkel vererben können. Will man den Ausdruck dieses Glaubens, und eine tiefe Anbetung Gottes kennen lernen, so muß man das Oberschlesische Volk in seinen Kirchen sehen. Und wer etwa die Zeichen solcher Andacht nur als mechanische Gewohnheit und als gedankenloses Außenwerk betrachten wollte, der hätte noch niemals in die Seelen dieser Menschen einen Blick gethan. Nein; sie lieben und fürchten Gott wirklich über Alles; die Devotion ist nicht erheuchelt, sondern aufrichtig gemeint, und kann auch durch das Gefühl der Schwäche und Sündhaftigkeit nicht vermindert werden. Indem sie zu Gott beten, dem allein Anbetung gebührt, rufen sie zugleich den Beistand der vollendeten Gerechten an, und hegen besonders ein kindliches [88] Vertrauen zu der Mutter des Erlösers, in welcher sie von jeher ihre mächtigste Fürsprecherin erkannt und hochgelobt haben.

Was man auch über den sogenannten Mariencultus sagen mag; im Grunde bezieht er sich nur auf Gott selbst, und die Kirche hat unabänderlich gelehrt, daß die gnadenvolle Jungfrau nicht als Göttin anzubeten, sondern als das liebenswürdigste Geschöpf zu verehren ist, wie dies auch in Italien, wo jener Cultus am eifrigsten stattfindet, schon der Anfang eines bekannten schönen Volksliedes bezeugt: „Eviva Maria, e chi la creò!“ Selbst die Andersglaubenden haben bei unbefangener Prüfung nicht mehr so großen Anstoß als sonst an dieser Sache genommen; die Nichtsglaubenden mögen, was hier folgt, mit Geduld vernehmen, oder besser ganz überschlagen. Der Katholik aber, der nach der Lehre der Väter an die Gemeinschaft der Heiligen und an die geistige Verbindung zwischen der streitenden und triumphirenden Kirche glaubt, ist folgerichtig genöthigt, auch die Anrufung der seligen Geister zu billigen, und an die wirksame Fürbitte der Heiligen, vorzüglich ihrer Königin zu glauben. Viele Christen haben überdies an sich selbst erfahren, daß die Verehrung Mariens eines der kräftigsten Mittel ist, die Herzen Gott näher zu bringen, und sich seiner Wohlthaten würdiger zu machen. So z. B. mag es unter den berühmten Wallfahrtorten zu Unserer Lieben Frauen kaum einen geben, von dem man nicht zu erzählen wüßte, daß Sünder daselbst bekehrt, [89] Unglückliche getröstet, Kranke geheilt, Krücken weggeworfen, oder andere Gnaden und Gaben erlangt worden wären, man möge nun solche Vorfälle durch den Glauben, durch die Einbildungskraft, oder auf irgend eine andere Weise erklären. Daher das allgemeine, Vielen unbegreifliche Bedürfniß jener Verehrung, besonders bei den Frauen, die Alle zu wissen scheinen, daß sie aus der alten und niedrigen Knechtschaft des Mannes erst seit dem Tage erlöst sind, an welchem Eine ihres Geschlechtes gewürdigt wurde, die Mutter des Heilands zu werden. – Diese Bemerkungen glaubte ich voranschicken zu müssen, bevor ich mit wenigen Worten das ursächliche Verhältniß berühre, in welchem die Religion zu unserer Sache der Enthaltsamkeit, oder richtiger, zur Entstehung der großen Bruderschaft von Mariä Lichtmeß steht. Die Thatsachen, auf die ich mich allein beschränken darf, sind folgende:

Am äußersten Saume des Landes gegen das alte Polen hin, in dem schon mehrmal genannten Dorfe, hat der kleine Pfarrer von jeher als einer der eifrigsten Verehrer der heiligen Jungfrau sich ausgezeichnet, und zu gleicher Liebe und Verehrung, so viel in seinen Kräften stand, auch andere Menschen zu erwärmen gesucht. In geistlichen Dingen wohlerfahren, und voll von einem Gottvertrauen, das durch Nichts zu erschüttern ist, pflegte er täglich die Fürbitte seiner himmlischen Patronin für die Bekehrung der Sünder anzurufen, und da er leider gesehen, [90] daß der größte Theil vom Saamen des göttlichen Wortes unter dem trunkenen Volke auf unfruchtbares Erdreich gefallen, und alle Mühe fast umsonst verwendet war, so legte er seit Jahren diesem Gebete[1] die bestimmte Intention zum Grunde, daß es der Mutter der Erbarmung gefallen wolle, die Menschen von dem Laster der Trunksucht zu befreien. Bei allen Bestrebungen, die Andacht zu der Hochgebenedeiten im Lande hervorzurufen oder neu zu beleben, war seine Absicht mit dahin gerichtet, die unglücklichen Trinker für die Enthaltsamkeit zu gewinnen und dazu vorzubereiten. Beschämt durch die unter den Protestanten entstandenen Mäßigkeitsvereine, zugleich aber auch getröstet durch die Kunde von Pater Mathew’s großen Erfolgen, trug er, seine kühnen Wünsche und schwachen Mittel erwägend, die Sache schon lange im Herzen, als diese, von einem anscheinenden Zufall begünstigt, fast urplötzlich in’s Leben trat. Durch den Irrthum eines Kalendermachers (in Schlesien erscheint kein katholischer Kalender) war das Fest Mariä Lichtmeß (Purificatio B. M. V.), welches am zweiten Februar gefeiert wird, unter die aufgehobenen Feiertage verwiesen, und deßhalb in der Stadt Beuthen an demselben Tage ein Jahrmarkt angesezt und abgehalten worden. Dies ertrug der Pfarrer von D. Piekar nicht. Die Ehre Mariens und ihres göttlichen [91] Sohnes, der am nämlichen Tage im Tempel dargestellt worden, schien ihm durch solche Profanation verlezt zu sein, und eine große Genugthuung zu erfordern. Schon am frühen Morgen stand der eifrige Seelenhirt vor dem Altar der Mutter Gottes, und nachdem er zuvörderst seine Gemeinde von dem Besuch des Marktes abgemahnt, proclamirte er feierlich die Enthaltsamkeit, und stellte die Sache zur Ehre und unter den Schutz Derjenigen, welche aus Demuth dem Gesetze sich gefügt, selbst aber keiner Reinigung jemals bedürftig, die durch das Laster der Trunksucht befleckten Sünder reinigen wolle. – Das Loosungswort war ausgerufen. Einige Wochen wurde über denselben Gegenstand noch ausführlicher gepredigt, wobei Pater Stephan sowohl in der Kirche und Schule, als auch bei einzelnen Personen als treuer Gehülfe zur Seite blieb. Inzwischen war auch am fünften Februar an Capellan Seeling nach Osnabrück geschrieben worden, und zu Ende desselben Monats dessen Antwort eingegangen. Geistliche Brüder in der Nachbarschaft wurden zu gleichem Eifer entzündet, ein polnisches Lied für die Schulen verfaßt und eingeübt, die Gelöbnißformulare entworfen und gedruckt, und der Verein durch die Aufnahme der ersten Mitglieder begründet und zu Stande gebracht. Dies geschah vor allen andern Orten in D. Piekar selbst, und am Feste von Mariä Verkündigung (25. März) gleichzeitig in den Kirchen zu Beuchen, Boguschütz und Myslowitz. Somit war der Kampf eröffnet gegen einen Dämon, der [92] wohl von sich sagen konnte: „Legion ist mein Name, und unserer sind Viele!“ – Da aber diese Gattung nicht ausfährt, als durch Gebet und Fasten, so begreift sich leicht, warum besonders während der indeß herangekommenen Fastenzeit die Flucht und Niederlage des bösen Geistes so reißend und allgemein wurde, daß alle unsaubern Thiere der Gardarener nicht hingereicht hätten, ihn und seinen Anhang aufzunehmen. Den ferneren Gang und das Ergebniß habe ich erzählt. –

Von Anfang bis zu Ende ist die so entstandene Bewegung eine religiöse geblieben und hat in kurzer Zeit ihr Ziel erreicht, gegen alle menschliche Voraussicht und Erwartung, ohne geistigen und physischen Zwang, ohne Beihülfe irgend einer Obrigkeit, und trotz alles Widerstandes, den ihr das Mißtrauen und der Eigennutz, der Spott und die Bosheit, die Schwäche und die Unentschlossenheit der Menschen entgegengesezt. Man darf also nicht darüber erstaunen, wenn das wunderbare Werk vom Volke als ein göttliches betrachtet und zunächst der mütterlichen Fürbitte zugeschrieben, die Mutter selbst aber nicht nur als Beschützerin, sondern auch als wahre Stifterin des Vereines angesehen wird; so wie es auch Viele giebt, die in diesem von D. Piekar ausgeflossenen Segen die reichsten Zinsen von dem dort eingelegten Actiencapital erblicken, aus welchem der Pfarrer seiner Herrin die neue Kirche erbaut[2]

[93] Ist nun die Sache, wie sie hier sich gestaltet hat, in ihrem tiefsten Grunde als eine Gottesthat aufzufassen, so muß auch vorausgesezt werden, daß Gott sie nicht als vorübergehende Erscheinung, sondern zum Heil des Landes als etwas Dauerndes gewollt habe. – Dem Menschen aber ist die Wahl zwischen Gutem und Bösem gestellt, sein Wille ist frei, und so lange das irdische Dasein dauert, bleibt er beständig der Freiheitsprobe unterworfen. Alle sind wankelmüthig, und die Slaven vielleicht noch mehr als andre Nationen. Es entsteht also die große Frage: Wird die Sache auch Bestand haben in der Zukunft? – Dies wird Niemand verbürgen wollen, der auch nur weiß, daß die Begeisterung kein anhaltender Zustand ist. Und darauf rechnen Manche, die das Branntweinbrennen nur


[94] vorläufig eingestellt haben, und schon im nächsten Frühjahr wieder zu beginnen hoffen, sicher, daß eine so außerordentliche Conjunctur, wie sie in diesem Jahre stattgefunden, sich nicht zum zweitenmal ereignen werde. In Wahrheit – man darf die Gefahren nicht verkennen und verschweigen, von welchen die Enthaltsamkeit bedroht ist, und selbst im günstigsten Falle noch lange umgeben sein wird. Das erste Feuer des geistigen Aufschwunges kann unmöglich von Dauer sein; die bloßen Gefühle, und wenn sie auch noch so sittlich wären, reichen zur Beharrlichkeit nicht aus, und auf die Stärke des eigenen Willens kann sich in der Stunde der Versuchung Keiner verlassen. Je mehr die Treue wanken und der Eifer erhalten sollte, desto häufiger würden auch die Gelegenheiten zur Umkehr wieder erscheinen, und die früheren Verführungskünste lockender als jemals aufgeboten werden. An schlimmen Beispielen würde kein Mangel sein, da noch mancher unglückliche Säufer zurückgeblieben, mancher auch von dem Gelöbniß wieder abgefallen ist. Der Bruch des lezteren hat sich allerdings in vielen Sprengeln noch gar nicht, in anderen nur als seltene Ausnahme von der Regel ereignet, ein Theil der Schwachen ist auch reumüthig wieder zur Tugend zurückgekehrt; allein schon jezt werden im Ganzen die Rückfälle häufiger bemerkt, vorzüglich in Gegenden und Orten, die dem Ausgangspuncte der Enthaltsamkeit ferne liegen. Gesichert wird also die Sache erst dann erscheinen, wenn in Beziehung auf den Geist der gute Wille [95] in der rechten Richtung erhalten, und in physischer Hinsicht der Körper von allem Branntweingenuß durch die neue Diät entwöhnt sein wird. Darüber sind alle kundigen Männer einer Meinung, nur in den Mitteln und Vorschlägen zur Erfüllung dieser zwei Haupterfordernisse ist eine vollkommene Uebereinstimmung bis jezt noch nicht hervorgetreten. Einige wollen, daß überall die Schulen vermehrt, Andere, daß Bierbrauereien und Sparcassen angelegt werden. Auch eine Zeitschrift, in polnischer und deutscher Sprache, soll herausgegeben, und ein Sittengericht eingeführt werden. Alles dies ist löblich und gut, und wird gewiß von vielem Nutzen sein, schwerlich aber allein die Enthaltsamkeit retten können. Die Mehrheit übrigens, zu welcher in diesem Falle ich mich selbst bekenne, hegt die feste Ueberzeugung, daß eine Wiederkehr der Branntweinpest nur durch dieselbe Macht zu verhüten ist, durch welche das Uebel überwunden worden, daß mithin auch das ganze Werk der Enthaltsamkeit nur gestüzt und erhalten werden kann durch die Kirche, die es aus ihrem Schooß hervorgebracht hat. Die Regierung wird allerdings viel beitragen können, die Gelegenheiten zur Versuchung zu mindern; wenn sie zum Kleinhandel mit Branntwein keine ferneren Concessionen ertheilt, und die schon gegebenen nach Möglichkeit wieder einzuziehen sich bemüht, wenn gleichzeitig für die gute Beschaffenheit anderer Getränke Sorge getragen und überall auf die Verfälschung derselben ein wachsames Auge gerichtet wird, [96] und endlich, wenn nicht allein jeder Betrunkene, der sich öffentlich sehen läßt, eingesperrt und bis zur Rückkehr der Nüchternheit in Gewahrsam gehalten, sondern auch der Schänkwirth bestraft wird, der zu dem Rausch das Material geliefert; die Hauptsache aber, und die eigentliche Aufgabe – den Willen zu regeln, den Entschluß zu befestigen und die Treue zu stärken – wird immer der Kirche zufallen, die sich zur Erreichung des Zweckes im Besitz der positiven Mittel befindet, während die Polizei sich nur der negativen bedienen kann. Unter dem Klerus giebt es auch nur Wenige, die nicht diese Aufgabe und die daran geknüpfte Forderung begriffen hätten. Wie daher jeder Urheber um sein eigenes Werk besorgt ist, so wird es auch den Geistlichen an gutem Willen nicht fehlen, das hier Entstandene vor dem Verderben zu bewahren, und die Früchte des gewonnenen Sieges sich nicht so leicht entreißen zu lassen. Diese löbliche Absicht zeigt sich bereits in verschiedenen Gutachten, Wünschen und Vorsätzen, die darauf ausgehen, dem eroberten Gute eine Zukunft und bleibende Stätte zu sichern. In der Schule z. B. sollen Mäßigkeit und Nüchternheit auf alle Weise an’s Herz gelegt, und diejenigen Kinder, welche das erstemal zum Tisch des Herrn gehen, dem Vereine beigesellt werden. Alljährlich soll um Ostern oder Pfingsten, oder auch am Jahrestage des ersten Gelöbnisses ein feierliches Dankfest stattfinden, und dabei die Aufnahme der Erwachsenen erfolgen, die das Gelübde noch nicht abgelegt haben. Auch der [97] verstorbenen Mitglieder soll im Gebete der Kirche gedacht, und auf der Kanzel bei jeder passenden Gelegenheit die Selbstüberwindung und Entsagung gepredigt, der zeitliche und ewige Lohn derselben in Erinnerung gebracht, und die Heiligkeit des gegebenen Versprechens eingeschärft werden. Allen Mitgliedern soll empfohlen werden, in ihren Gebeten jener so nothwendigen Tugenden zu gedenken, am Morgen einen guten Vorsatz zu fassen, am Abende eine Gewissenserforschung anzustellen, und dabei niemals zu unterlassen, die erhabene Beschützerin des Vereines um ihren Beistand anzurufen. Auf dem St. Annenberge, wo Einheimischen und Fremden die Enthaltsamkeit mit so reichem Segen verkündet worden, soll das Klostergebäude hergestellt, und dort in der Mitte von Oberschlesien durch Anstellung mehrerer Prediger eine beständige Mission für den Zweck des Vereines unterhalten werden, da kein anderer Ort so schickliche Gelegenheit darbietet, auf die Gemüther des Volkes zu wirken u. s. w. – Wie zweckmäßig diese Vorschläge und Entschließungen auch sein mögen, so ist doch nicht Alles damit gewonnen, wenn die Ausführung derselben der Willkür des Einzelnen überlassen bleibt, und nicht von der kirchlichen Behörde gutgeheißen, geregelt und zur Norm erhoben wird.

So lange der Strom noch in voller Bewegung einherging, mag es nicht wohlgethan und nicht an der Zeit gewesen sein, mit amtlichen Verfügungen sich ihm zu nahen, da sich bald erkennen ließ, daß er von einer Macht [98] bewegt wurde, gegen welche alle administrative Maschinen wenig oder nichts vermögen. Nachdem aber die Strömung nachgelassen, die Wasser sich verlaufen und das Land befruchtet haben, so gilt es jezt, was die Begeisterung gesäet, mit Besonnenheit zu ärndten; das Erdreich zu pflegen und den Segen zu benutzen; was tatsächlich und rechtlich sich gebildet, anzuerkennen und zu beschützen; was noch ungeordnet, zu ordnen; und damit die neue aus dem Felsen der Kirche entsprungene Heilquelle nicht versiege, sie mit einer dauerhaften Einfassung zu umgeben, und auf die beste Weise für Alle zugänglich zu machen. Jezt oder nie ist für die geistliche Obrigkeit der Zeitpunct und die Nothwendigkeit eingetreten, die Autorität walten zu lassen, das Werk in oberhirtliche Obhut zu nehmen, und ihm nach ihrer Weisheit die Sanction mit der bestimmenden Regel zu geben. Daß dieses bald geschehen werde, ist um so gewisser zu erwarten, als die Bischöfe des benachbarten Auslandes, wohin das neue Heilmittel erst aus unserer Diöcese gelangt ist, bereits dasselbe gethan und angeordnet haben. Die Erhaltung und Fortdauer der hochwichtigen Sache wird noch sicherer verbürgt sein, wenn die Vorsehung auf den jezt erledigten Stuhl von Breslau einen Bischof beruft, der seiner schweren Last und Aufgabe gewachsen, sich als würdiger Nachfolger der Apostel erweist. Dann wird unter solchem Haupte auch der übrige Organismus mehr und mehr sich restauriren, nach der Trunksucht werden noch andere Makel verschwinden, und [99] wie einerseits die Unwissenheit, Schwäche, Trägheit und Sinnenlust, so werden andererseits der falsche und tactlose Eifer und der Zornmuth sich allmählig vermindern, und endlich wird auch die rohe und lieblose Polemik des siebzehnten Jahrhunderts verstummen[3]. Die weltliche Obrigkeit [100] aber, sie wird in der Förderung des edlen Werkes der Enthaltsamkeit und Mäßigkeit gewiß nicht zurückbleiben wollen unter einem Könige und Herrn, der es für seine schönste Aufgabe erklärt, das Christenthum durch Leben und That zu beweisen, und „auf dem Wege der Bildung von Vereinen physische und moralische Leiden zu lindern.“ (Königliche Worte, in der Urkunde vom 24. December 1843.)

Wir Alle, die im Lande wohnen, sind noch aus einem besonderen Grunde verpflichtet, die Sache der Enthaltsamkeit


[101] zu fördern, selbst darin ein gutes Beispiel zu geben, und nach Kräften dahin zu wirken, daß für die unter der Herrschaft der Trunksucht verübten Laster und Verbrechen eine würdige Genugthuung geleistet werde. Denn auch auf geistigem Gebiete giebt es Nationalschulden, für welche, da sie von der Gesammtheit contrahirt worden, jeder Einzelne mit verantwortlich bleibt. Eine solche Schuld liegt vor, und Niemand wird behaupten wollen, daß allein die Branntweinbrenner[WS 5] und Schänker es gewesen, welche die Summe auf eine so schreckliche Höhe gebracht. Vornehme und Geringe haben bewußt oder unbewußt, direct oder mittelbar zu der schlechten Wirthschaft mit beigetragen, kein Geschlecht und kaum ein Stand ist davon ausgenommen, und nicht blos Diejenigen, die selbst aus dem Kelche des Verderbens getrunken, sondern auch Alle, die durch Rath und That, ja selbst durch Stillschweigen und Geschehenlassen zur Füllung des Sündenbechers mit beigetragen: sie haben ihren Antheil an jener Schuld zu bezahlen und haften solidarisch dafür nach einem höheren als menschlichen Gesetz. – Und ohne Schuld ist auch ein Theil des Klerus nicht, daß die Verwilderung des Volkes so sehr überhand genommen und so lange gedauert hat. Mögen daher auch die Priester, die schon durch ihr heiliges Amt zur Sühne des Lasters wie zur Verbreitung und Erhaltung aller Tugend vorzüglich berufen sind, in Wahrnehmung ihrer eigenen Pflichten sich am getreuesten erweisen und Allen mit aufopfernder Liebe voranleuchtend, [102] hinblicken auf das Beispiel ihres Mitbruders, welcher, da ihm eine Frau erklärte, sie werde den Branntwein nicht eher lassen, bis er dem Weine entsage, nicht nur mit Freuden auf diese Bedingung einging, sondern auch dem Weibe erlaubte, sich jeden Sonntag bei ihm das Gläschen zu holen, welches er selbst zu trinken pflegte. Dann wird der oft gehörte Vorwurf schweigen, daß die Geistlichen dem Volke schwere Lasten aufbürden, selbst aber keinen Finger bewegen.

Wir wollen Niemand beleidigen und haben auch keine bestimmten Personen im Sinn. Aber bitten wollen wir, daß Gott die Schwachen stärken, und überall das hybride Geschlecht Derjenigen vermindern möge, qui quaerunt quae Sua sunt, non quae Jesu Christi, die nur durch eine Irrung in’s Sanctuarium gekommen, und mit gefärbtem Schein bekleidet, der Welt zum Gefallen, der Kirche aber zur Betrübniß und zum Aergerniß dienen. Solche Menschen mögen zu vielerlei Dingen geschickt und brauchbar sein; allein um Berge zu bewegen, und die Thatsache der Erlösung unter den Menschen fortzupflanzen sind sie zu ohnmächtig, und zur Verbreitung des Reiches der Wahrheit und Gerechtigkeit vermögen sie nichts.

Ihr aber, hochwürdige Männer, die Ihr um Gott die jezt gestrittenen Kämpfe geführt, und mit Seiner Macht den unreinen Geist beschworen – fürchtet Euch nicht; denn es hat dem Vater gefallen, Euch den Sieg zu verleihen. An Euern Früchten seid Ihr zu erkennen. [103] Bittet, so wird Euch ferner gegeben werden; habet Salz in Euch, und haltet Frieden unter einander. – Wie im Leben des Welterlösers sich die ganze Zukunft Seiner Kirche spiegelt, so ist dasselbe Leben auch ein Spiegel für jeden Seiner Schüler. Tröstet Euch mit dem Schicksal des Meisters. Haben sie den Hausvater Beelzebul geheißen, um wie viel mehr Seine Hausgenossen; haben sie Euch als Aufrührer angesehn, dem Herrn ist es nicht besser ergangen; seid Ihr verhöhnt und verlästert worden, Er hat noch größere Unbill erlitten; und haben sie Euere Herrschaft für schlimmer und unerträglicher als die des Branntweinteufels ausgeschrieen, so wissen wir, daß Ihr keine Gewalt, sondern Barmherzigkeit geübt, und dafür keinen irdischen Lohn zu gewärtigen habt. Deßhalb betrübe und fürchte sich Keiner aus Euch Allen. Die Pfeile der Bosheit und des Unverstandes werden Euch nicht tödten, sondern früher oder später zurückfallen auf Diejenigen, die sie entsendet haben, denn Ihr seid die Nachkommen Jener, zu welchen der Herr gesagt: „Wer Euch höret, der höret Mich; wer Euch verachtet, der verachtet Mich; wer aber Mich verachtet, der verachtet Den, der Mich gesandt hat.“ Damit aber Niemand sich selber lobe, so gedenket der Worte, die der neue Apostel von Irland, Euer gleichgesinnter Bruder, noch unlängst zu einer Versammlung gesprochen: „dem Pater Mathew wird die große und heilsame Volksbewegung zum Verdienst gerechnet; aber meine Freunde, wenn ihr etwas nachdenket, [104] werdet ihr erkennen, daß diese Bewegung ursprünglich von Gott kommt, der den Pater Mathew nur als Werkzeug gebraucht, und daß auch noch tausend andere Menschen, und selbst Diejenigen, welche bewegt werden, unter Gottes Anregung und Beistand dazu beitragen.“ – Also auch Ihr, und wenn Ihr Alles vollbracht habt, was Euch aufgetragen war, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte, und haben nur unsere Schuldigkeit gethan. – Gaudete et exultate, quoniam merces vestra copiosa est in coelis!

     Am Vorabende des Festes Aller Heiligen 1844.



  1. Memorare, o piissima Virgo etc. Es rührt vom heiligen Bernhard her.
  2. Ich habe es nicht für unwichtig gehalten, dem würdigen Priester unter andern auch die Frage vorzulegen, welchen Eindruck der von Herrn Wit von Döring schon am ersten Februar in den Zeitungen erlassene Aufruf in ihm hervorgebracht habe. Darauf ist in einem Briefe Folgendes erwiedert worden: „Den vierzehnten Februar fuhr ich zur Aushülfe im Beichthören nach W., wo der junge und eifrige Pfarrer P. der bereits angefangenen Sache nicht nur sehr gern beitrat, sondern sich auch erbot, dieselbe im Kirchenblatt zur Sprache zu bringen. Bei dieser Gelegenheit bekam ich zum erstenmal den Aufruf des Herrn von Döring in die Hände, weil ich sonst keine Zeitungen lese, und dazu auch keine Zeit habe. Daß ich mich darüber sehr erfreute und noch mehr dadurch ermuthigt wurde, öffentlich und im weiteren Umkreise die Nüchternheits-Sache zu betreiben, werde ich zu Ehren des Herrn von Döring jederzeit eingestehen. – Non nobis, Domine, non nobis, sed Nomini Tuo da gloriam. – Gönnen Sie mir nur den jenseitigen Lohn; der irdische mag Allen zu Theil werden, die sich damit begnügen.“
  3. Spätere Anmerkung. Hier ist offenbar zu viel gesagt. Die deutsche Controverse wird sich auf keinen höheren Standpunct erheben, so lange die christliche Liebe durch Leidenschaft erstickt, die Unbefangenheit durch eingeschulte Vorurtheile verdunkelt wird, und die Tagespreise nicht eine edlere Haltung gewinnt. Am meisten werden die Gemüther entzweit und verlezt, wo eine größere Parthei sich fast im Alleinbesitz jener Presse befindet, und jeden Angriff sich erlauben darf, während die kleinere kaum ein Organ zu ihrer Vertheidigung hat. Dennoch könnten die Einen wie die Andern sich viele Mühen und Sorgen ersparen. Denn was ist das Ende von allen solchen Kämpfen und Befehdungen gewesen? – Ein Franzose (Franz von Champagny) hat so eben aufs Neue darauf geantwortet: „Der materielle, handgreifliche, sichtbare Sieg war meistens den Gegnern der Kirche beschieden. Was geschah aber zu Gunsten der Kirche? Nur Eines: ihr Gegner ist gestorben, und sie hat ihn überlebt. Ihr Gegner ist gefallen, weil er ein Mensch war; sie hat ihn überlebt, weil sie unsterblich ist.“ – Ich tadle die Lieblosigkeit auf beiden Seiten; aber die Minorität würde sich ohne Zweifel gelassener betragen, wenn sie nicht von der Majorität beständig gereizt und herausgefordert würde. Wie verfahren die privilegirten Breslauer Zeitungen in dieser Sache? Sie halten tägliche Umschau sowohl zu Hause als auch auf den Feldern der auswärtigen Brüderschaft, und sammeln mit Fleiß alle Disteln und Dornen, um diese sofort ihren katholischen Landsleuten zum Wohlgeruch darzubieten, nach Umständen auch in’s Gesicht zu werfen; und wenn ein verkommener Katholik die eigne Kirche lästert, so zeigen sie eine Theilnahme, als ob die Intelligenz den höchsten Sieg errungen hätte. Sind jene Blätter auch nur gerecht, sobald es sich auf dem andern Gebiete um die Anerkennung einer erfreulichen Thatsache handelt? Haben sie nicht die edelste Aufopferung, deren ein Mensch fähig ist, die Thätigkeit der barmherzigen Schwestern aufs Aeußerste verunglimpft? Haben sie die Sache der Enthaltsamkeit, die sich im Lande selbst ereignet, nur einmal nach ihrer ganzen Wichtigkeit betrachtet, ihren Umfang erkannt, oder sie auch allein nach den materiellen Folgen gewürdigt? Ist nicht dieses große und heilsame Ereigniß sogar von ihnen verspottet und verdächtigt worden? – Wahrlich, die Toleranz des achtzehnten Jahrhunderts hat wenig gefruchtet; aber die Intelligenz des neunzehnten, wie sie von den meisten Tagesblättern verstanden wird, hat das Uebel nur ärger gemacht. – „Der Branntwein ist nicht lutherisch und nicht katholisch, er hat gar keine Religion, er ist gegen alle Religion, und deßhalb müssen wir Alle uns vereinigen, und ihn gemeinschaftlich bekämpfen.“ So sprach der Pater Mathew, als er in der Gegend von London dem englischen Volke die Enthaltsamkeit predigte; und wenn er vom Sprechen ermüdet war, so bestiegen Protestanten, unter diesen sogar Prediger, und Juden die Rednerbühne, um den Vortrag in seinem Sinne fortzusetzen; und viele Tausende legten knieend ihr Versprechen ab, und ließen sich von ihm den Segen geben. – So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht, und unsere Liberalen haben den weitesten Weg zu machen, bevor sie den unbefangenen Geradsinn und die Liberalität der Engländer erreichen werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. entspricht nach Breslauer Quart in etwa 0,69343 Liter.
    1 Quart = 69,343 Zentiliter = 34,96 Pariser Kubikzoll
    1 Zentiliter = 0,01 Liter
    1 Zentiliter = 0,50412438 Pariser Kubikzoll
    siehe auch Quart (Einheit)
  2. entspricht der noch heute üblichen Angabe in Volumenprozent.
    siehe auch Johann Georg Tralles
  3. Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Inferno.
  4. Johann Christoph Gatterer
  5. Vorlage: Brantweinbrenner