Der Letzte seines Stammes (Hinter der Mainlinie)

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Der Letzte seines Stammes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 692–696
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Friedrich Wilhelm I. (Hessen-Kassel)
Hinter der Mainlinie – Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen Nr. 1
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Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
Nr. 1. Der Letzte seines Stammes.


Nach längerer Abwesenheit nach Cassel zurückgekehrt, dieser Perle unter den mitteldeutschen Städten, fand ich gar große Veränderungen vor. Auf dem kurfürstlichen Palais am Friedrichsplatze blähte sich stolz der preußische Adler; das weite, schöne Gebäude selber schien ausgestorben, alle Fenster waren dicht geschlossen und die sonst davor stehenden zahlreichen Posten eingezogen. An ihrer Stelle spazierte auf der Rampe ein einziger preußischer Musketier, der jetzt unter dem zurückgebliebenen Dutzend rother Schilderhäuser die Auswahl hatte. Erst im vorigen Jahre hatte der Kurfürst seinem Residenzschlosse einen neuen Anstrich gegeben, die eisernen Gitter an der Rampe und den Balconen schön vergolden lassen, und jetzt war ihm der Eintritt für immer versagt, und die prachtvollen Räume harrten des neuen Herrschers oder seines Statthalters. Eben wurde der Marstall des entthronten Kurfürsten nach Hanau abgeführt, um dort seinem Eigenthümer übergeben zu werden; ein großartiger Zug von vierzig Wagen und einhundert achtunddreißig Pferden, darunter das Leibgespann der dreizehn herrlichen Isabellen, mit welchen der Exmonarch auf dem Fürstencongreß zu Frankfurt ein so großes Aufsehen machte und selbst den Neid seiner gekrönten Vettern erregte. Ueberall erblickte ich preußische Fahnen, preußische Wappen und preußische Soldaten; dazwischen aber die Uniformen der nunmehr aufgelösten kurhessischen Armee, in denen meist stattliche und schmucke Leute staken. Und wenn die gemeinen Soldaten der vor Kurzem noch feindlichen Heere sich von einander etwas entfernt hielten, wandelten dagegen ihre Officiere oft Arm in Arm; es schien sich zwischen diesen bereits ein aufrichtig cameradschaftliches Verhältniß geknüpft zu haben. So bot die Stadt zwar ein fremdartiges Bild, aber das Leben und Treiben auf den Straßen war weit bunter und reger, als ich es früher gesehen, auch die Gasthöfe waren von Fremden und Reisenden überfüllt. Dennoch hörte ich die Geschäftsleute über noch immer stockenden Handel und Wandel klagen und die Befürchtung aussprechen, daß ihnen der inzwischen eingetretene Umschwung der Dinge schwere Einbußen zuziehen werde. Man versicherte mich, daß der Haushalt des Kurfürsten allein der Stadt jährlich viermalhunderttausend Thaler, die ganze Hofhaltung über zwei Millionen eingetragen habe, und wünschte nun als Ersatz einen preußischen Prinzen herbei, der hier seine Residenz aufschlagen möge.

Weniger die Einverleibung des Kurfürstenthums in die preußische Monarchie, als das persönliche Schicksal ihres früheren Herrschers schien den Leuten zu Herzen zu gehen. Man wollte die Schwächen und Auswüchse seines Charakters, die Miß- und Uebergriffe seiner Regierung entweder gar nicht mehr kennen oder suchte sie doch nach besten Kräften zu mildern und zu entschuldigen.

„Unser Kurfürst war ein braver, gutmüthiger Herr,“ sagte mir der Wirth einer Weinschenke, „und gewiß nicht übler als manche andere deutsche Fürsten, die jetzt noch fest auf ihren Thronen sitzen. Nur die unglücklichen Verhältnisse in seiner Familie und böse Rathgeber haben sein Gemüth verdüstert, seinen Sinn hart und störrig gemacht und ihn schließlich in’s Verderben gestürzt.“

Ein anderer dicker und rother Herr ging noch weiter. „Sehen Sie,“ sprach er, „wir hatten unter dem Kurfürsten fast gar keine Steuern, aber jetzt werden wir die Finger wohl nicht aus dem Geldbeutel kriegen. Und was haben wir im Uebrigen von dem neuen Regiment zu erwarten?! Wir Kurhessen sind ja den Preußen in allen Dingen um fünfzig Jahre voraus, namentlich an politischer Bildung, denn wir haben seit 1831 eine Verfassung und ein parlamentarisches Leben.“

„Ja,“ meinte ein Dritter, „bisher hätten wir uns eigentlich nicht zu beklagen; der preußische Gouverneur und der Administrator sind zwei milde, würdige Männer, die sich rasch Vertrauen erworben haben. Aber wie lange wird man uns die Beiden lassen? Das ist nur eine Lockspeise, und man wird bald andere Saiten aufziehen.“

Diese und ähnliche Aeußerungen befremdeten mich nicht wenig, und ich sprach darüber mit einem Universitätsfreunde, den ich hier aufsuchte und dem ich jene Unterhaltung mittheilte. „Ist das wirklich die Stimmung im Großen und Ganzen?“ fragte ich ihn.

„So ziemlich,“ entgegnete er. „Alles Neue und Fremde ist den Leuten zunächst zuwider, weil es sie in ihren Gewohnheiten, in dem Schlendrian ihres Daseins stört und sie zwingt, ihrem Denken und Thun eine andere Richtung zu geben. Dazu kommt die leidige Sentimentalität des Deutschen, der selbst den Tyrannen, der ihn Jahre lang gedrängt und gequält, noch bedauert, wenn diesen die rächende Nemesis endlich ereilt, ja ihn zurücksehnt. Andererseits hatte die preußische Regierung bisher in Deutschland wenig Sympathieen, und die Zeit ist noch zu kurz, als daß sie sich bei uns schon hätte einbürgern können; wenn sie jedoch mit Klugheit und Schonung unserer Eigenthümlichkeit verfährt, wie es allerdings den Anschein hat, werden wir uns allmählich, aber sicher mit ihr versöhnen und befreunden; zumal zwischen dem Stammescharakter des Kurhessen und dem des Altpreußen wirklich viel Verwandtschaft besteht: Beide sind in ihrem Wesen schroff und schwer zugänglich, dafür aber auch kernig und bieder. Was der eine Herr über die politische Bildung und das Verfassungsleben Hessens sagt, ist ganz richtig und Preußen kann in der That noch Vieles von uns lernen. Dagegen haben wir den Preußen schon Manches zu danken,“ fuhr mein Freund fort, indem wir einen Spaziergang durch und um die Stadt machten. „Es sind an und für sich Kleinigkeiten, die sie endlich weggeräumt oder umgekehrt uns vergönnt haben, aber für das Publicum von dem allergrößten Werthe und für das Wohl und das Wehe Einzelner oft geradezu entscheidend. Wie Sie wissen, war das Museum mit seinen Schätzen bis vor Kurzem Einheimischen wie Fremden hermetisch verschlossen; ebenso die Gemäldegalerie in der Bellevue, welche so viele kostbare Rembrandts und Rubens enthält, die unsre Künstler vergebens zu studiren und zu copiren nachsuchten. Der Eintritt hing von der Laune des Herrn Castellans ab und er gewährte ihn nur gegen Erlegung eines Thalers. Jetzt finden Sie im Museum täglich ein Gedränge von Besuchern, und unsre Maler segnen den preußischen Gouverneur, der den Herrn Castellan gezwungen, fortan Jedermann und gratis einzulassen. Die Geschichte von dem holländischen Thore kennen Sie. Sie wissen, daß die Casselaner seit Jahren umsonst für seinen Abbruch petitionirten und daß es einer der ersten Acte des preußischen Gouvernements war, das dem Verkehr so hinderliche Thor niederzureißen.

An dem Brückchen, das wir hier vor uns sehen,“ fuhr mein Begleiter fort, „zerschellte einst die Existenz eines wackern, strebenden Mannes. Er hieß Hartdegen und hielt eine Badeanstalt, die, so lange das Brückchen vorhielt, von den Casselanern fleißig benutzt wurde und ihren Besitzer ausreichend nährte. Allmählich wurde der Steg morsch und gefahrdrohend, weshalb ihn der Kurfürst einfach wegreißen ließ; denn im Gegensatz zu seinem Vater, der eine wahre Bauwuth besaß, waren ihm, wie Sie an dem schäbigen Aussehen der meisten Staats- und Domainengebäude bemerken können, selbst alle Reparaturen ein Gräuel. Vergeblich petitionirte Hartdegen um die Wiedererrichtung des Brückchens, vergebens erbot er sich solche aus eigener Tasche bewerkstelligen zu lassen: der Kurfürst versagte hartnäckig die Genehmigung, welche bekanntlich von ihm in Betreff jedes Prellsteines und jedes Zaunpfahls eingeholt werden mußte. So kam die Badeanstalt in Abnahme, denn das Publicum scheute den weiten Umweg über die große Fuldabrücke, und Hartdegen versank in Armuth und Elend. Jetzt ist auch das Brückchen wieder hergestellt.

Von ähnlichen Behelligungen, mit welchen der ‚brave, gutmüthige Herr‘ seine getreuen Unterthanen heimsuchte, kann ich Ihnen noch eine Menge erzählen. Wollte ein Ladenbesitzer ein neues Schaufenster einrichten, oder auch nur ein altes verändern, so hatte er zunächst einen detaillirten Plan nebst Zeichnung an die sogenannte Verschönerungscommission einzureichen, die erst wieder darüber an den Kurfürsten berichtete. Dieser corrigirte dann die Entwürfe, oder er forderte die Einreichung anderer Zeichnungen, oder er ließ mit der Entscheidung Monate und Jahre warten, und die Baulustigen reisten, um diese zu erlangen, ihrem Landesvater nicht selten in’s Bad oder in’s Ausland nach. Einen Hotelbesitzer machte jedoch die Verzweiflung kühn. Nach langem, vergeblichem [693] Harren begann er den Umbau seines Hauses ohne den erbetenen Consens und hatte ihn fast vollendet, als der Kurfürst heimkehrte und bei einer Spazierfahrt durch die Straßen das Attentat bemerkte. Diesmal aber, denn er war in seinen Gefühlen und Entschließungen eben unberechenbar, wandelte ihn eine gnädige Laune an; noch am selben Tage schickte er dem Verbrecher den Consens nachträglich zu und gleichzeitig wurden noch sechzehn ähnliche Gesuche genehmigt, die seit lange im Cabinet lagen. Nicht so gut erging es einem Besitzer in der Wilhelmshöher Allee, der in seinem Garten einen Pavillon zu bauen beabsichtigte, aber wiederholt abschläglich beschieden wurde, bis er trotzdem den Bau begann. Der Kurfürst gerieth in den fürchterlichsten Zorn und befahl seinen Gensd’armen, das Corpus delicti niederzureißen; was auch geschehen sein würde, wäre nicht inzwischen der Kurfürst nach Stettin abgeführt worden. Auf die viel erwähnte Reitbahnaffaire, die auch hierher gehört, brauche ich nicht zurückzukommen.

Wenn’s Ihnen gefällig ist, kehren wir nach der Stadt zurück. Dieses Pförtchen führt uns gerade nach der Bellevue. Daß wir’s passiren dürfen, verdanken wir gleichfalls der neuen Ordnung; bis dahin war es durch dreißig Jahre verschlossen. Der Kurfürst, damals noch Kurprinz und Mitregent seines Vaters, mit dem er in Zwietracht und Fehde lebte, ließ es verschließen, um seine im Schlosse von Bellevue wohnende Mutter zu ärgern. Die Kurfürstin, bekanntlich eine Schwester König Friedrich Wilhelm’s des Dritten von Preußen, hatte den Zorn ihres Sohnes erregt, indem sie sich weigerte, neben seiner ihm unebenbürtigen Gemahlin im Theater zu erscheinen. Als sie um des Friedens willen sich wieder dazu verstand, fand sie einmal ihre Loge verschlossen, [694] ein anderes Mal diese nur durch eine matte Oellampe erleuchtet; Beides auf Befehl des Regenten, der seine Mutter so öffentlich verhöhnen ließ. Dagegen verursachten die Bürger eine Demonstration, indem sie der Kurfürstin, die immer die allgemeine Achtung und Theilnahme genoß, einen Fackelzug brachten. Der Kurprinz nahm das für eine Beleidigung seiner Person und ließ gegen die friedlichen Fackelträger und das versammelte Volk durch seine Garde du corps einschreiten, die Mutter aber strafte er, indem er das Pförtchen hier, welches sie bei ihren Spaziergängen nach der Aue zu benutzen pflegte, zusperren ließ.“

Abends besuchte ich das Theater, wo die „Anna Liese“ von Hermann Hersch zum ersten Male gegeben wurde. Zur Zeit des Kurfürsten konnte weder dieses Stück noch der Brachvogel’sche „Narciß“ zur Aufführung gelangen; beide Dramen behandeln einen Gegenstand, zwischen welchem und der Gemahlin des Kurfürsten, mit der er in morganatischer Ehe lebte, mancherlei Parallelen in die Augen springen. Die kurfürstliche Loge, wo sonst die Flügeladjutanten und Hofchargen saßen, blieb leer, ebenso die Prosceniumsloge rechter Hand, wo man allabendlich den Kurfürsten und seine Gemahlin sehen konnte.

Der Fürst war, als er in Bonn studirte, wo er die Bekanntschaft der Frau Hauptmann Lehmann machte, ein hübscher elastischer Jüngling und in späteren Jahren eine gedrungene, kräftige Gestalt, bis ihn in letzter Zeit das Podagra etwas krumm zog. Er hatte die Gewohnheit angenommen, beim Sprechen, die Hände an den Lenden, den Oberkörper hin und her zu wenden, während der untere Theil bewegungslos blieb. Im Geiste sah ich ihn wieder in seiner Loge sitzen, mit dem kurzgeschorenen, graumelirten Haar, dem ernsten, finstern Gesicht, das sich nur selten zu einem Lächeln erhellte, wie er bald dem Schauspiele folgte, bald das Opernglas vor den Augen in’s Parterre hinabblickte. Im Geiste hörte ich ihn wieder inmitten der Vorstellung und ohne die geringste Rücksicht auf das in seiner Aufmerksamkeit gestörte Publicum sich überlaut mit seiner Gemahlin unterhalten, in dem schnarrenden Tone, der lakonischen Redeweise und den Infinitivsätzen, die er seinem Oheim Friedrich Wilhelm dem Dritten nachgeahmt haben mochte. Zuweilen, wenn er guter Laune war, hörte man ein „Guter Witz!“ oder „Kerl spielt famos!“ Zuweilen entlud sich aber auch ein eheliches Gewitter in der Loge, das die Frau Fürstin, indem sie die Gardine schloß, den Augen des Publicums zu entziehen eilte. In den letzten Jahren pflegte der alte Herr, der von den meisten Stücken jedes wohl schon ein paar Dutzend Mal gesehen haben mochte, während der Vorstellung sein Schläfchen zu machen.

Die Frau Gräfin von Schaumburg, Fürstin von Hanau, früher verehelichte Hauptmann Lehmann, soll die Tochter eines Weinschenken zu Bonn und eine berühmte Schönheit gewesen sein. Da sah sie der damalige Kronprinz, und seine Mutter, die Kurfürstin, welche mit ihm abwechselnd zu Bonn wohnte, soll ihn selber auf die reizende junge Frau und ihren graciösen Tanz aufmerksam gemacht haben; vielleicht aber kannte sie der Prinz schon genauer. Noch bis in die letzten Jahre hinein und wiewohl man behaupten will, sie sei älter als ihr im Jahre 1802 geborener Gemahl, konnte die Fürstin für eine Schönheit gelten; namentlich wurden die kleine, volle Gestalt und ihre mandelförmigen Augen bewundert. Von ihrem ersten Manne hatte sie zwei Söhne, die später der Kurfürst zu Herren von Scholley erhob; diesem gebar sie noch neun Kinder, sechs Söhne und drei Töchter, die nach ihr Grafen und Gräfinnen von Schaumburg, Prinzen und Prinzessinnen zu Hanau heißen.

Sie Alle wurden von ihrem Vatter allabendlich in’s Theater befohlen, wo sie insgesammt neben ihren Eltern in der „Kinderloge“ saßen, auch dann noch, als sie längst erwachsen und theilweise verheirathet waren. Eine der Prinzessinnen bat ihren Vater vergebens, für sich und ihren Gemahl eine besondere Loge miethen zu dürfen, und als sie dringender wurde, soll sie der Kurfürst bei offener Tafel hart angelassen haben. Während der Vorstellung beobachtete er heimlich die Prinzen, ob sie etwa mit den Schauspielerinnen Blicke wechselten. So oft er solchen Austausch oder gar ein entstehendes Liebesverhältniß witterte, entließ er die betreffenden Damen auf der Stelle, ohne sich daran zu kehren, ob er ihnen eine Abstandssumme oder bei längerem Contract die Gage für mehrere Jahre nachzahlen mußte. Dennoch konnte er’s bekanntlich nicht hindern, daß Prinz Fr. sich mit einer Demoiselle Birnbaum heimlich vermählte, und als der Kurfürst darob in rasende Wuth gerieth, soll ihn der Sohn mit Recht gefragt haben, ob er (der Vater) es denn besser gemacht? Auch die andern Prinzen wußten sich zu entschädigen, indem sie die verjagten Theater-Prinzessinnen in das hannöver’sche Grenzdorf Sp. setzten und Abend für Abend zu ihnen hinüberritten.

Man behauptet, daß außer den Ministern namentlich seine Privatinteressen ihn in die Arme Oesterreichs getrieben haben. Er besitzt einen großen Gütercomplex in Böhmen, den er, falls er sich für Preußen erklärte, gefährdet glaubte. Seinem in der österreichischen Armee dienenden Stiefsohn von Scholley hatte man dort ein Regiment versprochen. Namentlich – und dies war der Hauptköder und bestimmte seinen Anschluß an Oesterreich – waren ihm von der Hofburg Verheißungen gemacht worden, mit Beseitigung des anerkannten Thronfolgers einem seiner illegitimen Söhne die Nachfolge auszuwirken. In der elften Stunde schien der Fürstin, die bisher eifrig für Oesterreich agitirt hatte, die Sache mit einem Male bedenklich und sie versuchte, jetzt ihren Gemahl zur Umkehr zu bewegen, allein mit gewohnter Hartnäckigkeit hielt der Kurfürst an seinem Entschlusse fest und antwortete der dringender werdenden Gattin schließlich mit einem energischen Ausbruch seines bekannten Jähzorns.

Was die geistige Begabung des Kurfürsten betrifft, so ist dafür wohl ein Urtheil maßgebend, das ein Bonner Professor über den damaligen Studiosus gefällt und das nicht sehr empfehlend gelautet haben soll. Für Kunst und Wissenschaft hatte Friedrich Wilhelm der Erste gar keinen Sinn und hat auch für beide nichts gethan. Merkwürdigerweise und gleichsam in Vorahnung seines Geschickes kaufte und las er am eifrigsten alle preußischen Geschichtswerke, ebenso die in seinem Lande verbotenen Zeitschriften und Brochuren, namentlich den Kladderadatsch und alle Pamphlete, welche seine Regierung und seine Minister geißelten. Im Gegensatz zu seinem Vater und Großvater war der Kurfürst keusch und hielt in seiner Umgebung streng auf Sitte und Anstand. Er spielte nicht, trank nicht, rauchte nicht, sondern war mäßig und nüchtern, in seinen Bedürfnissen einfach und sparsam, ordnungsliebend bis zur Pedanterie, robust und abgehärtet. Die Dienerschaft murrte über die etwas knappe Hofhaltung und er paßte ihr genau auf die Finger, ließ es aber nie am Nothwendigen fehlen und entfaltete Gästen gegenüber Fülle und Pracht. Neben Theater und Parade bestand seine Hauptpassion in der Jagd, wo er in der Ausdauer, Gewandtheit und im Ertragen von Strapazen Allen voranging. Selbst bei empfindlicher Kälte erschien er ohne Mantel und zwang dadurch auch seine Gefährten und Officiere, dieses oft sehr erwünschte Kleidungsstück zu Hause zu lassen. Vom Theater liebte er hauptsächlich Opern und Possen, im Heere hübsche, kräftige Gestalten, weshalb man auch in der kurhessischen Armee so viele junge und schöne Officiere antrifft. Er kümmerte sich um Alles und mischte sich in Alles. Ohne seinen Befehl durfte in den Schlössern kein Stuhl gerückt, kein Bild umgehangen werden. Fand er seine Zwiebacke zu stark oder zu wenig geröstet, so schickte er einen Armeegensd’armen zum Bäckermeister in die Stadt und ließ das rügen. Einen Tapezirergehülfen befahl er sofort zu entlassen, weil der junge Mensch blasses Gesicht und rothe Haare hatte, was er nicht leiden mochte. Auf einem Spaziergange bemerkte er über dem Laden eines jüdischen Kaufmanns die Aufschrift: „Wallach, kurfürstlicher Hoflieferant“. „Jude hinten!“ befahl er, und schon am andern Tage las man: „Kurfürstlicher Hoflieferant Wallach“.

Der Kurfürst verarbeitete in Worten, mit Hand und Fuß seine ganze Umgebung: Frau, Kinder, Hofleute, Minister und Diener, unter vier Augen und öffentlich. Den Hofmarschall v. H. klemmte er buchstäblich zwischen Thür und Angel, so daß der Mann halb todt aus dem Palais nach seinem Hause getragen wurde. Selbst bei guter Laune waren Schimpfwörter, die wir hier nicht wiederholen mögen, seine Lieblingsausdrücke. So ertappte er den Major v. H. auf einem Pfade in den Anlagen um Wilhelmshöhe, die er für seine Person sich reservirt hatte, und rief gutmüthig: „H., dicker Schw… Gern verbotene Wege gehn!“ Die meisten seiner Diener und Höflinge ertrugen diese schmachvolle Behandlung mit unbegreiflicher Unterwürfigkeit; sie ließen sich schlagen, stoßen, treten und kamen wieder heran, sobald er ihnen rief. Nur wenige wagten ihm Widerstand zu leisten und ihre Manneswürde zu wahren; vor solchen hatte er Respect, aber er haßte und verabschiedete sie [695] bald. Zu diesen Wenigen gehören die Räthe Wigand, Mittler, von Stiernberg und der Kriegsminister von Ende, welcher, als der Kurfürst sich für Oesterreich entschied, dem General von Meyerfeld weichen mußte. Stirnberg trat einst in das Cabinet des Kurfürsten, und ihm ein Papier vorlegend, fragte er ihn in Gegenwart des Leibarztes ganz kategorisch: „Wollen königliche Hoheit nun unterschreiben oder nicht?“ Der sonst so ungebehrdige Monarch schien ganz verdutzt, ergriff gehorsam die Feder und unterzeichnete. Erst nachdem Stiernberg hinausgegangen, erholte er sich und brummte: „Grober Kerl, dieser Stiernberg!“ Aber auch Stiernberg erhielt mit den übrigen Ministern seine Entlassung, als der Kurfürst plötzlich die Concessionirung der Dienstmänner, welche er wegen ihrer blauen Blousen und rothen Mützen „Freischärler“ nannte, zu einer Cabinetsfrage machte. Später wieder zurückgerufen, war Stiernberg vielleicht der Einzige, der je solchem Ruf nicht Folge leistete.

Zuweilen stieß der Kurfürst auch in niedrigern Regionen auf ähnlichen und nicht immer auf passiven Wiederstand, was die vielbesprochene Geschichte mit dem Tapezirer Briggel lehrt. Dieser arbeitete im Palais, als der Kurfürst hinzukam, die Arbeit tadelte und schließlich den Stock erhob. Allein der unerschrockene Meister schwang drohend seinen Hammer und schwur Jedem, der ihn zu berühren wage, das Gehirn einzuschlagen. Darauf wollte es der Kurfürst nicht ankommen lassen; er nahm klüglich den Rückzug, und der Muth des ehrlichen Mannes imponirte ihm dermaßen, daß er ihn nach wie vor beschäftigte. Nur fanden seine Arbeiten fortan keine Gnade vor den Augen des Monarchen, der sie in der Regel mit diesen Worten abfertigte: „Ah, Briggel gemacht! Schlecht ist!!“

Von seiner Würde und erlauchten Abkunft war der Kurfürst innig durchdrungen und ungemein stolz darauf. Auch in den allerletzten Aeußerlichkeiten wollte er sich von Jedermann im Lande unterscheiden, und Niemand durfte ihm das Geringste nachmachen. Er allein fuhr sechsspännig mit einem Vorreiter, die Fürstin nur vierspännig, die Prinzen und Prinzessinnen in der Regel zweispännig. Wollte Jemand eine sechsspännige Extrapost haben, so mußten die Pferde wie Gänse in einer Reihe hintereinander vorgespannt werden. Als der Kurfürst einst bemerkte, daß die Droschkenkutscher um ihre Hüte ähnliche Tressen trugen wie seine Lakaien, mußte der Polizeidirector solche sofort entfernen lassen. Des Kurfürsten Hartnäckigkeit ist sprüchwörtlich geworden. Was er einmal angeordnet, nahm er auch dann nicht zurück, wenn er die Widersinnigkeit seines Befehls erkannt hatte; er glaubte sonst seinem fürstlichen Worte etwas zu vergeben. Noch in der Gefangenschaft auf dem Schlosse zu Stettin ließ ihm der König von Preußen die Rückkehr auf den Thron anbieten, falls er sich von dem Bündniß mit Oesterreich lossage. Aber sein Adjutant von Verschuer rief: „Bedenken königliche Hoheit: Ein Mann, ein Wort! Wie viel mehr das Wort eines Fürsten!“ Und der Kurfürst wies starr auch diesmal die ihm gebotene Hand zurück.

Der Kurfürst liebte seine Kinder und sparte für sie. Der Kummer seines Lebens war, daß sie ihm nicht ebenbürtig waren. Trotzdem hatte er sich um ihre Erziehung und Ausbildung wenig bekümmert; erst nachdem sie erwachsen und theilweise bereits verheirathet, begann er sie in strenge Zucht und Aufsicht zu nehmen. Die Söhne, schon Officiere, mußten, wenn sie ausfahren, ausreiten oder auf die Jagd gehen wollten, jedesmal die väterliche Erlaubniß einholen. Am Theetische saßen sie mit dem Helm zwischen den Knieen, steif und schweigend; sie durften nicht eher sprechen oder lachen, als bis es der Vater that. Mit dem Taschengelde wurden sie knapp gehalten, aber sie hatten kostspielige Bedürfnisse und machten deshalb Schulden. Einer der Prinzen saß anderthalb Jahr im Schuldthurme zu Frankfurt, in der sogenannten „Mehlwage“, bis sich der Kurfürst endlich erweichen und ihn auslösen ließ. Der damit beauftragte Hofrath Str. sollte den Prinzen mit der Eisenbahn nach Hanau, von hier in einem geschlossenen Wagen nach der Stammfeste Rumpenheim bringen. Der Hofrath ließ seinen Gefangenen in den Wagen steigen, begleitete ihn aber nicht, sondern kehrte mit dem nächsten Zuge nach Frankfurt zurück, wo er das Theater besuchte. Wie er aufblickt, entdeckt er in einer Loge des ersten Ranges den Prinzen, der denselben Zug benutzt hatte. Voll Entsetzen eilt er zu ihm hinauf und beschwört ihn, ihm an den Ort seiner Verbannung zu folgen, doch der Prinz lacht ihn aus und bleibt guter Dinge in Frankfurt. Der Kurfürst aber nimmt die Meldung seines Abgesandten mit einer Fluth von Püffen entgegen.

Die Fürstin sparte gleichfalls so viel Geld als möglich zusammen und ließ sich ein Grundstück und eine Besitzung nach der andern verschreiben, aber sie gab nur ihren Kindern erster Ehe. – „Deine Kinder, Deine Sache!“ pflegte sie, den Kurfürsten copirend, zu, diesem zu sagen und ihm die Wechsel der Prinzen hinzuschieben. Einer der letzteren wußte sie aber doch zu überlisten, indem er auf seine Mutter hohe Wechsel unter der Firma zog: „Frau Lehmann, jetzige Gemahlin des Kurfürsten von Hessen“; welche die Fürstin, als sie ihr präsentirt wurden, sofort einlöste.

Diese Frau gilt für den bösen Dämon des Kurfürsten und auf ihr ruht der Haß des ganzen Landes. Wahrscheinlich thut man ihr unrecht, wenn man ihr alles Unheil zuschreibt, das unter der Regierung ihres Gemahls geschehen ist. Allerdings übte sie großen Einfluß auf ihn, aber neben ihr noch viele Andere, und zuletzt war der Kurfürst unberechenbar, denn er folgte oft allem Rath entgegen seinen Einfällen und Launen. Thatsächlich ist es jedoch, daß er, von ihr getrennt, sich stets weit milder und generöser zeigte.

Der letzte Act dieser Tragikomödie der Regierung des Kurfürsten spielt auf Wilhelmshöhe, das bekanntermaßen nur eine Stunde von Cassel gelegen und eins der schönsten und prächtigsten Lustschlösser in Europa ist. Dort hatte der bethörte Fürst die letzten Tage seiner Regierung verlebt, dorthin hatte er sich zurückgezogen, nachdem er sein Heer nach Mainz, seine Gemahlin nach Frankfurt geschickt; dort erwartete er mit zäher, einer bessern Sache würdiger Standhaftigkeit den Anmarsch der Preußen, die ihn nicht lange warten ließen und nun durch vier Tage hart bedrängten, eng einschlossen.

Es zog mich, diesen historisch gewordenen Ort wiederzusehen, und die Eisenbahn führte mich schnell hinaus. Aber wie im Märchen glaubte ich auf ein verwunschenes Schloß zu stoßen: tiefe Stille im Innern und ringsumher. Mit Mühe entdeckte ich den Castellan, der mich durch die endlosen Zimmerreihen führte, wobei er viele meiner Fragen überhörte, andere mir einsilbig und widerwillig beantwortete. Der Ahnensaal des Schlosses bildet eine Rotunde mit kuppelförmigem Dache und enthält in einer fortlaufenden Reihe von Wandgemälden die Bildnisse der hessischen Herrscher, von Ludwig dem Ersten, dem Kind von Brabant, bis auf Wilhelm den Zweiten, den Vater des letzten Kurfürsten. Für diesen ist merkwürdigerweise gerade noch ein Feld übrig.

Der Castellan wußte von seinem gewesenen Herrn nur Liebes und Gutes zu berichten. Er rühmte seine Einfachheit, Ordnungsliebe, Thätigkeit, Herablassung gegen den gemeinen Mann und Wohlthätigkeit gegen die Armen. Er bedauerte schmerzlich den Fortgang des Fürsten, der ihm, wenn er während des Sommers hier residirte, täglich eine Flasche Wein und Speisen von seiner Tafel reichen zu lassen pflegte. Ich suchte ihn durch ein Trinkgeld und die Prophezeiung zu trösten, daß ihm dergleichen nunmehr in Menge von allen Fremden zufließen würde, die gleich mir kämen, um das Schloß zu durchwandern, was bisher nicht gestattet war. Er glaubte mir, denn er lächelte, und so ging ich nach dem nahen Gasthofe, wo mich der Kellner zu der Bank am Rande des Parks führte, auf welcher der Kurfürst an heitern Abenden gesessen und nach den grünen Bergen gesehen. Auch des Kellners Sympathien waren bei dem Exmonarchen; er betheuerte, daß er als Kurhesse leben und sterben und sich für seine Person nicht annectiren lassen wolle, ob auch der König von Preußen seine ganze Armee gegen ihn schicke. Ferner zeigte er mir den Pavillon, wo die Preußen sich einquartiert und aus des Kurfürsten Keller redlich gezecht, seine Cigarren geraucht und auf seinen Betten geschlafen hätten. Endlich beschrieb er mir die dichte Postenkette, welche sie im engen Kreise um das Schloß gezogen, und die nächtlichen Wachtfeuer, um die sie gelagert.

„Der Hauptmann Lettow, welcher die Preußen commandirte, war gar streng,“ sagte der Kellner. „Er ließ jedes Mannsbild, das aus oder ein wollte, genau durchsuchen, aber bei den Weibern genirte er sich doch. Wenn die kurfürstlichen Wagen um Lebensmittel in die Stadt fuhren, begleitete sie stets ein Soldat; und ein Officier die Schweizergardisten, wenn diese aus der kurfürstlichen Küche ihr Essen holten. Königliche Hoheit selbst durften nicht einmal bis an die Thür treten.“

„Unsinn,“ entgegnete mein Gastfreund, der mich auch hierher [696] begleitet und den Kellner jetzt verabschiedete, „Unsinn! Der Kurfürst wollte natürlich nicht hinausgehen, sonst würde ihn Niemand daran gehindert haben. Jene strenge Durchsuchung aller Passanten war aber nothwendig, weil man wohl nicht mit Unrecht fürchtete, daß der österreichische Gesandte dem Kurfürsten noch immer Depeschen zugehen lasse. Daher zerbröckelte man auch die Zwiebacke des alten Herrn, was diesem besonders nahe ging. ‚Altes Brod essen!‘ soll er gebrummt haben, und als der Hofgärtner ihm sein Bedenken wegen der Wachtfeuer meldete, die leicht den Park in Brand setzen könnten, erwiderte er in klagendem Tone: ‚Schlimme Zeit, schlimme Zeit jetzt! Machen mir noch Feuer unterm Fenster an.‘“

Sonnabend am 23. Juni Abends acht Uhr erfolgte die Wegführung des Kurfürsten. An der Eisenbahnstation Grebenstein hatte sich eine Menge Casselaner und Bewohner der Umgegend eingefunden, die ihrem bisherigen Landesherrn in stummer Wehmuth das Abschiedsgeleite gaben. Bei ihrem Anblick mag sich des Kurfürsten eine Zerknirschung bemächtigt haben; er sprach zu seinem Adjutanten: „Braves Volk doch, treue Hessen!“

„In der That, ein seltenes Volk!“ bemerkte ich; „ein Volk, das dem Sturz seines sehr eigenwilligen Herrschers treues Mitleid zollt und von ihm nur mit Schonung und Pietät spricht. Ein treues und durch und durch wackeres Volk, das uns Preußen an Intelligenz gleichsteht, an Opfermuth und Ausdauer uns vielleicht überragt!“