Der 3. Glaubensartikel/2. Kor. 4 u. 5. Ich glaube an eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben

« Ps. 93. Ich glaube eine Vergebung der Sünden Hermann von Bezzel
Der 3. Glaubensartikel
1. Kor. 2, 10–16. Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft »
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2. Kor. 4 u. 5. 
„Ich glaube an eine Auferstehung des Fleisches
und ein ewiges Leben.“
 


 Mit diesen beiden letzten Worten unseres dritten Glaubensartikels sind wir in den Bereich eingetreten, über den die Erfahrung nichts, der Glaube nur wenig sagen kann. Diejenigen, welche den Bereich, von dem wir jetzt reden wollen, erfahren haben, können nicht mehr sagen, was sie erlebt haben; und die es sagen könnten, haben es noch nicht erlebt. Wir wandeln im Glauben, jene im Schauen; jene aber können sich uns nicht mitteilen und wir unsere Fragen nicht an sie richten. Und wie unnötig und unnütz das ist, hat unser Heiland den Abraham aussprechen lassen, der auf die Bitte des reichen Mannes, es möchte einer von den Abgeschiedenen seine fünf Brüder besuchen, schlicht und abschlägig antwortete: „Glauben sie Mose und den Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde“. (Luc. 16, 31.) So viel wissen wir alle, dazu braucht es keine Erfahrung, daß über kurz oder lang dieser Leib zerfällt und das Gerüste dieser Leiblichkeit abgebrochen wird. Bei den einen war es ein Gerüste zur Komödie des Lebens, ein Schaugepränge, an das sie viel Zeit und viel Kraft und viel Tand verwendeten. Bei den anderen war es das Gerüste für ein ernstes, schweres, düsteres Trauerspiel. Und nur für etliche war dieses Leibesleben die Hülle, hinter welcher der göttliche Künstler, der Meister aller Schöne, Sein geheimes Werk an dem Leben vollendet und ausgeführt hat.

 Wie entsteht der Leib? Ich will auf das Einzelne, nicht im Gebiete des Glaubens, sondern im Gebiete der physiologischen Erkenntnis liegende Fragen, nicht eingehen, das ziemt mir nicht| und steht euch zu hören auch nicht zu. Der Gott, Der den Leib des ersten Menschen aus den feinsten Stoffen der Erde bildete und dabei ein Bild vor Augen hatte, das Ihm gleich war, der Meister, Der in dieses Leibesleben Seine Bildung und Formung, die großen Gedanken eingesenkt und eingestiftet hat, ließ diese Gedanken in jedes Leibeslebens Entstehung werden und sich auswirken. Es ist ein dunkles Geheimnis, auch dem Arzte nicht ganz enträtselt, ein wundersames Geheimnis, auch der Wissenschaft nicht ganz klar, wie der menschliche Leib unter so wundersamen Einflüssen von Neigung und Abneigung, von äußeren und inneren Eindrücken und Erlebnissen sich bildet, bis er an das Licht der Welt tritt.
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 Wenn also Gott bei der Bildung des Leibes – alle natürlichen Vorgänge mit eingerechnet – Seine eigenen Gedanken verfolgt und ausführt, so wird Er auch weiterhin über dies Leben wachen. Es ist Gottes Gerechtigkeit, daß Er, je länger, je mehr, im Leibesleben (in der Bewegung deiner Hände, in dem Aufschlag deiner Augen, in der Gestaltung deines Mundes) dein Innenleben zum Ausdruck kommen läßt. Der Mensch, der am Sinnlichen und Gemeinen, am Genuß seine Freude hat, wird auch äußerlich als ein sinnlicher Mensch gekennzeichnet durch ganz bestimmte, von Gott geordnete Züge. Den Jähzornigen, den Neidischen, den scharf Urteilenden, den Geizigen, den Kritischen läßt Gott – wer ein wenig mit Seelenkunde sich beschäftigt, wird mir das zugeben – meist auch äußerlich sich ausgestalten. Der erste Eindruck, den wir, die wir mit so vielen Menschen in Berührung zu kommen haben, immer wieder – nicht als maßgebend, aber als sehr bestimmend – annehmen, kommt eben von diesem Umstand her, daß Gott in der äußeren Gestalt die Seele sich abschatten und abbilden heißt. Der erste Eindruck von einem Menschen mit offener Stirne, mit klarem Blick und freiem Auge ist ungleich angenehmer, als der erste Eindruck von einem Menschen, dessen| Auge umflort ist, dessen Lippen etwas ausgeprägt Genußsüchtiges und Genußwollendes haben. Ich sage nicht, daß dieser erste Eindruck fehllos oder maßgebend ist, aber ich sage, daß er bestimmend ist. Selten wird jemand, der Gott darum bittet: Laß mich im ersten Eindruck den Menschen erkennen! in diesem Gebete enttäuscht. So wacht Gott über den Leib.

 Bei den Einen ist der Leib die Hauptsache, ihr wißt es alle. Wenn so viele zum Seelenarzt gehen würden, als man zum Leibesarzt läuft, oft wegen unbedeutenden Unwohlseins, dann müßten die Diener der Kirche wahrhaftig wenig freie Zeit mehr haben. Und wenn man so oft in die Heilige Schrift sich flüchten wollte, als man in den Inhalt und Rat medizinischer Bücher flüchtet, dann wäre die Bibel das zerlesenste Buch der Erde. Wahrlich merkwürdig, die Menschen, die den Leib den Kerker ihrer Seele heißen, haben soviel Zeit für ihren Leib übrig. Ich gehe nicht ins Einzelne, nicht auf die Pflege des Leibes, auf die Schönheitspflege, an die viele Menschen Stunden, edelste Stunden des Tages verschwenden, während sie für den Morgensegen keine Zeit haben; ich gehe nicht darauf ein, wie viele Menschen Reisen – in Bäder, aufs Land – vornehmen, während es ihnen zu beschwerlich ist, die fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernte Kirche aufzusuchen. Seht, so schätzt man den Leib; denn der ist bei den meisten Menschen die Hauptsache. Darum wird diese Hütte gestützt und ausgebessert und immer wieder mit neuer Kraft versehen, und alle Hilfe, die der Arzt geben kann, wird mit Eifer und Andacht und mit einem unbedingten Glauben ergriffen und benützt. Wenn die Kirche so viele Gläubige hätte, als ein einfacher Arzt, welche Siege würde sie erringen!

 Gott sieht auf den Leib. Er gibt einfache, schlichte Gesetze und Ordnungen; Er läßt uns durch Seinen Apostel sagen: „Wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist.“ (1. Kor. 6, 19.) Denen gegenüber, die da sagen: Ich kann mit| meinem Leib tun, was ich will, ich kann ihn vernachlässigen, schwächen, zugrunde richten, ihn zum Sklaven der Sünde entwürdigen, in den Schmutz der Lüste hinabziehen! sagt der Apostel: „Ihr seid nicht euer selbst“, (1. Kor. 6, 19.) Und denen, die ihr Leben zu hoch schätzen, zu sehr lieben, sich auf ihren Leib zu sehr verlassen, in ihn verliebt sind und ihm ganz vertrauen, sagt er: „Euer Leib ist ein Tempel des heiligen Geistes!“ (1. Kor. 6, 19), aber nicht der Heilige Geist selbst. Indem Gott den Leib schuf und für ihn sorgt, hat Er seine Hochschätzung uns schon gelehrt.

 Aber noch ein Drittes kann die christliche Gemeinde nicht vergessen. Der Leib, den ich trage, der Leib mit seiner Lebendigkeit, mit seiner Tragkraft und seiner Müdigkeit, der Leib, dessen Übelbefinden auf meine Seele wirkt und der von meiner Seele beeinflußt wird, ist derselbe, den mein Herr Jesus getragen hat. Dadurch wird unser Leib in eine besondere, neue Würde hinaufgehoben, daß das ewige Wort Gottes Fleisch ward – „gleich als ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden“ (Phil. 2, 7) – daß es von den Kümmerlichkeiten des Leibeslebens: Hunger und Durst, Frost und Hitze, von der Dürftigkeit einer ins Leibesleben gebannten Kreatürlichkeit abhängig war, das ist das Große. Dieser Todesleib ist jetzt Jesu Ehrenkleid. Jetzt trägt Er ihn im Gegensatz zu Seinem Vater, der keinen nach unserer Art sichtbaren Leib hat, Er trägt den Menschenleib nun in Seiner ganzen Herrlichkeit und Schöne. Jetzt trägt Er einen, Sein ganz verklärtes göttliches Wesen aufs wirksamste und deutlichste ausprägenden und ausgestaltenden Herrlichkeitskörper.

 Sollte, so fragen wir nun, nachdem Er ihn geschaffen, für ihn gesorgt, Seinem Sohn ihn gegönnt hat, sollte nun der Leib im Grabe für immer zerfallen? Zwar die Verwesung, vor der wir uns so fürchten, erleben wir alle zehn Jahre einmal. Von den Stoffen, aus denen unser Leib vor zwölf Jahren bestand, ist jetzt gar nichts mehr übrig, sie sind verwest und erneut. Dein jetziger| Leib ist ein ganz anderer als der deiner Kindheit; der Leib der Jugend und des Greisenalters sind ganz verschiedene Lebensgestalten. Jeder Arzt wird dir das sagen, daß von dem ursprünglichen Leib deiner Kindheit nun kein Atom mehr übrig ist. Wir werden immerfort in den Verwesungsprozeß hineinbezogen und sterben täglich. Nun kommt der große, schwere und alle mit Bangen erfüllende Moment, wo wir den Tempel abgebrochen sehen und unsere Seele vom Leibe sich trennt. Es bleibt ein Weh; denn die Herberge verläßt man nicht gerne. Wir haben in ihr Sonne und Sturm, Regen und fruchtbare Zeiten, Friede und Sorge, Angst und Freude erlebt. Wir haben unter dem Leib gelitten und haben unter ihm wieder Freudestunden gehabt. Wir haben uns an ihm aufgerichtet und sind an ihm zuschanden geworden. Er hat uns in schweren Tagen über uns selber hinübergehoben und er hat wiederum an schweren Tagen mit uns, unter uns und in uns gelitten. Und nun heißt es scheiden. Und die Seele ist bloß, wie der Apostel sagt, wir sind entkleidet. Soll das so bleiben? Soll die Seele in der Zeit der Vollendung unvollendet sein? Soll sie des Organes entbehren, durch das sie sich äußert? Soll die Seele loben wollen und nicht loben können, weil der Mund fehlt, schauen wollen und nicht schauen können, weil das Auge gebricht? Soll die Seele hinwallen wollen zum Throne der ewigen Erbarmung und nicht können, weil sie nicht gehen kann? Soll die Seele, die doch wirken möchte, in der Welt der Vollendung tatenlos, in einer stillen, traumlosen Ruhe warten und ewig warten müssen, weil ihr der Leib gebricht? Das sei ferne! Der Gott, Der der Seele hier auf Erden den Leib gönnte, den sie brauchte, und dem Leib die Seele zuwies und zuordnete, die ihm gemäß ist, wird, wenn mein Leib in seine Atome zerfallen sein wird, Staub zu Staub, Erde zu Erde, Asche zu Asche – an Seinem Tage zur rechten Stunde den Leib erwecken.
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|  Ist nun der Auferstehungsleib derselbe Leib, den ich jetzt trage? Ja und nein! Nein, es ist nicht der Leib der Schwachheit und der Krankheit: Der arme Blinde wird in der Heimat nimmer blind sein. „Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan und der Stummen Zunge wird lobsagen.“ (Jes. 35, 5 u. 6.) Nein, der sterbliche Leib mit seiner Verunehrung, die die Sünde ihm ausgeprägt hat, mit seiner Dürftigkeit, seinen kleinen und großen Leiden, mit der Beschränkung, die er uns auflegt – die Seele möchte arbeiten und der Leib ist zu müde –, das fällt weg. Nein, der Leib der Dürftigkeit und Schwachheit, ach, der Leib, der uns oft so schwer bedrückt, weil er uns hinunter in die Alltäglichkeit des Leidens zieht, der wird aufhören. Wer freilich seinen Todesleib, auf den er unendlich viel Zeit und Mühe gewendet hat, so liebt, daß er ihn auch in der Ewigkeit haben will, der soll ihn haben, er soll ihn ewiglich haben, diesen Todesleib, geschmückt und geschminkt; den betrogenen und betrügenden Leib kann er dann genug tragen in der Ewigkeit. Alle die Modetoren, die unseligen, welche für ihres Leibes Pflege, Schöne und Gestaltung den letzten Rest von Anstand und Geschmack noch opfern, die können mit dieser Karikatur eines Menschenleibes auch in der Ewigkeit weiter haushalten; das wehrt ihnen niemand.

 Wer aber unter des Leibes Bürde hier auf Erden schwer trägt – ach, ich habe noch so viel zu arbeiten! und der Leib sagt: Ich kann und will nicht mehr! Ach, ich habe noch so einen großen Weg vor mir und der Leib sagt: Ich vermag’s nicht mehr! – wer unter dem nahenden Alter leidet, daß seine Schaffensfreude nicht mehr zum Ausdruck kommen kann, der soll wissen: Nicht derselbe Leib und doch derselbe Leib.

 Glaubt ihr, daß der Auferstehungsleib so ganz anders ist wie der Todesleib, daß man ihn gar nicht mehr erkennen wird? Glaubt ihr, daß der Leib der Verklärung so ganz anders geartet und gebildet sein wird, als der Leib, den ihr jetzt tragt? Keineswegs| Die Züge, die man sich als die liebsten Züge ins Herz gesenkt hat, die Züge der teueren Eltern, die Züge verehrter Lehrer, die Gesichtszüge bedeutender Menschen, die werden auch in der andern Welt, nur in verklärter Weise hervortreten. Ihr bemerkt es ja selbst; so sagt ihr von manchem: Ich kann mir jetzt den Menschen nicht mehr vorstellen! Es sind euch eben dessen Züge, seines Todesleibes eigene Züge, in Vergessenheit geraten, weil sie euren Sinnen sich entzogen. Gott aber wird nach diesem Leben die Leiber vollenden, jeden nach Lage und Los seiner Seele. Der Leib einer freigesprochenen und in der Vergebung der Sünde heimgekehrten Seele wird droben in der Glorie der Verklärung allen erkenntlich und erkennbar sein eben als der Leib, der hier auf Erden noch die Züge des Leidens und der Knechtschaft trug. Und der Leib eines Menschen, der ohne Vergebung, ohne Frieden, ohne innere Stellung zu Jesus dahingegangen ist, wird in der Ewigkeit das traurige Abbild innerer Zerrissenheit tragen. Denn das ist die Gerechtigkeit bei Gott, daß sich die Verklärung einerseits und die Verwerfung andererseits in dem Auferstehungsleib ausgestaltet. Versteht mich recht: Aus den Stoffen, in die mein Leib zerfällt, aus der Erde, die sie vielleicht zerstreuen werden – in dreißig Jahren sind diese Verwesungsprodukte nicht einmal chemisch mehr nachweisbar –, aus diesen wenigen Bestandteilen meines Todesleibes wird Der, Der die Welt aus dem Staube rief, meinen Vollendungsleib herstellen. Es herrschen gleichsam zwischen Leib und Seele geheime Beziehungen. Der Auferstehungsleib wird seine Seele suchen und die Seele auf ihren Leib hinstreben. Es ist eben der Kontakt, der nur unterbrochen, aber nicht aufgehoben war. Es ist die geheime Beziehung: Diese beiden gehören auf ewig zusammen; man nennt das Identität des Auferstehungsleibes mit diesem Leibe. Es wird kein neuer Leib, sondern dieser Leib wird neu. Wir bekommen keinen anderen Leib, sondern den Leib, den wir jetzt tragen, in Verklärung. In| Verklärung – sei es in Verklärung der heiligen Gottesliebe oder in der Verklärung des heiligen Gotteszornes; in der Verklärung der Wahrheit auf jeden Fall. Der Gläubige, der Heimwehernste, der Verlangende, der Ringende, der Betende, der Bittende: „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben“ (Mac. 9, 24) wird den verklärten Leib der Freiheit, der Lauterkeit und Reinheit bekommen. Kein Zug wird in diesem Leibe mehr sein, der dich beschämte, keine Miene, die dich verklagte, keine Gebundenheit wird mehr sein, so daß die Seele sich nicht zum Ausdruck brächte, kein Mangel, kein Zuwenig wird mehr sein, sondern volle Harmonie des Tempels und des Heiligen Geistes, ein voller, friedsamer und freudenreicher Einklang des verklärten Gesamtlebens.

 Und die dahin sind ohne Gott, ohne Frieden, mit dem Fluch auf den Lippen, mit dem Hohn im Herzen, mit der Verbitterung gegen die gewaltige Macht des Todes, der ihr Leib erlag, die werden droben den mit der Heiligkeit des Zornes verklärten Leib tragen; denselben Leib wie auf Erden, nur mit all den Leidenschaften, die auf der Stirne lodern, die auf den Lippen brennen, die aus den Augen leuchten, mit all den Zerrissenheiten und Gottesfernen, die das Leben vergiften und verzehren.

 Ich glaube eine Auferstehung des Leibes und ein ewiges Leben. Ich könnte ja mit dem Wenigen, das ich zu sagen habe, hinweisen auf das, was am Sonntag Cantate von mir einer Gemeinde zu sagen versucht ward. Ich könnte hinweisen auf das heiße Verlangen nach ewigem Leben in den Herzen derer, die die Ewigkeit nicht kennen. Das Verlangen nach ewigem Leben bei den Enttäuschungen dieses Lebens ist selbst der Beweis für dasselbe. Daß Menschen des Staubes an ein ewiges Leben denken, daß Eintagsfliegen hoffen, einmal einen ewigen Tag zu erleben, daß Menschen von Sterblichkeit reden, weil sie eine Unsterblichkeit ahnen, dieser Hohn des Sterblichen| ins Angesicht des Todes ist ein Beweis der Unsterblichkeit. Wir glauben und haben nicht einen Gott, der Blumen wachsen läßt, um sie dann zu zerpflücken und sich zu freuen an dem Spiel der wehenden Blätter. Der Mensch, der da weiß, daß Gott lebendige Seelen nur schafft auf ein ewiges Ziel hin, der spricht: Ich brauche ein ewiges Leben, darum bekomme ich es. Ich brauche ein ewiges Leben, um zu lernen, um zu lieben, um zu wirken.

 Ich brauche ein ewiges Leben, um zu lernen. Mein Gott, Du hast so viele Rätsel meines Sündenlebens gestellt. Warum hast Du mir das getan? Warum hast Du mir jenes genommen und dieses mir gelassen? Das Liebste mir so bald entrissen und das Schwerste mir so lange beschieden? Warum hast Du mich Wünsche äußern lassen und hast sie erfüllt, um mich bald und jählings aus der Erfüllung zu reißen? Warum ließest Du es zu, daß ich mit allen Fasern mich an einen Menschen band, da Du doch die Bande jählings zerrissest? In mein Leben sind tausend Rätsel gegeben oder von mir selber geschaffen. Mein Gott, ich brauche die Ewigkeit, um zu lernen.

 Und im Leben meiner Mitmenschen, der Gemeinden, denen ich einst zu dienen hatte, der Kirche, in der ich arbeite, der Welt, in der ich wirke, ist eine solche Fülle von Rätseln. Mein Gott, die zweieinhalb Jahre der Kriegsführung sind ein beständiges Rätsel für mich – denn der Krieg begann längst vor dem Kriege. Die ganze Weltgeschichte erscheint mir wie ein grausiges und krauses Gewirre von Gold-, Silber- und schlechten Wollfäden, die einander durchqueren und einander stören. Willst Du mir nicht zeigen, was du mit diesem Gewirre vorhast? Denn ich möchte lernen, lernen, daß mir nicht das Herze darüber bricht und mein Leben darüber vergeht; lernen möchte ich, damit ich diene.

 Ich brauche die Ewigkeit, damit ich vielen Menschen, bei denen ich’s auf Erden an der Liebe, an der Fürbitte, an der Teilnahme, am Mitleid fehlen ließ, etwas erstatte. Wie viele Menschen haben| zu mir im Laufe meines Lebens gesagt: Bete für mich! Und ich habe es versprochen und mich dann nach Wochen erinnert, daß ich es nicht tat. Sie sind im Glauben an meine Fürbitte hingezogen und ich habe sie ihnen verweigert. Wie viele Menschen sind mir doch begegnet auf meinem Lebenswege, leicht zu tragende und schwer zu nehmende, liebgewordene und niegeliebte; was hätte ich all den Menschen sein sollen und auch sein können, wenn ich mehr Liebe gehabt hätte! Ich brauche die Ewigkeit, damit ich von Haus zu Haus, von Herz zu Herz gehe und sage: Vergebt und, wenn es möglich ist, nehmt jetzt an, was ich einst euch entzog und verkürzte!

 Ich brauche die Ewigkeit, um den Teueren zu danken, die mich meinen Jesum haben finden und lehren lassen: Den Lehrern meiner Kindheit, den treuen Seelsorgern, den vielen, die ich nie gekannt, die mir aber durch ihre Werke zu Führern zur Heimat geworden sind. Ich brauche aber vor allen Dingen die Ewigkeit dazu, um Dem zu danken, Der mein Leben vom Verderben erlöset und es krönet mit Gnade und Barmherzigkeit (Ps. 103, 4). Ich brauche es ja nur Erbarmung nennen, dann ist mein ganzes Herz gesagt. Ich weiß es – und je älter ich werde, und je schärfere Rückschau ich halte über mein bisheriges Leben, desto klarer werden mir die Momente, wo ich, um ewig verloren zu sein, nur noch eines Schrittes nach abwärts bedurfte, wo ich ganz nahe am Abgrunde stand und deutlich den Hohn der Hölle vernahm: Nun gehört er uns! – Da hat eine liebende Hand mich zurückgezogen und hat mich leben lassen. Ach, so viel habe ich zu danken! Gib mir die Ewigkeit, damit ich mich ausdanken kann, danken aus der Fülle nicht bloß eines dankerfüllten, sondern eines dankbeschwerten Herzens, das Tausende von Jahren braucht, um nur Ihn genugsam zu loben.

 Und ich brauche die Ewigkeit, in welcher ich lernen und lieben darf, auch um zu wirken. Hier auf Erden ist es kein Wirken, hier| sind es nur Anfänge, Ansätze, Anläufe, Vorsätze, Versuche und dann muß ich die Hände sinken lassen und sprechen: Es ist Stückwerk. Wie oft habe ich schon mit einem Menschen angefangen, und ehe ich nur etwas vollenden konnte, wurden wir auseinandergerissen; ich sehe ihm nach, wie er um die Ecke biegt – und nun ist er nicht nur meinem Blicke, sondern auch meiner Einwirkung entschwunden. Jetzt habe ich ein Werk begonnen und meine, es dürfte etwas werden zur Ehre Gottes, nicht zu meiner Ehre. Und er nimmt mir die Feder aus der Hand und die Gedanken aus dem Kopfe und heißt mich an eine andere Arbeit gehen, und ich muß sagen, daß es nichts war. Aber wenn die Vollendung kommen wird, dann muß alles Stückwerk aufhören. Ich werde auch im Schweiß meines Angesichts arbeiten, aber nicht, bis daß ich wieder zur Erde werde.

 Manchem unter uns wird es vielleicht peinlich sein, zu hören, daß auch die Ewigkeit Arbeit hat. Denn viele denken sich die Ewigkeit als Nichts, als ein geruhsames Hindämmern, wobei die Kraft nicht zunimmt und nicht abnimmt, wo es eigentlich das Schönste ist, nichts mehr denken und nichts mehr fürchten zu müssen. Eine Ewigkeit, die man nicht verlieren kann, und eine Seligkeit, die man nicht einbüßen kann, ist nichts. Wir müssen in der Ewigkeit wirken; wie der Heiland sagt: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. (Joh. 9, 4.)

 Ich glaube ein ewiges Leben. Und ist dieses ewige Leben, von dem du sagst, „daß wir in ihm lernen, lieben und wirken sollen“, nicht doch ein Einerlei? Ich rufe die Ältesten in dieser Gemeinde hier zum Zeugnis. Wie viele Frühlinge habt ihr schon erlebt und jeder neue Frühling ist euch doch ein neues Geheimnis. So haben die Bäume noch nie geblüht, wie in diesem Lenz, so hat die Natur sich noch nie begrünt, wie in diesen Tagen, solch einen Frühling habe ich noch nie erlebt, hast| du gar oft gerufen. Und das nächste Jahr sagst du ebenso und wirst der Schönheit und Bewunderung nicht müde.

 Bei Wanderungen in der herrlichen Gebirgswelt hast du vielleicht manchen Pfad schon oft zurückgelegt und immer wieder drängt sich’s doch über deine Lippen: Natur, wie bist du so schön! Ich kann mich nicht sattsehen! Die Pracht unserer Seen, die wundersame, die stille Gewalt des Zaubers unserer Wälder erwecken immer wieder in der Seele, die sie schon oft und oft genoß, köstlichen Frieden, neue Freude, reines Glück. Wenn nun der Staub zu den Füßen der Allmacht, und der letzte flüchtige Abglanz und Lichtschimmer am Schemel des ewigen Lichtes schon solch wundersam verneuende Gabe und Reize hat, was muß es erst sein, Ihn von Angesicht zu Angesicht schauen zu dürfen! Zu schauen die uralte und doch ewig neue Schönheit und in ihr sein Leben nicht vollenden, sondern verklären dürfen, was muß das sein!

 Und noch ein letztes Wort: Hoffst du nicht, daß diejenigen, die ohne Gott und ohne Leben der heiligen Liebe in furchtbarem Zwange leben müssen, endlich einmal selig werden? Hoffst du wenigstens, daß, wenn sie auch nicht selig werden, doch einmal ihre Pein aufhört? Ich hoffe es nicht, ich weiß es nicht. Ich weiß nur das Eine, daß der Herr Jesus gesprochen hat: „Ein jeder Rebe an Mir wird gereinigt, daß er mehr Frucht bringe.“ (Joh. 15, 2.) Er sagt nicht: Den starken, den schönen, den grünen, den freudigen, den stolzen, den wirklich gedeihlichen Reben an Mir wird Er reinigen, sondern Er sagt: Einen jeden Reben an Mir. Der Rebe mag deinem Auge vielleicht welk erscheinen, wenn Er nur Seinem Auge grünt. Der Rebe mag deinem Urteil nach erstorben sein, wenn Er nur noch Leben in ihm entdeckt. Hört es: einen jeglichen Reben, den ärmsten, den kümmerlichsten, den entlegensten, den ungeformtesten; ach, daß wir es doch sagen dürfen: „Einen jeglichen Reben wird Er reinigen“. Das ist der| Freibrief der Barmherzigkeit; wenn ein Mensch mit dem letzten Wunsche dahingeht: Ach, daß doch alles bisher Geleugnete wahr wäre! So spricht Er: Kehre wieder, der du dich verlaufen hast.

 Wenn ein Mensch spricht: Wie viele Tagelöhner sind in meines Vaters Hause, die Brot die Fülle haben, und ich sterbe vor Hunger! (Luc. 15, 17) so ist für diesen Menschen göttliche Barmherzigkeit bereit. Ihr könnt euch die Größe und Weite, die Tiefe und Gewalt der Barmherzigkeit Gottes nicht ganz vorstellen.

O wie weit, o wie breit,
Über Berg und Hügel
Schwingt sie ihre Flügel!

Ach, es werden nicht alle, die zu Mir sagen: Herr, Herr! ins Himmelreich kommen. (Matth. 7, 21.) Aber es werden etliche ins Himmelreich kommen, die zu Mir nie Herr, Herr! gesagt haben, aber in der Todesstunde gleich als Ertrinkende nach dem Saume Meines Kleides gehascht haben, sprechend: Hilf mir, ich verderbe! (Matth. 8, 25.) Aber ein jeglicher Rebe, der nicht Frucht bringet, wird abgehauen und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und muß brennen, aber nicht verbrennen. Der Rebe, der sich selbst genug ist, der Rebe, der mit sich selbst zufrieden ist und sich selbst behagt, wird abgehauen: Er hindert das Land und den Weinstock und verunehrt ihn. Aber er bleibt nicht allein, nicht für sich, daß er sich selbst verzehre und in sich aufginge, sondern man sammelt sie, eine Gemeinde der Unheiligen. Die Leute, die hier auf Erden in der Gottesleugnung so einig und vereint waren, werden auch dort in der Gottesferne beisammen bleiben. Die Menschen, die sich in diesem Leben selbst Gott waren, die sollen nur auch weiterhin an sich und aneinander Gefallen haben, wenn sie es auch nimmer wollen. Man sammelt sie zu einer Gemeinde der Unheiligen;| man sammelt sie in Bündlein. Alsdann werden die Menschen, die einander Jesum entfremdeten, die Eheleute, die gemeinsam sich vom Altare ferne hielten, die sich einander unterstützten und stärkten am Wege gegen das ewige und einzige Gut, auch beisammen bleiben, damit sie sich gegenseitig das Leben durch Tadel, Schmähung und Vorwurf erschweren, nicht weil es Gott so will, sondern weil sie es so wollten. Und sie werden brennen in dem Feuer des unsterblichen Heimwehs, des unstillbaren Heimwehs, und werden leben in der Angst der unerfüllbaren und unbefriedigten Reue. Und sie müssen brennen, aber verbrennen werden sie nicht. Hierüber laßt mich schweigen. Wir haben nur die eine Bitte, daß der Herr, Der auf die Frage Seines Jüngers: Meinst du, daß wenige selig werden? (Luc. 13, 23) den großen, letzten Bescheid gab: Ringet darnach, daß ihr selig werdet! (Luc. 13, 24) – alle anderen Fragen in uns zurücktreten lasse vor der einen Frage und Bitte: „Mach’s nur mit meinem Ende gut!“

 Wir haben, da uns nur noch zwei einschneidende und entscheidende Katastrophen unseres Lebens bevorstehen, nur die eine flehentliche Bitte: Laß mich einst zu Deiner Rechten stehen! Ich will Dir nicht vorschreiben, wann, wo und wie, nur um das Eine bitte ich Dich Tag für Tag, und wenn es Abend wird, erneuere ich mein Flehen, und am Morgen rufe ich es hinaus in die Weiten: Laß mich bei Dir bleiben ewiglich, nicht, daß ich Dich sehen muß, sondern daß ich Dich sehen darf; nicht daß ich mich von Dir abwenden möchte, und kann es doch nicht, sondern daß ich Dich, Du ewige Schönheit, erfassen wollte und darf es nie ganz.

 Am Vorabend vor Pfingsten, da wir mit diesen großen Tatsachen des vollendeten Heiligen Geistes unsere Betrachtungen schließen, haben wir kein anderes Gebet, als das Gebet unseres Vaters Dr. Martin Luther:|

Du höchster Tröster in aller Not,
Hilf, daß wir nicht fürchten Schand’ noch Tod,
Daß in uns die Sinne nicht verzagen,
Wenn der Feind wird das Leben verklagen.

Kyrie eleison.
Amen.



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