Der Reiseprediger Gustav Werner

Textdaten
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Autor: Th. Georgii
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Titel: Der Reiseprediger Gustav Werner
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 236–239
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Reiseprediger Gustav Werner.

Von Th. Georgii.

Am Fuße der Achalm, eines der schönsten Berge der schwäbischen Alp, lagert sich die ehemalige Reichsstadt Reutlingen, umgeben von Obstgärten und Weinbergen; die letzteren haben in Folge sorgfältiger Pflege den alten Ruf des Reutlinger Weins, von dem Prinz Eugenius der edle Ritter sagte:

Lieber nähm’ ich Belgrad nochmalen ein.
Als mehr zu trinken von solch’ saurem Wein!

in neuerer Zeit glänzend widerlegt.

Die Werner’sche Anstalt bei Reutlingen.
A. Neues Wohnhaus. b. Küche. c. Aelteres Wohnhaus. d. Oekonomiegebäude. e. Papierfabrik, k. Mechanische Werkstätte und Schreinerei
g. Magazin. h. Gießerei, i. Wagnerei.

Am südwestlichen Ende der Stadt, hinter einem Reste alter Stadtmauern, über einen Wassergraben hinüber führt ein schmaler Steg zu fabrikartigen Gebäuden mit einigen Wohnhäusern, deren eines groß und geräumig, neu aus Backsteinen erbaut, über seinem Eingange die Inschrift „Gotteshülfe“ trägt; ihm gegenüber steht bescheiden das „Mutterhaus“; an der Fabrik liest man „Papierfabrik zum Bruderhaus“. An diese hat sich eine Maschinenwerkstätte mit Eisengießerei, Schreinerei und Wagnerei angeschlossen, im Mutterhause ist eine Schneider-, Schuster- und Buchbinder-Werkstätte eingerichtet; drunten am Flusse steht eine Gerberei und eine Mühle. Ställe mit stattlichen Reihen wohlgenährter Kühe, verschiedene Scheunen schließen das Ganze, das auf einen thätigen Besitzer hinweist, der Landwirthschaft und Gewerbe glücklich vereinigt. Deuten schon die Inschriften der Gebäude darauf hin, daß dies ein Gutsbesitzer und Fabrikherr eigener Art sein muß, so wird man darin bestärkt durch die große Anzahl von Kindern, die auf dem Hofe, in den Wohnräumen spielend, lernend, arbeitend, in allen Altersstufen dem Besucher begegnen.

Wir befinden uns in der Werner’schen Anstalt, wie sie in Reutlingen kurzweg genannt wird. Es ist dies eine große Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungsanstalt zugleich, gegründet von einem Manne und unter seiner Leitung fortgeführt von einer Brüdergemeinschaft, wie sie, auch die Wirksamkeit des bekannten Rauhen Hauses nicht ausgenommen, in gleich großartiger Thätigkeit zum zweiten Male in Deutschland nicht existirt. In Reutlingen selbst gehören hierzu der frühere Gasthof zur Krone, in dessen unterem Stocke das Verkaufslocal der verschiedenen Erzeugnisse, im oberen der Versammlungssaal und Wohnungen sich befinden; einige hundert Schritte weiter ein großes Haus, der erste Anfang und erstes Besitzthum Werner’s in Reutlingen, in dem jetzt eine Bandweberei betrieben wird und gleichfalls Wohnungen für die zahlreichen Familienglieder sich befinden, die in Reutlingen sich auf circa 600 belaufen. Ueber das ganze Land hat der Reutlinger Stamm seine Zweige gebreitet, über 20 Zweiganstalten gehören zur Gemeinschaft, die jetzt gegen 1500 Mitglieder, etwa 600 Erwachsene und 900 Zöglinge, von 2–20 Jahren, zählen wird, einen Grundbesitz von mehr als 2000 Morgen hat, und mit Gebäuden, Fabriken und Inventar ein Vermögen von über einer Million Gulden besitzen mag, von dem freilich Schulden in sehr bedeutendem Betrage abgehen.

Der Mann nun, welcher den Grund zu all’ Diesem gelegt, das Werk von kleinen Anfängen weiter geführt hat und noch jetzt der Mittelpunkt und die Seele des Ganzen ist, heißt Gustav Werner, ist geboren am 12. März 1809, seines Standes ein württembergischer Theologe. Er stammt aus einer angesehenen Beamtenfamilie, sein Vater starb als Director eines Collegiums,

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Gustav Werner.

seine Laufbahn machte er durch die „niederen Klöster“ und das Tübinger Stift, aus dem, wie bekannt, bedeutende Männer verschiedener Art schon hervorgegangen sind. Im Jahre 1837 war er Pfarrgehülfe in Waldorf, einem Dorfe bei Reutlingen. Schon damals wies sein Wort und sein Wirken auf die in Liebe thätige Seite des Christenthums hin: er gründete eine Kleinkinder- und Arbeitsschule aus freiwilligen Beiträgen, die seine Gemeindegenossen und auswärtigen Zuhörer, durch seine Vorträge begeistert, ihm freudig darreichten. Das war der erste Anfang. Da starb in dem Orte eine Mutter von sechs Kindern; eines mit 4 Jahren übernahm er zur Erziehung, die Lehrerin der Arbeitsschule führte ihm den Haushalt. Schon im nächsten Jahre hatte er zehn Kinder und konnte, von seinen Gemeindegenossen reichlich unterstützt, auf dem Gemeindebackhause einen eigenen Raum sich erbauen. Im Februar 1840 zog er mit seinen 10 Kindern nach Reutlingen, miethete dort ein größeres Haus, wobei er sich vornahm, seine Kinderbewahr- und Erziehanstalt höchstens bis auf 40 Zöglinge auszudehnen, – schon ein großes Ziel, wenn man bedenkt, daß Werner lediglich auf sich selbst angewiesen war; was die Arbeit der Kinder, namentlich Strickerei, einträgt und was an freiwilligen Liebesgaben in Folge seiner Vorträge, die er über Reutlingen hinaus ausdehnte, einging, mußte genügen. Ging es auch sparsam und dürftig zu, so reichte es doch, und bald konnte er eine, bald eine zweite Kuh anschaffen und einige Aecker pachten. Dazu bildete sich in Reutlingen ein Verein von Jungfrauen, die einige Stunden in der Woche für die Anstalt arbeiteten; später traten einige Jungfrauen ganz in die Anstalt ein, und wie diese gedieh, wuchs zugleich in Werner die Kraft und Zuversicht.

Die Predigten, welche Werner in der Umgegend und später in immer weiteren Kreisen, stets aber nur auf Verlangen, unter freiem Himmel, in Scheunen und sonst hielt, machten Aufsehen; mancher Pfarrer mochte sich durch den „Reiseprediger“ beunruhigt fühlen, und vielfach wurde ihm die Benutzung der Kirchen verweigert; auch forderte die oberste Kirchenbehörde ihn zu einer Erklärung auf. Sie ging dahin, daß er im Sinne des Apostels Johannes auf ein lebendiges Christenthum hinwirken wolle, seine Stellung sei dieselbe, wie früher, als er ein Kirchenamt bekleidet; die Behörde war zufrieden, es wurde dem Kirchenconvente jeder Gemeinde anheimgestellt, ob die Kirche Werner zu seinen Vorträgen überlassen werden solle.

Die freiere Bewegung der Jahre 1848 und 49 gab auch ihm freiere Bahn; allein mit dem Rückschritt auf dem staatlichen Gebiete hielt der kirchliche gleichen Schritt; es liefen Seitens der Geistlichen Beschwerden ein mit Zweifeln, ob Werner noch auf dem Boden der Landeskirche Augsburgischer Confession stehe. Die symbolischen Bücher spielen dabei bekanntlich eine große Rolle; da jedoch diese für das werkthätige Christenthum Werner’s zu eng sind und er es verschmähte, nur dem Buchstaben zu huldigen, so trat er als Geistlicher der Landeskirche aus, worauf ihm die Benutzung der Kirchen verboten wurde. Und so steht es noch heute.

Sein Werk aber gedieh trotz dieser nicht freundlichen Stellung zur Kirche fröhlich weiter. Von der richtigen Erkenntniß ausgehend, daß solche Anstalten sich selber erhalten müssen, mehrte er den Betrieb seiner Landwirthschaft; ferner richtete er mit Jungfrauen eine eigene Schule für seine Anstalt ein. Bald schlossen sich auch einige männliche Glieder der Gemeinschaft an, und nach [238] zehn Jahren zählte diese schon über 100 pflegende und gepflegte Personen.

Das Jahr 1848 mit seinen Regungen auf staatlichem, kirchlichem und socialem Gebiete eröffnete auch Wernern ein weiteres Feld; er erkannte, daß die Industrie, die Theilung und doch wieder die Gemeinsamkeit der Arbeit, statt die Kluft zwischen Capital und Arbeit, zwischen Herrn und Arbeiter immer mehr zu erweitern, und statt, wie vielfach behauptet wird, Sittenlosigkeit und Elend zu verbreiten, ganz besonders geeignet sei, auf dem Boden christlicher Liebe, Hingebung und Opferfähigkeit einer großen Anzahl der verschiedensten Kräfte nicht blos das geeignete Feld für ihre Thätigkeit und die Mittel zu einem genügenden Dasein zu geben, sondern noch weiter die Mittel zu schaffen, das Werk der Liebe immer mehr auszubreiten.

Werner spricht dies in einem seiner „Sendbriefe“ (als Handschrift für die Brüder gedruckte Mittheilungen, welche in Zwischenräumen von 6–8 Wochen seit etwa acht Jahren, so weit das persönliche Erscheinen Werner’s dies nicht thut, den Verkehr zwischen den Gliedern vermitteln) mit folgenden Worten aus: „Ich lernte die Kräfte kennen, welche im Menschen, namentlich im Weibe, für die Ausübung der Nächstenliebe verborgen liegen, ein reiches Pfund, was die katholische Kirche trefflich zu nützen weiß, während es die unsere fast ganz brach liegen läßt. Es wurde ihm klar, welch’ richtiger Gedanke der Stiftung von Klöstern zu Grunde liege, und daß unsere Kirche ähnliche ihrem Geiste entsprechende Anstalten zur Belebung und Bethätigung ihrer Grundsätze erhalten müsse. Um den Liebesdienst an den Armen recht besorgen zu können, so daß der Nächste geliebt wird wie wir selbst, müssen Personen ihn verwalten, die sich ihm mit ungeteilter Hingabe widmen. Diese Hingabe muß in voller Freiheit geschehen und bleiben, fern vom Zwange der katholischen Klöster, und muß stets zum Hauptgegenstand ihrer Thätigkeit Nutzleistungen für das Wohl der Menschen haben. Hierdurch werden die Gefahren abgewendet, die dem klösterlichen Berufe drohen, und Brennpunkte gebildet, in welchen das heilige Feuer geweckt und erhalten wird. In solchen Anstalten muß der Levitenstamm des alten Bundes, der kein Land besaß und des Herrn Eigenthum war, und dessen Dienst wieder dargestellt werden, dieses Salz und dieser Sauerteig des Volkes Gottes. Für diesen Dienst ist hauptsächlich das Weib berufen, das in der protestantischen Kirche seine volle Geltung noch nicht errungen hat und so oft müßig und verachtet am Markte steht. Ich sah im Geiste, welch großes Heil die Verwirklichung dieser Gedanken der Menschheit schaffen würde, und daß es nichts Anderes bedürfe, als daß das Wort Fleisch (die Wahrheit der Liebe Wirklichkeit) werde, um seine Herrlichkeit seine erlösende, heilende und beseligende Kraft zu schauen.“ –

Werner zögerte nicht, den Gedanken zur That zu machen; an Pfingsten 1850 kaufte er eine in Gant gerathene Papierfabrik um 40,000 Gulden. Es war ein kühner Schritt, in den Augen Vieler wohl eine Thorheit, da Werner keine Kenntniß von der Fabrication hatte, die Mittel zum Kaufe entlehnen und wohl noch ebenso viel auf die Herstellung verwenden mußte.

Er hat es, wenn auch mit Sorgen und Mühen, durchgefochten, und jetzt hat er, weil die Reutlinger Fabrik manche Nachtheile nicht bewältigen konnte, in Dettingen eine neue Papierfabrik gebaut. Der Bau ist 307 Fuß lang, 50 Fuß breit, drei Stock hoch, massiv, mit einem einstöckigen Hintergebäude von gleicher Länge und 46 Fuß Breite; der Betrieb ist auf 24 Holländer und 2 Papiermaschinen berechnet, von den ersteren sind acht, von den letzteren eine bereits im Gange; bis nächsten Sommer wird das Ganze vollendet sein. Die Thatsache einerseits, daß beinahe sämmtliche Maschinen aus der Werkstätte des Bruderhauses hervorgegangen, andererseits daß Werner, als er nach Dettingen ging, um mit dem Gemeinderathe über den Bau zu unterhandeln, kaum so viel Geld hatte, um die Zeche im Wirthshause zu bezahlen, während das Unternehmen einen Aufwand von über 200,000 Gulden erforderte, lassen der Thatkraft des Mannes und seiner Mitarbeiter, so wie der Lebensfähigkeit der Gemeinschaft überhaupt, verbunden mit einem unbesiegbaren Gottvertrauen, alle Anerkennung und Bewunderung zollen.

Der Bau dieser Fabrik kann als ein Abschluß der Thätigkeit Werner’s auf diesem Gebiete betrachtet werden, der, wenn er nicht blos äußerlich fertig, sondern auch mit seinem Betrieb und den dazu nöthigen Arbeitskräften als wesentliches Glied in die große Familien-Gemeinschaft sich einordnet und neben der Arbeit, Zucht und Ordnung für die einzelnen Glieder dem. Ganzen die Mittel zu immer freudigerem Gedeihen liefert, den Werth und die Bedeutung vollständig verdient, die Werner selbst unter den vielen Sorgen und Mühen während des Baues und jetzt, nachdem er vollendet, auf denselben legte und noch legt.

Für die Entwicklung des älteren Gebietes der landwirthschaftlichen Thätigkeit waren die Zeiten in den ersten Jahren des verflossenen Jahrzehntes besonders günstig. In dem gesegneten Schwaben nämlich traten, nachdem das Jahr 1849 so viel begraben, auch in der Natur Stillstand und Rückschritt ein; Wein, Obst und Kartoffeln geriethen nicht, Getreide nur mäßig, das Holz hatte keinen Werth mehr; die Noth stieg in manchen Gegenden des Landes, namentlich Waldgegenden, auf große Höhe; es konnte nicht fehlen, daß an Werner neben der allgemeinen noch manche besondere Aufforderung kam. Von vielen nur ein Beispiel. In Fluorn[WS 1], einem Dorfe des Schwarzwaldes, das noch außerdem mehrfach durch Hagelschaden heimgesucht worden war, wurde ein Dritttheil der Bürger vergantet; 70 Kinder sollte die Gemeinde, resp. die übrigen Glieder, die selbst nichts übrig hatten, unterhalten.

Werner brachte zunächst 20 von den Kindern bei sich und anderwärts unter; er kaufte sodann im Orte eine Mühle mit 40 Morgen Landes und verpflanzte auf dieselbe weitere 40 Kinder. Von der Mühe und der Noth, die anfangs auf dieser Ansiedlung herrschte, ließe sich ein langes Capitel erzählen, in seiner Weise so ansprechend und belehrend, als die Geschichte einer Ansiedlung im Urwald oder auf einer Insel. Jetzt besitzt diese Anstalt 300 Morgen Feld und ist in blühendem Zustande. Solcher Anfang hatte Nachfolge; billige Güterpreise auf der einen, die Noth auf der anderen Seite boten da und dort Gelegenheit und Anlaß; nicht selten gab ein bäuerliches Ehepaar, das Wernern anhänglich, Haus und Hof und seine Kräfte her zur Erziehung armer Kinder; mit einigen Kindern wird angefangen, im Laufe der Jahre wird eine Anstalt mit 60 Gliedern und eigener Schule daraus.

Hier wird in einem leer stehenden Schlößchen eine Filetstickerei eingerichtet, dort eine Ziegelei gekauft, und eine Erziehung für geistesschwache Knaben damit verbunden; bald ist es ein Wirthshaus, bald eine unbenutzte Wasserkraft, dann eine zu Grunde gegangene chemische Fabrik, die Werner erwirbt. Ueberall richtet er mit merkwürdigem Scharfblick dasjenige ein, was nach den Verhältnissen paßt; es sind, wie schon oben bemerkt, 22 Zweiganstalten, die alle, die eine mehr, die andere weniger, in gedeihlichem Fortgange sich befinden.

Fragt man nun nach dem Grund und Wesen der inneren Einrichtung dieser Gemeinschaft, so ist es eine große Familie; Werner und seine Frau sind Vater und Mutter, die anderen Kinder (eigene Kinder hat Werner nicht), große und kleine Geschwister. Keines erwirbt für sich, sondern nur für das Ganze, von dem Jedes empfängt, was es für des Lebens Nahrung und Nothdurft braucht. Man darf hierbei nicht an eine alle Verhältnisse mißachtende Gleichmacherei denken, die Unterschiede der einzelnen Glieder in der Gesellschaft finden vollständig ihr Recht. Werner steht in dieser Familien-Gemeinschaft nicht allein, es sind ihm unter seinen Kindern tüchtige Mitarbeiter und Arbeiterinnen geworden, die theilweise in Reutlingen mit ihm, hauptsächlich aber als Vorstände der verschiedenen Zweiganstalten wirken; sie bilden einen Rath der Aeltesten, hervorgegangen aus der Wahl der Hausgenossen, der mit Werner die Aufsicht und Leitung des Ganzen besorgt und monatlich einmal sich versammelt.

So weit Glieder eintreten, die Vermögen mitbringen, wird ihnen dieses gut geschrieben und bleibt ihnen, resp. ihren Kindern, vorbehalten; was sie erwerben, gehört der Gemeinschaft, die sie dagegen in gesunden und kranken Tagen vollständig versorgt. Wer ein Gewerbe hat, treibt dies fort; müßig gehen darf Niemand.

Der Austritt steht jederzeit frei, natürlich ohne Anspruch an das Vermögen der Gemeinschaft.

Der Grundgedanke einer Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungs-Anstalt ist noch jetzt maßgebend; es sind nicht blos Waisen, die überall her, auch über die Grenzen von Württemberg hinaus, zu ihm kommen, sondern auch Manches, an dem die Zucht der eigenen Familie vergeblich gewesen, wird Wernern zugewiesen; er [239] versucht es mit Jedem, schon bei Manchem ist es gelungen, wenn gleich Viele wieder gehen.

Neben denen, die ganz zu der Gemeinschaft gehören und in die Haupt- oder eine der Zweiganstalten eintreten, giebt es noch solche, die in ihrem häuslichen Kreise und Berufe bleiben, aber die Zwecke des Vereines nach Kräften befördern, namentlich durch regelmäßige Geldbeiträge; außerdem haften beiderlei Mitglieder neben dem Vermögen der Gesammtheit noch persönlich für Anlehen, welche die Gemeinschaft aufnimmt. Einen weitern Kreis, „Verein zu gegenseitiger Hülfeleistung“, bilden solche, welche einen jährlichen Beitrag von mindestens 5 Gulden als unverzinsliches Darlehen geben. Der Geist, der durch diese Familie, resp. ihre einzelnen Kreise weht, ist kein finsterer, kopfhängerischer, wie vielleicht Mancher als mit der Frömmigkeit nothwendig verbunden meint; der Unterricht ist ein allseitiger, und neben dem Worte Gottes werden Geschichte, Erdbeschreibung etc. gelehrt. Spiele und Spaziergänge finden häufig statt; die erwachsene Jugend bildet in Reutlingen einen Turnverein und eine Abtheilung der Feuerwehr.

Werner selbst ist eine hohe, kräftige Gestalt, mit freundlich ernstem Gesichtsausdruck; seine Vorträge sind, wenn auch mannigfach in alttestamentlicher Redeweise sich bewegend, ansprechend und in Verbindung mit seiner Persönlichkeit, wie der Erfolg es zeigt, ergreifend. Es sind nicht blos Arme und Verlassene, die sonst keinen Platz in der Welt hatten, die in das Bruderhaus sich flüchteten; der Verfasser kennt mehrere Männer, welche ein blühendes Geschäft, Ansehen und Stellung hatten, die mit Weib und Kind nach Reutlingen übersiedelten und jetzt zu den tüchtigsten Mitarbeitern Werner’s zählen; noch kürzlich hat ein württembergischer Gerichtsactuar sein Amt aufgegeben, um als Anwalt in die Gemeinschaft zu treten, die allerdings für die mannigfachen Beziehungen, in denen sie zu der Welt um sie her steht, einen Rechtsverständigen gut brauchen kann.

Der Verkehr zwischen den verschiedenen zerstreuten Anstalten geschieht theils durch die schon erwähnten Sendbriefe und die Versammlungen der Aeltesten; hauptsächlich aber wird er lebendig erhalten durch die Besuche, die Werner von Zeit zu Zeit macht, und die Vorträge, die er dabei hält. Seinen Namen „Reiseprediger“ verdient er vollkommen, er leistet Erstaunliches: vier bis fünf Vorträge an einem Tage, an verschiedenen Orten, die meist drei bis vier Stunden von einander entfernt liegen, ist für ihn nichts Seltenes; das Bedürfniß des Schlafes kennt er in geringem Maße, auch ist er ein gewaltiger Fußgänger.

Alle Jahre an Pfingsten wird eine Hauptversammlung aller Glieder gehalten. Die räumliche Verbreitung der engeren und weiteren Gemeinschaft erstreckt sich über Württemberg und einen Theil der deutschen Schweiz; eine besondere kirchliche Seele bildet sie nicht; sie steht innerhalb der Landeskirche, wenn sie gleich von der evangelischen Freiheit Gebrauch macht und ihr Christenthum auf ihre eigene Weise bethätigt.

Die Schwierigkeiten und Mängel einer solchen Gemeinschaft lassen sich natürlich nicht verkennen; sie sind da, wie in der Familie jedes Einzelnen, auch des Trefflichsten, natürlich nur in vergrößertem und erhöhtem Maßstabe, da es nicht blos viele, sondern zum Theil verwahrloste Kinder sind. Die Stellung der einzelnen Familien in der Familie sodann dürfte einer der schwierigsten Punkte sein; sie haben zwar eigene Wohngelasse für sich und die Kinder, der übrige Haushalt aber ist gemeinsam, in Reutlingen speisen z. B. sämmtliche Erwachsene, ledige und verheirathete, aus einer Küche in einem Saale, die Kinder desgleichen. Ob hierin nicht Widersprüche liegen, in wie weit überschüssige Kraft und Liebe über die eigene Familie hinaus für die Gemeinschaft noch übrig bleibt, kann zweifelhaft werden. Die Opferfähigkeit des Weibes, die Werner ganz richtig als ein Hauptmittel für sein gemeinnütziges Wirken erkannte, findet in der Liebe zu Mann und Kindern ihre naturgemäße Befriedigung. Werner kann, wenn er es sich auch nicht eingesteht, das Heirathen unter den Gliedern seiner Gemeinschaft nicht begünstigen, da sie dann jedenfalls nicht mehr ganz mit allen ihren Kräften derselben gehören, während gerade in der Gemeinschaft die Lust zu Ehebündnissen Anlaß findet.

Die Ordnung der Vermögensverhältnisse des Vereines wird gleichfalls noch manche Schwierigkeit zu überwinden haben; ob die ganze Schöpfung ihren Gründer überleben wird, ist noch die Frage, zur Zeit jedoch eine müßige, da Werner noch in guten Jahren einer trefflichen Gesundheit sich erfreut. Ein Züricher Pfarrer schließt seine Schilderung von Werner’s Wirken mit folgendem Urtheile, dem Jeder, er mag auf einem Standpunkte stehen, auf welchem er will, beistimmen kann: „Sicherlich läßt sich an dem Wirken Werner’s Vieles tadeln und aussetzen. Der Grundgedanke aber, daß es Viele giebt und Mehrere, als man oft meint, welche Beruf, Trieb und Fähigkeit haben, sich nur dadurch recht zu leben, daß sie ganz für die hilfsbedürftigen Nächsten leben und sich aufopfern, der ist ewig wahr; und daß immer diejenigen wieder aufstehen, die diesen Gedanken verwirklichen, das ist ein ehrendes Zeugniß für die Gottbegabung der menschlichen Natur. Bei aller menschlichen Unvollkommenheit ist das Wirken Werner’s ein solch köstliches Zeugniß für der Menschheit göttliche Würde, und Er – ein großer Mann, Einer der Edelsten und Tüchtigsten unseres Jahrhunderts!

Geschrieben soll Vorstehendes sein nicht zu persönlichem Ruhme des Mannes, den er selber am wenigsten begehrt, wohl aber als eine Mahnung an Jeden, in seinem Kreise und nach seinen Kräften das Gleiche zu thun, – es kann in der verschiedensten Weise geschehen, – zu sorgen, daß es nicht blos ihm selbst und den Seinen, sondern auch dem Nächsten wirklich und wahrhaftig wohlergehe auf Erden. Kommt aber Einer oder Eine der geneigten Leser und Leserinnen einmal ins Schwabenland, so mögen sie einen Besuch im Bruderhause zu Reutlingen nicht versäumen; wirkliche Theilnahme findet jederzeit eine freundliche Ausnahme.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fluern