Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Eltzbacher
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Anarchismus
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Drittes Hauptstück: Herrschaft und Verwaltung, Abschnitt 13, S. 170−181
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[170]
b) Der Anarchismus.
Von
Dr. Paul Eltzbacher,
Professor der Rechte an der Handelshochschule Berlin.

Literatur:

Bearbeiten
Es gibt nur zwei Werke über den Anarchismus, die auf einer einigermassen umfassenden Kenntnis der Quellen beruhen: Nettlau, Bibliographie de l’anarchie (1897): Eltzbacher, Der Anarchismus (1900), übersetzt ins Englische, Holländische, Französische, Spanische und Russische, besprochen von Kropotkin in der Zeitschrift Les Temps Nouveaux 6. Sept. 1900 und von Tolstoj in dem Buche Muss es denn sein? deutsch von Syrkin, 1901.

1. Das Wesen des Anarchismus.

Bearbeiten

Unter dem Anarchismus denkt man sich in der Regel eine Gemeinschaft von Menschen, die es sich zum Ziel setzt, durch schwere und sinnlose Verbrechen unsre friedliche Gesellschaft zu vernichten und an ihre Stelle das Chaos zu setzen. Man denkt an Bomben, die in die Mitte einer Volksvertretung [171] oder der harmlosen Besucher eines Kaffees geschleudert wurden, an Bluttaten wie die Ermordung des Königs Humbert von Italien, des französischen Präsidenten Carnot oder gar der alten Kaiserin Elisabeth von Österreich. Nichts hat so sehr wie diese Verbrechen die Aufmerksamkeit auf den Anarchismus gelenkt. Nichts scheint ihn so gut wie sie zu kennzeichnen.

Vielfach auch betrachtet man den Anarchismus als die äusserste Steigerung der sozialistischen Gegnerschaft gegenüber unsrer Gesellschaft. Trotz aller Proteste der Sozialdemokraten erklärt man die Sozialdemokratie als die „Vorfrucht des Anarchismus“, den Anarchismus als eine letzte Steigerung des Sozialismus. In der Tat ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Sozialdemokraten zum Anarchismus übergegangen, um sodann die Sozialdemokratie als würdige Genossin der „reaktionären Bourgeoisie“ aufs heftigste zu befehden. So scheint die Meinung gerechtfertigt, die in dem Anarchismus nichts anderes als einen aufs äusserste getriebenen Sozialismus erblickt.

Es ist erstaunlich, was für eine Unkenntnis über den Anarchismus besteht, nicht nur beim grossen Publikum, sondern auch bei denen, die sich berufsmässig mit ihm beschäftigt und mehr oder weniger umfangreiche Bücher über ihn geschrieben haben. Man hört und liest über den Anarchismus die seltsamsten Urteile. Bald soll er überhaupt kein bestimmtes Ziel haben, bald soll sein Ziel in der Beseitigung der Gesellschaft oder doch wenigstens der Rechtsordnung bestehen. Besonders verbreitet aber sind die beiden Meinungen, von denen die eine sein Wesen in einem verbrecherischen Kampf gegen alles Bestehende, die andere in einer Übertreibung sozialistischer Ideen erblickt. Was ist an diesen Meinungen wahres?

Das Wesentliche im Anarchismus treffen sie jedenfalls nicht. Er ist kein blosses Panier eines Verbrecherordens und keine blosse Übertreibung des Sozialismus. Der Anarchismus ist eine Staatslehre von ausserordentlicher Kühnheit und Grossartigkeit. Er ist die Lehre, die dem Staate die Daseinsberechtigung abspricht. Andere Staatslehren erörtern, ob der Staat ein grösseres oder geringeres Mass von Aufgaben haben soll. Der Anarchismus untersucht die Frage, ob der Staat sein soll, und er verneint sie. Er lehnt den Staat ganz allgemein ab, nicht nur die Monarchie, sondern ebenso auch die freieste Republik.

Auf diese Weise tritt der Anarchismus in entschiedenen Gegensatz zu allen anderen Staatslehren. Bei weitem den grössten Kreis von Aufgaben weist dem Staate der Sozialismus zu. Nach ihm soll der Einzelne nur ein bedeutungsloses Rädchen in der grossen Staatsmaschine sein, die gesamte Produktion, Landwirtschaft wie Industrie, soll vom Staat betrieben werden, jeder Einzelne für den Staat als dessen Angestellter arbeiten und auf diese Weise in eine vollkommene Abhängigkeit von ihm herabgedrückt sein. Nicht ganz so weit geht der Konservativismus. Er denkt nicht daran, dem Staate die gesamte Produktion zu übertragen, aber er ist durchdrungen davon, dass der Einzelne in der Freiheit seiner Bewegung in erheblichem Masse um des grossen Ganzen willen beschränkt sein muss und dass der Staat deshalb einer weitgehenden Macht über ihn nicht entraten kann. Noch ein geringeres Mass von Aufgaben will dem Staate der Liberalismus übertragen. Für ihn liegt das wertvollste Mittel einer gedeihlichen Entwicklung in einer möglichst weitgehenden Freiheit des Einzelnen, der „Racker von Staat“ ist nur geeignet, diese Entwicklung durch täppische Eingriffe zu stören, deshalb gilt es, seine Macht auf ein Mindestmass zu beschränken. Der Anarchismus will den Staat gänzlich aus der Welt schaffen. Nach ihm kann alles das, was nach den anderen Staatslehren dem Staate obliegt, viel besser durch das freie Zusammenwirken völlig unbeschränkter Einzelner erreicht werden. Wenn man erwägt, dass der Sozialismus dem Staate den grössten Kreis von Aufgaben zuweist, der Konservativismus einen kleineren, der Liberalismus einen möglichst kleinen, so kann man den Anarchismus als einen auf die äusserste Spitze getriebenen Liberalismus bezeichnen.

Der Anarchismus beruht, gleich anderen Staatslehren und in noch höherem Masse als jene, nicht auf sorgfältigen und umfassenden Beobachtungen und streng gezogenen Schlüssen, sondern auf einer gewissen Seelenstimmung. Diese Grundstimmung des Anarchismus ist ein unerschütterliches Vertrauen in die Güte der Menschennatur und im engsten Zusammenhang damit ein glühender Hass gegen allen äusseren Zwang. Aus dieser Grundstimmung entnimmt der Anarchismus die Überzeugung, dass der grösste Teil der Übel, unter denen die Menschheit gegenwärtig leidet, durch den Staat und seinen Zwang verschuldet sei und dass nach Beseitigung des Staates [172] mit Leichtigkeit ein freies Zusammenwirken der Menschen zustande kommen und alle Leistungen des Staates weit übertreffen werde. Der Anarchismus hat freilich zu allen Zeiten seinem Ideal eine wissenschaftliche Begründung zu geben gesucht, wie sie dem Zeitgeist und den gerade herrschenden philosophischen Anschauungen entsprach. Seine wirkliche Grundlage ist doch immer nur jenes Gefühl von der Güte und Würde der Menschennatur gewesen, das ihn noch unvergleichlich kräftiger belebt als den Liberalismus.

2. Godwin, Stirner.

Bearbeiten

Im Jahre 1793 veröffentlichte der englische Geistliche William Godwin (1756–1836) sein umfangreiches Werk An enquiry concerning political justice and its influence on general virtue and happiness. In ihm sind zuerst die Grundgedanken des Anarchismus mit Entschiedenheit ausgesprochen.

Nach Godwin muss Richtschnur unseres Handelns das Wohl der Gesamtheit sein. Der Staat aber ist eine Einrichtung, die dem Wohl der Gesamtheit im höchsten Masse widerstreitet. Jede Regierung ist Tyrannei, die Monarchie wie die Republik, denn in der einen wie in der andern ist die Selbständigkeit unserer Entschliessungen vernichtet und dadurch aller Fortschritt gehemmt. Deshalb muss der Staat beseitigt werden. Die Menschen sollen allerdings auch in Zukunft Gesellschaften bilden, aber diese Gesellschaften soll kein Zwang, nicht einmal der von Verträgen, zusammenhalten. Jeder Einzelne soll nur das Wohl der Gesamtheit im Auge haben, so wird ein völlig freies Zusammenwirken alle die Aufgaben erfüllen, die im gemeinsamen Interesse erfüllt werden müssen.

Wie der Staat so verstösst nach Godwin auch das Eigentum wider das Wohl der Gesamtheit. Das Eigentum verteilt die Güter in der ungleichmässigsteii und willkürlichsten Weise und hindere dadurch ebensosehr die geistige Entwicklung der Menschheit wie ihren sittlichen Fortschritt. An die Stelle des Eigentums muss deshalb eine freie Güterverteilung treten, die jedem Menschen gibt, was er bedarf.

Der neue Zustand soll nach Godwin auf friedliche Weise herbeigeführt werden. Unermüdlich müssen diejenigen, die die Wahrheit erkannt haben, sie verkünden und so die anderen überzeugen. Man darf hoffen, dass auf diese Weise in nicht zu ferner Zeit der Staat und das Eigentum wie Wahngebilde verschwunden sein werden.

Diese edlen Gedanken eines weltfremden Menschenfreundes tragen noch ganz das Gepräge des achtzehnten Jahrhunderts. Sie haben wenig Einfluss gehabt. Fünfzig Jahre lang sind sie die einzige anarchistische Lehre geblieben. Erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kam der bayerische Mädchenschullehrer Johann Caspar Schmidt (1806–1856) von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus ebenfalls zur Verwerfung des Staates. Unter dem Namen Max Stirner, unter dem er fortlebt, veröffentlichte er 1845 sein Buch Der Einzige und sein Eigentum.

Stirner erkennt keinerlei Pflicht an. Für jeden Einzelnen muss sein eigener Vorteil das höchste Gesetz sein. Der Staat, der sich die Förderung des Gesamtwohls zum Ziele setzt, ist eben dadurch der Todfeind des Einzelnen, er beengt ihn auf Schritt und Tritt. An die Stelle des Staates muss „der Verein von Egoisten“ treten, das heisst nicht etwa eine Vertragsgemeinschaft, sondern ein freies Zusammenwirken von Menschen, die alle nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben.

Ganz auf dieselbe Weise wie den Staat verwirft Stirner auch das Eigentum. Er erblickt darin eine lächerliche Einschränkung der persönlichen Freiheit. Nach ihm soll die Güterverteilung lediglich auf Macht beruhen, ein jeder soll das haben, worüber man ihm die Gewalt nicht zu entreissen vermag.

Das Mittel aber, um den erstrebten Zustand herbeizuführen, soll die Gewalt sein. Staat und Eigentum können nach Stirner nur von frecher Willkür beseitigt werden, und man darf in dem Kampfe gegen sie vor keinem Mittel zurückschrecken.

Alles dies wird von Stirner mit einem ungeheuren Aufwand an grossen Worten und einem gewissen geistigen Kraftmaiertum vorgetragen, wie es um die Zeit der Märzrevolution in Deutschland Mode war. Gänzlich unpraktisch wie sie sind, haben auch Stirners Gedanken keinerlei Einfluss erlangt. Gleich den Spekulationen Godwins sind sie blosser Lesestoff geblieben.

[173]

3. Proudhon, Bakunin, Kropotkin.

Bearbeiten

Auf eine höhere Stufe ist der Anarchismus erst durch den französischen Buchdrucker und Schriftsteller Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) gehoben worden. Gleichzeitig mit Stirner, aber völlig unabhängig von ihm hat er eine anarchistische Lehre geschaffen, die alle bisherigen weit hinter sich lässt. Unter den zahlreichen Schriften, in denen er sie entwickelt hat, ragen besonders hervor die Bücher Qu’est ce que la propriété? (1840), Système des contradictions économiques (1846), Confessions d’un révolutionaire (1849), Idée générale de la revolution au XIX. siècle (1851), De la justice dans la révolution et dans l’Eglise (1858) und Du principe fédératif (1863). Proudhon hat die Lehre, dass der Staat keine Daseinsberechtigung habe, zum ersten Mal wirklich durchdacht. Er hat nicht nur gegen den Staat deklamiert, sondern auch versucht, sich ein genaueres Bild von dem zu machen, was an seine Stelle gesetzt werden könne. Man kann ihn den ersten wissenschaftlichen Anarchisten nennen. Von ihm rührt auch die Bezeichnung Anarchismus her, die seitdem für die Lehre üblich geworden ist, die dem Staate die Daseinsberechtigung versagt.

Proudhon geht aus von der Idee der Gerechtigkeit, die der Massstab aller menschlichen Verhältnisse sein müsse. Von diesem Standpunkte aus verwirft er den Staat. Jede Herrschaft von Menschen über Menschen, möge sie nun in monarchischer, oligarchischer oder demokratischer Gestalt auftreten, ist nach ihm gleich ungerecht. Statt des Staates fordert er ein geselliges Zusammenleben, das nicht durch eine höchste Gewalt, sondern nur durch die bindende Kraft des Vertrages zusammengehalten wird. Freie Vereinigungen, „Föderationen“, sollen die gegenwärtigen Aufgaben des Staates übernehmen. Wie unsere kirchlichen Bedürfnisse sich unabhängig vom Staate durch freiwilligen Zusammenschluss befriedigen lassen, indem die Anhänger eines Glaubensbekenntnisses in Beziehung mit einander treten, Gelder zusammenschiessen, Geistliche anstellen und Kirchen unterhalten, ebenso muss dies auch mit allen unseren anderen Bedürfnissen möglich sein, etwa mit dem Bedürfnis nach gerichtlichem und polizeilichem Schutz, nach Verkehrswegen, nach Einrichtungen zum Besten der Landwirtschaft und der Industrie. Die dem gleichen Zweck dienenden Föderationen können sich dann wieder zu grossen einheitlichen Verbänden zusammenschliessen, so dass Kultusverwaltung, Ackerbau-, Industrie- und Handelsverwaltung, Verkehrs-, Justiz-, Heeres- und Finanzverwaltung vollkommen zentralisiert sind, und die Spitzen aller dieser Verwaltungen können sich endlich etwa in einem Ministerrat vereinigen, der über alle Angelegenheiten beschliesst, die den verschiedenen Verwaltungen gemeinsam sind. Damit ein Volk seine Kräfte voll ausnützen kann, muss es zentralisiert sein, aber diese Zentralisation braucht nicht die staatliche zu sein. Sie findet weit besser von unten nach oben, von der Peripherie nach dem Zentrum im Wege des freien Zusammenschlusses statt.

Anders als der Staat ist nach Proudhon das Eigentum mit der Idee der Gerechtigkeit durchaus vereinbar. In seinen freien Vereinigungen soll dem Einzelnen über die Güter, die er erzeugt oder durch Vertrag erworben hat, eine Herrschaft gewährleistet sein, die fast vollkommen dem entspricht, was wir Eigentum nennen. Proudhons bekanntes Wort „das Eigentum ist Diebstahl“ ist nichts als eine scharfe Kritik der gegenwärtigen, seiner Meinung nach ungerechten Verteilung des Eigentums.

Die Beseitigung des Staats soll nach Proudhon auf gesetzmässigem Wege erfolgen. Man braucht nur die Menschen von der Idee der Föderation zu überzeugen, so wird der Staat ganz von selbst zusammenbrechen. Das geeignetste Mittel aber zur Propaganda für die Föderation ist die Föderation selbst. Wenn die Menschen sich zu den verschiedensten Zwecken zusammenschliessen und wenn ihre Vereinigungen das, was jetzt der Staat tut, ungleich besser vollbringen, so wird bald jedermann die Wertlosigkeit des Staates erkennen, und dieser wird sich ohne jede Anwendung von Gewalt auf gesetzliche Weise auflösen. Durch die Gründung seiner bekannten „Volksbank“ hat Proudhon selbst ein Beispiel freiwilligen Zusammenschlusses zu schaffen gesucht.

Proudhon hat eine grosse Zahl von Anhängern gefunden und auch auf die meisten spätern Vertreter des Anarchismus starken Einfluss geübt. Erst von ihm an gibt es eine zusammenhängende Geschichte des Anarchismus. Das nächste Glied der Entwicklungskette bildet der russische Berufsrevolutionär [174] Michael Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876). In seinem unstäten Leben hat er auch einige anarchistische Schriften verfasst und sogar ein grosses Werk, Dien et l’Etat (1871), von dem allerdings nur Bruchstücke gedruckt sind. In diesen Schriften hat er dem Anarchismus eine neue Grundlage gegeben, auf jede ethische Begründung verzichtet und sich, freilich nur in sehr äusserlicher Weise, auf den materialistischen Boden des marxistischen Sozialismus gestellt.

Bakunin ist der Meinung, dass es keine andere Wissenschaft gibt als die Naturwissenschaft. Die wissenschaftliche Forschung kann uns nicht lehren, was sein soll, sondern nur, was gewesen ist, ist oder sein wird. Er stützt deshalb im Gegensatz zu den Früheren seinen Anarchismus nicht darauf, dass der Staat schlecht oder eine andere Gesellschaftsform besser sei, sondern er versucht den Beweis, dass die geschichtliche Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit den Staat beseitigen und an seine Stelle eine andere Gesellschaftsform setzen werde. Allerdings macht er sich diesen Beweis sehr leicht. Er begnügt sich mit der Behauptung, dass die menschliche Entwicklung sich mit Notwendigkeit aufwärts bewege, dass der Staat einer niedrigen Kulturstufe angehöre, unserer höheren Kulturstufe aber nur eine freie Gesellschaft entspreche, die infolgedessen mit unabwendbarer Notwendigkeit an die Stelle des Staates treten müsse. Die freie Gesellschaft denkt er sich im engsten Anschluss an Proudhon auf der Grundlage des Vertrages, und mit kühner Fantasie sieht er voraus, wie auf diese Weise nicht nur die Gemeinden sich zu Provinzen und diese zu Volksgemeinschaften vereinigen werden, sondern wie die Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa,“ ja zuletzt der Zusammenschluss aller Völker des Erdballs das Ganze krönen wird.

Nach Bakunin wird die Entwicklung mit dem Staate zwar nicht das Privateigentum als solches beseitigen, wohl aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das Privateigentum an Grund und Boden, den Arbeitswerkzeugen und allem andern, was zur Produktion erforderlich ist, gehört nach seiner Meinung derselben niedrigen Kulturstufe an wie der Staat. An seine Stelle wird die Entwicklung den Kollektivismus setzen, das heisst einen Zustand, bei welchem zwar die Gegenstände des Verbrauchs dem Eigentum des Einzelnen unterliegen, dagegen die Mittel der Gütererzeugung dem Eigentum der freien Gemeinschaften vorbehalten sind, die die Aufgaben des Staates übernehmen.

Die neue Gesellschaft wird nach Bakunin durch „die soziale Revolution“ herbeigeführt werden, einen gewaltsamen Umsturz, der den Staat und alle Staatseinrichtungen zerstören wird. Die soziale Revolution wird sich nicht auf ein einzelnes Volk beschränken, sondern alle Völker ergreifen. Sie wird nicht gegen Menschen, sondern gegen Einrichtungen wüten, wenn es auch kaum ohne Blutvergiessen abgehen wird. Sie wird von selbst durch die Macht der Verhältnisse herbeigeführt werden. Denen, die den Gang der Entwicklung voraussehen, liegt nur die Aufgabe ob, sie zu fördern und zu erleichtern und so bei der Geburt der neuen Gesellschaft Hebammendienste zu leisten.

Bakunin hat seine Gedanken mit einem recht hohlen Pathos vorgetragen. Trotzdem haben sie zahlreiche Anhänger und starken Einfluss auf die weitere Entwicklung erlangt, vielleicht nicht so sehr durch die Kraft seiner Persönlichkeit und durch die Unermüdlichkeit seines Wirkens wie durch die enge Verbindung, in die er den Anarchismus mit den mächtigen Zeitströmungen des Materialismus und des Sozialismus gebracht hat. Eng an Bakunin an schliesst sich namentlich die Lehre, die ein anderer Russe, Fürst Peter Alexejewitsch Kropotkin (geb. 1842), in einer grossen Anzahl von Schriften entwickelt hat, vor allem in den beiden Werken Paroles d’un révolté (1885) und La conquête du pain (1892). Kropotkin hat die Lehre Bakunins ganz ausserordentlich weiterentwickelt und vertieft. Nachdem er ein glänzendes äusseres Dasein seinen Ideen zum Opfer gebracht hatte, ist es das höchste Ziel seines Lebens gewesen, diese Ideen bis ins Kleinste auszubauen.

Auch für Kropotkin gibt es keine andere Wissenschaft als die Naturwissenschaft. Daher verzichtet auch er darauf, den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft als schlecht oder einen andern als besser hinzustellen, er unternimmt vielmehr den Nachweis, dass die Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit an die Stelle des gegenwärtigen Zustandes einen andern setzen werde. Überall erblickt er Anzeichen dafür, dass der Staat sich zersetzt, dass die Völker seinen ungeheuren Zwang nur noch als eine Last empfinden, die sie demnächst von sich werfen werden. Überall sieht er auch schon die Entwicklung der neuen, lediglich auf freien Zusammenschluss gegründeten Gesellschaft [175] sich anbahnen: das europäische Eisenbahnnetz, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und die Kartelle, die Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger und das Rote Kreuz, dies und vieles Ähnliches liefert ihm den Beweis, dass dem Vertragsgedanken die Zukunft gehört und dass freie Vereinigungen alsbald alle Aufgaben des Staates übernehmen werden. Sehr anschaulich stellt er uns dar, wie sich in der künftigen Gesellschaft freie Gemeinden bilden und sich zu den verschiedensten Zwecken, z. B. zur Beschaffung von Lebensmitteln oder Maschinen, zum Strassenbau oder zur Landesverteidigung, ihrerseits wieder zusammenschliessen werden, und wie auf diese Weise ein unendlich dichtes, auf das mannigfaltigste verflochtenes Netz freier Verbände bestehen und alle Aufgaben des Staates weit vollkommener als dieser erfüllen wird.

Nach Kropotkin wird die Entwicklung mit dem Staat auch das Privateigentum beseitigen und zwar ganz allgemein, nicht etwa nur an den Produktionsmitteln. Allenthalben sieht er die Völker unter dem Privateigentum leiden, in den unausgesetzt auf einander folgenden Wirtschaftskrisen, dem dauernden Elend der Massen erblickt er nur dessen Wirkungen, und er zweifelt nicht, dass die Menschen bald diese überlebte Form der Güterverteilung von sich werfen werden. Zugleich aber bemerkt er allenthalben einen kommunistischen Zug, in den öffentlichen Kunstsammlungen, Bibliotheken und Schulen und in zahlreichen anderen unentgeltlichen Einrichtungen, und so nimmt er an, dass die neue Gesellschaft nicht nur kollektivistisch, sondern kommunistisch sein wird, und dass in ihr wie die Mittel der Gütererzeugung so auch die blossen Gegenstände des Verbrauchs nicht dem Einzelnen gehören werden, sondern den freien Gemeinschaften, die sie dem Einzelnen nach Bedarf zur Verfügung stellen. Er malt uns aus, wie gern alsdann jeder im Dienste der Gemeinschaft arbeiten und wie leicht man sich über die Erzeugnisse der Arbeit einigen wird.

Der neue Zustand wird auch nach Kropotkin durch eine soziale Revolution eintreten. Er sieht eine Revolutionsperiode von mehreren Jahren voraus, die die Gesellschafts- und Güterverhältnisse umgestalten, das Bestehende gewaltsam zerstören und das Neue an seine Stelle setzen wird. Diese Revolution wird zwar von selbst kommen, aber Aufgabe der fortgeschrittenen Geister ist es doch, sie vorzubereiten und zu beschleunigen. Das geeignetste Mittel zu diesem Zwecke erblickt er in der „Propaganda der Tat“, d. h. in Handlungen, die zugleich dem Widerspruch gegen das Bestehende Ausdruck geben, die Aufmerksamkeit auf die neuen Ideen lenken und den Geist der Empörung wecken. Eine Tat macht nach ihm mehr Propaganda, als tausend Broschüren.

Von allen Vertretern des Anarchismus hat Kropotkin bei weitem die meisten Anhänger gefunden. Sein unbezwingbarer Glaube, seine rastlose und opferwillige Propaganda haben erst den Anarchismus zu einer grossen Bewegung gemacht. Eine Weiterentwicklung der anarchistischen Gedanken hat nach ihm nicht mehr stattgefunden. Die Entwicklungslinie, die von Proudhon über Bakunin zu ihm hinführt, schliesst mit ihm ab.

4. Tolstoj.

Bearbeiten

Ganz abseits von dieser Entwicklung stehen die anarchistischen Gedanken, die der russische Dichter Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828–1911) in zahlreichen Schriften niedergelegt hat, vor allem in den Werken Worin besteht mein Glaube? (1884) und Das Reich Gottes ist in Euch (1893). Dem materialistischen Anarchismus Bakunins und Kropotkins tritt hier ein christlicher, ihrem revolutionären Anarchismus sozusagen ein reaktionärer gegenüber. Wir werden wieder zu den Gedankengängen der ersten Anarchisten, Godwins und Stirners, zurückgeführt. Ohne sie zu kennen, hat Tolstoj ihre Ideen, freilich weit vollkommener, neu hervorgebracht und mit unvergleichlicher Darstellungskraft vorgetragen.

Tolstoj erblickt das höchste Gesetz für alles menschliche Verhalten in der Lehre Christi und zwar in dem Gebot der Liebe, aus dem er als wichtigste Folgerung den Grundsatz ableitet, unter keinen Umständen dem Übel mit Gewalt zu widerstreben. Der Staat verstösst nach ihm gegen diesen Grundsatz und damit gegen die Lehre Christi. Die Herrschaft in ihm beruht auf Gewalt, auf der Polizei und dem Heere. Sie bedeutet, dass die schlechten Menschen die guten unterdrücken, denn nur schlechte Menschen streben nach Macht, und der Besitz der Macht verdirbt auch die [176] guten. Deshalb muss der Staat beseitigt werden. An seine Stelle soll aber nicht etwa ein Zusammenleben auf Grund von Verträgen gesetzt werden: jeder Vertrag verstösst wider die Lehre Christi, denn niemand weiss, ob ihm nicht in dem Augenblick, in dem er einen Vertrag zu erfüllen hat, das Gebot der Liebe etwas ganz anderes gebieten wird. Sondern es braucht nur jeder Mensch dem Gebot der Liebe zu folgen, dann wird sich von selbst ein geordnetes und befriedigendes Zusammenleben ergeben.

Wie der Staat so ist nach Tolstoj auch das Eigentum der Lehre Christi zuwider. Es ist eine Herrschaft der Besitzenden über die Nichtbesitzenden auf der Grundlage der Gewalt: ohne Polizei und Heer wäre es keinen Augenblick aufrecht zu erhalten. Es zerspaltet die Menschheit in zwei Kasten, eine arbeitende, bedrückte und eine müssige, bedrückende. An seine Stelle muss nach Tolstoj eine Güterverteilung treten, die sich einzig auf das Gebot der Liebe gründet. Jeder Mensch soll, statt Arbeit von anderen zu verlangen, vielmehr selbst sein ganzes Leben der Arbeit für andere widmen, so werden alle haben, was sie bedürfen.

Der neue Zustand, den Tolstoj als „das Reich Gottes“ bezeichnet, soll nicht durch Gewalt herbeigeführt werden, sondern dadurch, dass alle Menschen ihr Leben nach dem Gebot der Liebe und dem Grundsatz des Nichtwiderstrebens einrichten. Man soll keine Gewalt mehr gebrauchen oder in Anspruch nehmen, auf sein Eigentum verzichten und seine Bedürfnisse durch eigene Arbeit befriedigen. Man soll ferner den unchristlichen Forderungen der Staatsgewalt den Gehorsam versagen, namentlich die Zahlung der Steuern und den Dienst im Heere verweigern. Wenn nur diejenigen, die die Wahrheit erkannt haben, damit den Anfang machen, so werden alsbald die Massen folgen und Staat und Eigentum zu Falle kommen.

Die Gedanken Tolstojs haben sich eine Anzahl von begeisterten Anhängern gewonnen. Wirklichen Einfluss haben sie nicht zu erlangen vermocht. Sie sind zu sehr vom Leben abgewandt, als dass irgend eine Richtung sie sich zum Banner hätte erwählen mögen.

5. Richtungen und Entwicklungen im Anarchismus.

Bearbeiten

Alle anarchistischen Lehren haben eins miteinander gemeinsam, das uns in den primitiven Gedanken Godwins und Stirners, in den ausgearbeiteten Zukunftsbildern Proudhons, Bakunins und Kropotkins und in den apokalyptischen Gesichten Tolstojs in gleicher Weise entgegentritt: sie sprechen dem Staat die Daseinsberechtigung ab und gründen die Gesellschaft der Zukunft auf ein anderes einigendes Prinzip. Dieser Grundgedanke des Anarchismus ist bereits bei Godwin in voller Klarheit vorhanden, und keiner der Folgenden bis herab zu Kropotkin und Tolstoj hat ihn auf irgend eine Weise verlassen.

Aber freilich, jener Grundgedanke ist unbestimmt genug. Sobald man den Versuch unternahm, ihm bestimmtere Gestalt zu geben, musste sich notwendig eine grosse Verschiedenheit der Meinungen ergeben. Die Geschichte des Anarchismus zeigt uns eine starke Entwicklung, an deren Endpunkt wir uns nur mühsam deutlich machen, dass alle ihre Stufen doch schliesslich nichts anderes sind als Ausgestaltungen der an ihrem Beginn aufgestellten Idee.

Dies tritt schon bei der philosophischen Grundlegung hervor. Der Anarchismus Godwins, Stirners und Proudhons ist ein ideologischer Anarchismus, er hat eine ethische (oder bei Stirner vielmehr antiethische) Grundlage. Bei Bakunin und Kropotkin wird dann der Anarchismus mit einem Male naturwissenschaftlich, er fordert nicht mehr die Abschaffung des Staates, sondern sagt seinen Untergang voraus. Tolstojs Anarchismus nimmt dann wieder mit Entschiedenheit die alte ethische Grundlegung auf.

Eine ebenso entschiedene Entwicklung sehen wir bei der Frage nach dem einigenden Prinzip der Zukunft, also nach dem, was der ideologische Anarchismus an die Stelle des Staates setzen will, und wovon der naturwissenschaftliche erwartet, dass es von selbst an seine Stelle treten werde. Der Anarchismus Godwins und Stirners glaubt die künftige Gesellschaft ohne irgendwelche Vereinbarungen begründen zu können und meint, ein menschliches Zusammenleben sei möglich, wenn jeder Einzelne nur das Wohl der Gesamtheit oder (nach Stirner) seinen eigenen [177] Vorteil im Auge habe. Proudhon, Bakunin und Kropotkin stellen dann die künftige Gesellschaft auf die solidere Grundlage des Vertrages und lassen an die Stelle des Staates ein kunstvolles und umfangreiches System vertraglicher Gemeinschaften treten. Tolstoj kehrt auch hier zu den Anfängen zurück, indem er jeden Vertrag verwirft und als Grundlage der künftigen Gesellschaft nur die christliche Gesinnung des Einzelnen zulässt.

Ein bestimmter Standpunkt gegenüber dem Eigentum gehört an sich nicht zum Anarchismus, indessen hat dieser sich der Bedeutung des Problems doch niemals entzogen, und so hat auch hier eine deutliche Entwicklung stattgefunden. Der primitive Anarchismus Godwins und Stirners verwirft das Eigentum in jeder Gestalt, an seine Stelle soll eine Güterverteilung treten, die sich lediglich darauf gründet, dass jedermann das Wohl der Gesamtheit oder (bei Stirner) den eigenen Vorteil im Auge hat. Proudhon lässt dann das Privateigentum oder wenigstens etwas ihm sehr Ähnliches ohne Einschränkung zu. Bakunin ist der Meinung, dass in der künftigen Gesellschaft Privateigentum nur noch an den Konsumtionsmitteln bestehen werde, während die Produktionsmittel unter allen Umständen Gesellschaftseigentum sein würden. Nach Kropotkin endlich ist in der künftigen Gesellschaft das Privateigentum gänzlich ausgeschlossen, die Konsumtions- wie die Produktionsmittel werden nur noch Gesellschaftseigentum sein. Diese Entwicklung, die von der Verwerfung des Eigentums zu dessen Anerkennung und hier vom Individualismus über den Kollektivismus zum Kommunismus führt, bricht wieder bei Tolstoj ab: gleich den ersten Anarchisten verwirft er jede Form des Eigentums und gründet die Güterverteilung der künftigen Gesellschaft einzig auf die Nächstenliebe jedes Einzelnen.

Eine ausgesprochene Entwicklung tritt uns endlich auch bei der Frage entgegen, auf welche Weise der Übergang von dem gegenwärtigen staatlichen Leben zu dem neuen Gesellschaftszustande erfolgen soll. Godwin spricht sich ebenso unbestimmt für friedliches wie Stirner für gewaltsames Vorgehen aus. Ein deutliches Bild von dem einzuschlagenden Wege macht sich erst Proudhon. Er schlägt vor, durch Schaffung vorbildlicher Vereine mit staatlichen Aufgaben die Überflüssigkeit des Staates darzutun und so dessen Auflösung auf gesetzlichem Wege herbeizuführen. Bakunin nimmt an, dass der Umschwung nur durch eine gewaltsame Revolution erfolgen könne, und betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten, durch ihre Propaganda diese Revolution vorzubereiten und zu beschleunigen. Kropotkin arbeitet diesen Gedanken aus, indem er als bestes Mittel der Propaganda die Propaganda der Tat empfiehlt. Von friedlichen gelangt der Anarchismus so zu immer gewaltsameren Mitteln, nur Tolstoj kehrt auch hier zu den Anfängen zurück, indem er jede Gewalt verwirft und nur dort, wo der Staat nach seiner Meinung Unchristliches fordert, den passiven Widerstand gebietet.

6. Der Anarchismus der Gegenwart.

Bearbeiten

Der Anarchismus der Gegenwart ist nichts Einheitliches. Keine der verschiedenen anarchistischen Lehren, die uns in der Entwicklungsgeschichte des Anarchismus entgegentreten, hat genug Überzeugungskraft gehabt, um alle diejenigen an sich zu fesseln, die dem Staate die Daseinsberechtigung versagen.

Anhänger Godwins dürfte es allerdings nicht mehr geben. Auch an Stirner schliesst sich heute kaum noch jemand an, ausser einigen Literaten, die sich von seinem Stil und seiner Scheinkonsequenz bestechen lassen. Ein weit grösseres Gefolge, namentlich in Frankreich und Nord-Amerika, hat sich die klare und massvolle Art Proudhons zu wahren gewusst. Auch Bakunin hat heute noch seine Anhänger, besonders in Spanien: diese Lehre musste sich schon durch ihre enge Verwandtschaft mit dem modernen Sozialismus in gewissem Grade behaupten. Bei weitem die meisten Anarchisten sind gegenwärtig Anhänger Kropotkins, der Vorsprung der kühneren, weitergehenden Lehre gegenüber einer gemässigten, minder weitgehenden hat sich auch hier geltend gemacht: namentlich in den romanischen und slavischen Ländern spielt der kommunistische Anarchismus eine grosse Rolle, die sich anschaulich in der Menge der Zeitschriften und Zeitungen kundgibt, die seine Anschauungen vertreten. Nicht ganz ohne Jünger ist auch Tolstoj, besonders [178] in Russland, wo man vielleicht mehr als anderswo geneigt ist, sich an hohen und unausführbaren Gedanken zu berauschen.

Jetzt ist es möglich, die beiden Fragen zu beantworten, von denen wir ausgegangen sind. Zunächst: wie verhält sich der Anarchismus zum Verbrechen? Jene Gewalttaten, durch welche die öffentliche Aufmerksamkeit am meisten auf den Anarchismus gelenkt worden ist, sind nicht für ihn karakteristisch. Denn eine Richtung im Anarchismus, die von Godwin, Proudhon und Tolstoj vertretene, verwirft alle Gewalt, und ganz die gleichen Gewalttaten sind überdies auch im Dienste anderer, nichtanarchistischer Ziele begangen worden, so von den russischen Nihilisten, den irischen Feniern und den Armeniern in der Türkei. Aber jene Gewalttaten sind doch auch nicht ausser Zusammenhang mit dem Anarchismus. Sie sind hervorgegangen aus dem Gedanken, dass die beste Propaganda die Propaganda der Tat sei, wie ihn Kropotkin aufgestellt und die an ihn anknüpfende, bei weitem verbreitetste Richtung im Anarchismus sich angeeignet hat. Danach sind die anarchistischen Verbrechen allerdings nichts, was zum Wesen des Anarchismus gehörte, aber die herrschende Richtung im Anarchismus muss dennoch für sie verantwortlich gemacht werden.

Ferner: in welchem Verhältnis steht der Anarchismus zur Sozialdemokratie? Sie stehen in einem gewissen Gegensatze zu einander. Denn während die Sozialdemokratie die Aufgaben des Staates oder der zwar nicht Staat genannten, aber doch durchaus als Staat gedachten künftigen Gesellschaft bis ins Ungemessene steigern will, lehnt der Anarchismus im Gegenteil den Staat gänzlich ab. Trotzdem besteht zwischen ihnen aber auch ein gewisser Zusammenhang. Die herrschende Richtung im Anarchismus und die Sozialdemokratie sind in gleicher Weise erfüllt von der Überzeugung, dass ein unabwendbarer und ihnen willkommener Umschwung den gegenwärtigen Gesellschaftszustand beseitigen und an seine Stelle einen neuen setzen wird, bei welchem die Produktionsmittel dem Privateigentum des Einzelnen entzogen sein werden. Die herrschende Richtung des Anarchismus geht nur weiter als die Sozialdemokratie: nach ihrer Voraussicht werden auch die Konsumtionsmittel dem Privateigentum entzogen sein, und mit dem Privateigentum wird zugleich der Staat verschwinden. Hiernach lässt sich zwar nicht der Anarchismus im allgemeinen, aber doch die in ihm herrschende Richtung als eine äusserste Steigerung des modernen Sozialismus betrachten.

7. Kritik des naturwissenschaftlichen Anarchismus.

Bearbeiten

Man könnte geneigt sein, den Anarchismus mit einem Achselzucken als „Wahnsinn“ abzufertigen. Aber damit würde man ihm Unrecht tun. Der Anarchismus hat uns durch seine kühne und rücksichtslose Kritik auf eine empfindliche Lücke unserer Staatswissenschaft hingewiesen. Die Aufgaben des Staates hatte man immer wieder mit der grössten Sorgfalt erörtert, seine Daseinsberechtigung aber niemals zum Gegenstande der Untersuchung gemacht. Indem der Anarchismus dem Staate die Daseinsberechtigung absprach, hat er denjenigen, die den Staat für notwendig halten, die unabweisbare Pflicht auferlegt, sich über die Gründe ihrer Überzeugung klar zu werden und die Gedanken des Anarchismus zu widerlegen.

Der naturwissenschaftliche Anarchismus, die herrschende Richtung, die an Bakunin und Kropotkin anknüpft, ist der Meinung, dass die gegenwärtige Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit den Staat beseitigen und ein Zusammenleben in freien vertraglichen Vereinigungen an seine Stelle setzen werde, woraus den Menschen der Gegenwart die Aufgabe erwachse, dies nach Möglichkeit zu befördern und zu erleichtern. Diese Lehre ist unrichtig.

Allerdings hat die freie Vereinsbildung in den letzten Jahrzehnten einen ausserordentlichen Aufschwung genommen. Die Arbeiter haben sich zu Gewerkschaften und die Arbeitgeber ihrerseits sich zu Arbeitgeberverbänden zusammengetan, und jene Vereinigungen sind mit diesen dann wieder durch Tarifverträge in Beziehung getreten. Die Produzenten der verschiedensten Industrien haben sich zu Kartellen, ihre Abnehmer zu Abnehmerverbänden vereinigt, und die verschiedenen Kartelle und Abnehmerverbände haben wieder ihr Verhältnis zu einander durch feste Verträge geregelt. Vieles dieser Art liesse sich noch anführen: niemals hat die freie vertragliche Vereinigung eine solche Bedeutung gehabt wie in der Gegenwart.

[179] Aber dadurch hat sich die Bedeutung des Staates in keiner Weise verringert. Der Staat hat kaum eine seiner früheren Aufgaben aus der Hand gegeben, wohl aber eine Fülle von neuen übernommen. Man braucht nur an das mächtige Anwachsen der Heere und Flotten zu denken oder an das ungeheure, in so kurzer Zeit errichtete Gebäude der Arbeiterversicherung. Die Steigerung der staatlichen Aufgaben kommt deutlich zur Anschauung in den immer stärker wachsenden Steuerlasten, der Staat erhebt die Steuern nur, um sie für staatliche Zwecke zu verwenden. Dieses Anwachsen der Staatstätigkeit ist durchaus im Sinne der öffentlichen Meinung: die sozialpolitische Auffassung des Staates beherrscht heute die Völker, und selbst der Liberalismus, der ihr früher am entschiedensten widerstrebte, hat sie sich aneignen müssen.

Dass ungeachtet des mächtigen Anwachsens der freien Vereinigungen der Staat immer neue und grössere Aufgaben übernehmen konnte, beruht auf dem Fortschritt der Kultur. Der Fortschritt der Kultur entzieht den Einzelnen immer mehr seiner Vereinzelung und verflicht sein Leben enger und enger mit dem der anderen. Diese Verflechtung schafft immer neue Gebiete für den freien Zusammenschluss, sie erweitert aber zugleich die Aufgaben des Staates.

Bei der Voraussage des naturwissenschaftlichen Anarchismus, der Gang der Entwicklung werde den Staat demnächst notwendig zum Verschwinden bringen, ist der Wunsch der Vater des Gedankens, ebenso wie bei der entgegengesetzten Voraussage des modernen „wissenschaftlichen“ Sozialismus. Die Sozialdemokratie möchte die Aufgaben des Staates ins Ungemessene steigern und die gesamte Produktion in seine Hände legen, und um dem eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, deutet sie die gegenwärtige Entwicklung dahin, dass sie notwendig zu einer solchen Machtsteigerung des Staates führen müsse. Der Anarchismus anderseits möchte den Staat beseitigt sehen, und um dies wissenschaftlich zu begründen, gibt er der Entwicklung gerade die entgegengesetzte Deutung.

Aber angenommen einmal, der Staat sei dem Untergang verfallen, die Entwicklung führe mit unabwendbarer Notwendigkeit zu seiner Beseitigung, so würde hieraus doch in keiner Weise folgen, dass wir diese Entwicklung zu fördern hätten. Es gibt erwünschte und unerwünschte Entwicklungen: mit Recht trachten wir danach, jene zu fördern, diese aber aufzuhalten. Dem körperlichen und seelischen Wachstum eines Kindes suchen wir durch richtige Ernährung, Abhärtung und gute Erziehung Vorschub zu leisten. Ein Greis dagegen bemüht sich, den Verfall seines Körpers und Geistes durch Enthaltsamkeit, mässige Bewegung, ärztliche Überwachung nach Möglichkeit zu verlangsamen. Selbst wenn die Entwicklung dahin ginge, den Staat zu beseitigen, so hätten wir ihr doch nur dann Vorschub zu leisten, wenn wir annehmen müssten, dass der Staat etwas Schlechtes und Schädliches wäre.

Die Begründung, mit welcher der naturwissenschaftliche Anarchismus Bakunins und Kropotkins dem Staate die Daseinsberechtigung abspricht, ist falsch. Wir haben keine Anzeichen dafür, dass der Staat demnächst untergehen wird, und wenn es der Fall wäre, so hätten wir darum doch keinen Grund, eine solche Entwickelung zu fördern.

8. Kritik des ideologischen Anarchismus.

Bearbeiten

Der ideologische Anarchismus, die Richtung Godwins, Stirners, Proudhons und Tolstojs, nimmt an, dass der Staat schlecht sei und dass deshalb etwas Besseres an seine Stelle gesetzt werden müsse: nach Proudhon ist dies ein System von freien vertraglichen Vereinigungen, nach Godwin, Stirner und Tolstoj ein Zusammenleben, das sich lediglich auf eine bestimmte Gesinnung jedes Einzelnen gründet. Auch diese Lehre ist unrichtig.

Der Staat hat seine Mängel, daran ist nicht zu zweifeln. Gleichviel in wessen Händen die höchste Gewalt ist, sie wird in der Regel nicht dem Würdigsten übertragen sein: in der Monarchie muss man sich glücklich schätzen, wenn auf eine Reihe von schlechten oder mittelmässigen Herrschern dann und wann ein bedeutender folgt, und in der Republik, wenn die blinde, öffentliche Meinung nach manchem zungenfertigen Demagogen auch einmal einen tüchtigen und ehrlichen Mann auf den Schild erhebt. Die zahlreichen Menschen, denen im Staate ein grosses, kleines oder winziges [180] Stück Gewalt übertragen ist, werden häufig einen falschen Gebrauch davon machen. Der Staat ist eben eine menschliche Einrichtung und mit den Mängeln alles Menschlichen behaftet.

Wie ist es nun aber mit dem Zustand, den man als etwas Besseres an die Stelle des Staates setzen möchte? Hat er geringere Mängel, und ist er überhaupt möglich? Während der Anarchismus den Mängeln des Staates mit grossem Eifer nachgegangen ist, hat er sich über diese Fragen mit erstaunlicher Leichtigkeit hinweggesetzt. Bei ihrer sorgfältigen Prüfung muss sich herausstellen, dass der von den verschiedenen Vertretern des ideologischen Anarchismus an Stelle des Staates empfohlene Gesellschaftszustand nicht etwa nur mit Mängeln behaftet, sondern völlig unmöglich ist.

Proudhon möchte an die Stelle des Staates ein ungeheures Netz von freien, vertraglichen Vereinigungen setzen. Er vergisst, dass wirklich freie Vereinigungen, denen jedes Mitglied nur kraft seines wohlüberlegten Ermessens angehört, einzig innerhalb des Staates möglich sind. Gegenwärtig schützt der Staat den Einzelnen gegen die Vereine, etwa den Arbeiter dagegen, dass ihn eine Gewerkschaft durch Drohungen zum Beitritt nötigt oder durch ihre Satzungen lebenslang an sich fesselt oder wegen seines Fernbleibens verfolgt. In Proudhons Zukunftsgesellschaft würde der Einzelne völlig den Vereinen ausgeliefert sein. Ein Handwerker z. B. müsste dem Verein, der in seiner Stadt die Sicherheit des Lebens und Eigentums gewährleistete, unweigerlich angehören, die von diesem vorgeschriebenen Beiträge leisten und sich überhaupt allen seinen Anordnungen, auch wenn sie ihm noch so wenig gefielen, unterwerfen, denn ohne die Zugehörigkeit zu diesem Verein wäre er ja völlig rechtlos und könnte von jedermann nach Belieben beraubt, misshandelt oder gar getötet werden. Ebenso wäre er genötigt, auch noch einer Menge von anderen Vereinen anzugehören, namentlich allen denen, deren Mitgliedschaft jener erste Verein von ihm verlangen würde. Diese Vereine müssten sich nun aber wieder mit anderen Vereinen der gleichen Stadt und der umliegenden Gebiete zu umfassenden Vereinen zusammenschliessen, nicht nur zur Vermeidung von Streitigkeiten und förmlichen Kriegen, sondern auch zur gemeinsamen Lösung von Kulturaufgaben. So würde unser Handwerker unabhängig von seinem Willen einer ungeheuren Gemeinschaft angehören, die angeblich nur auf freien Verträgen beruhte, in Wirklichkeit aber nichts anderes wäre als der heutige Staat. Die freien Vereinigungen Proudhons können nicht an die Stelle des Staates treten, weil sie das Vorhandensein des Staates zur Voraussetzung haben.

Nach Stirner soll an die Stelle des Staates ein Zusammenleben treten, das darauf beruht, dass jedermann ohne Abschliessung von Verträgen lediglich den eigenen Vorteil verfolgt. Er macht sich nicht klar, dass wenn jeder seinen eigenen Vorteil verfolgt, es eben zum Abschluss von Verträgen kommen muss. Denn der Vorteil jedes Einzelnen fordert, dass viele ihre Kräfte dauernd zu einheitlichen Aufgaben vereinigen, etwa zur gemeinsamen Erzeugung von Gütern und zu deren Austausch, zur Verhütung von Unglücksfällen und zur Versicherung gegen solche. Da aber die Menschen weder Bienen noch Ameisen und nicht durch Instinkt fest an die Verfolgung gemeinsamer Ziele gebunden sind, so ist eine solche dauernde Kräftevereinigung nur mit Hilfe von Verträgen möglich. Die Aufforderung Stirners, ohne Abschliessung von Verträgen den eigenen Vorteil zu verfolgen, ist deshalb unausführbar. Ein Gesellschaftszustand, bei dem dies der Fall ist, kann nicht an die Stelle des Staates treten.

Nach Godwin und Tolstoj endlich soll der Staat durch ein Zusammenleben ersetzt werden, bei welchem jeder ohne Abschliessung von Verträgen sich nur von der Nächstenliebe oder, was dasselbe ist, von dem Gedanken an das allgemeine Wohl leiten lässt. Beide übersehen, dass die Nächstenliebe nur eine Pflicht der Menschen ist, aber nicht ihre herrschende Eigenschaft. Es lässt sich nicht erwarten, dass die Menschen sich jemals allgemein von der Nächstenliebe leiten lassen werden. Die Aufforderung Godwins und Tolstojs, dies zu tun, ist die Aufstellung eines Ideals und deshalb unausführbar. Auch ein Gesellschaftszustand, bei dem jeder einzig auf Grund der Nächstenliebe das um der Gesamtheit willen Gebotene tut, kann nicht die Nachfolge des Staates übernehmen.

Man verkennt immer eins. Der Staat ist nicht irgendwo willkürlich gemacht worden. Überall, wo bestimmte Bedingungen vorlagen wie feste Wohnsitze und eine dichtere Bevölkerung, ist er von selbst geworden. Gelänge es, ihn vorübergehend zu beseitigen, so würde er, eben weil diese Bedingungen dauernd gegeben sind, alsbald wieder zur Entstehung kommen. Der Staat lässt sich [181] ebensowenig beseitigen wie die Sprache oder die Schrift, denn gleich diesen ist er eine Voraussetzung unseres gegenwärtigen Daseins.

Deshalb ist auch die Begründung verfehlt, mit welcher der ideologische Anarchismus Godwins, Stirners, Proudhons und Tolstojs dem Staate die Daseinsberechtigung versagt. Der Staat muss mit allen seinen Mängeln bestehen bleiben, weil sich nichts Besseres an seine Stelle setzen lässt. –

Der Anarchismus, die Lehre, dass der Staat keine Daseinsberechtigung habe, ist eine kühne und grossartige Lehre, aber er ist eine Irrlehre. Wer seinen Grundgedanken und dessen Verzweigungen, seine bedeutendsten Vertreter und den Kreis seiner Anhänger kennen gelernt hat, muss ihm mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Vom Standpunkt des Staatsmannes muss man sein Dasein bedauern. Denn er hat grossherzige und warmfühlende Naturen verleitet, sich gewaltsam und sinnlos dem Staate entgegenzustellen und einem Wahngebilde andere Menschen und schliesslich sich selbst zum Opfer zu bringen. Vom Standpunkt des Forschers dagegen muss man an ihm den Anregungswert schätzen, der kraftvollen Irrtümern innezuwohnen pflegt, welche uns nötigen, uns über die Gründe des scheinbar Selbstverständlichen klar zu werden. Die Bedeutung des Anarchismus liegt im letzten Grunde darin, dass er unsere Überzeugung von der Notwendigkeit des Staates befestigt und vertieft hat.